Mord im Lesesaal. Susanne Mathies
Читать онлайн книгу.einen Block und einen Füllfederhalter und schon einige beschriebene Blätter enthielt. Was mochte dieser Mann schreiben? Böse Leserbriefe an die »NZZ«, um sich über Druckfehler zu beschweren? Aber er hatte ja behauptet, er sei Schriftsteller. Nach seiner Art, sich auszudrücken, konnte Cressida sich sorgfältig geschraubte Texte aus seiner Feder vorstellen. Woher hatte er so ein elegantes und teures Schreibetui? Waren das eingelöste Flugmeilen? Nein, das traute Cressida ihm doch nicht zu, er sah nicht weitgereist aus. Das war wohl eher ein Geschenk der Ehefrau für den bewunderten intellektuellen Gatten.
Herr Storz sah genau zu, wie Cressida die Brieftasche des Toten öffnete und den Inhalt des Münzbeutels und des Scheinfaches auf dem Tisch ausbreitete: einen mehrfach gefalteten Zettel aus Karopapier, fünf glänzend-neue Zweihunderternoten, drei Franken 55 in Münzen, zwei Eurostücke und einen Rabattgutschein für die Globus Beauty Days.
Cressida entfaltete den karierten Zettel. Mit lila Kugelschreiber war darauf ein Satz gekritzelt, offenbar in Eile: »Morgen 19 Uhr Lesesaal«. Die Handschrift und die Kugelschreiberfarbe kannte sie gut. Oft hatte Karin ihr in den letzten Tagen kleine Mitteilungen geschrieben, so wie »Kaffee in 10 Minuten?«, oder »Achtung, Nervensäge im Anmarsch«. Sie war froh gewesen, in ihrer neuen Residenz so schnell eine Freundin zu finden. Aber was hatte Karin mit diesem widerlich aussehenden alten Mann zu tun? Cressida würde sie natürlich nicht in aller Öffentlichkeit verraten, doch es störte sie, dass sie etwas Wichtiges nicht wusste über diese Frau, die ihr so sympathisch war.
»Ich frage nur mal pro Forma«, sagte Herr Storz und verzog den Mund zu einer Grimasse, die er sicher für ein ironisches Lächeln hielt, »bekennt sich jemand der Anwesenden dazu, diese Nachricht geschrieben zu haben?«
»Ich habe die Nachricht geschrieben.«
Alle Augen richteten sich auf Karin. Sie fuhr trotzig fort: »Dieser Mann heißt Josef Gruber und wohnt im Felix-und-Regula-Heim im Kreis 4 in Zürich. Er hat mich erpresst, seit etwa einer Woche, weil er wusste, dass ich meinen Vater getötet habe. Er stand in der Nähe der Tür und hat mich mit seiner Kamera gefilmt, während ich meinem Vater die Bettdecke auf das Gesicht drückte.«
Cressida gab sich keine Mühe, ihre Empörung herunterzuschlucken. »Er hat dich beobachtet und hat nicht versucht einzugreifen, obwohl er nicht wissen konnte, ob du zwingende Gründe hattest? Vor dem Gesetz ist das mindestens Beihilfe! Du hättest ihn anzeigen können.«
»Nein, das hätte ich nicht tun können.« Karin lächelte traurig. »Es ist blöd, doch ich fühlte mich so schuldig, dass ich dachte, ich hätte jede Strafe verdient. Selbst Erpressung. Denn wenn die Sache an die Öffentlichkeit gekommen wäre, dann hätte einfach das Gesetz die Schuld überprüft. Das wäre dann so, als wenn ich die Verantwortung abgegeben hätte. Soundso viele Jahre Gefängnis, erledigt, Schuld abgegolten. Aber es kann nie erledigt sein.«
»Logisch ist das nicht.«
»Nein.«
Herr Storz nahm den Zettel und wedelte damit vor Karins Gesicht hin und her. »Wir brauchen jetzt Fakten! Was hat der Erpresser von Ihnen gefordert? Hatten Sie sich schon in irgendeiner Weise mit ihm geeinigt? Warum wollten Sie sich unbedingt mit ihm treffen? Und überhaupt – wann haben Sie das letzte Mal mit ihm gesprochen?«
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