Mord im Lesesaal. Susanne Mathies
Читать онлайн книгу.nicht einschüchtern. »Immerhin habe ich für meine Romane viel über Polizeiarbeit recherchiert, ich weiß, was üblicherweise gefragt wird. Und wenn Sie als Biograf sich berufen fühlen sollten, ein Protokoll zu führen, hat sicher niemand etwas dagegen. Oder gibt es andere Freiwillige?«
»Das Vorgehen zu dokumentieren, ist eine vernünftige Idee. Damit können wir der Polizei die Täterin gleich mit allen Einzelheiten zur Tat übergeben, und wir sind von diesen unsinnigen Verdächtigungen befreit. Fangen Sie nur an, ich unterstütze das!« Der hagere Theodor Storz verlieh seinen Worten durch die Lautstärke seiner Bassstimme besonderes Gewicht. Niemand widersprach ihm. »Ich bin meinerseits gern bereit, alles zu notieren, schließlich bin ich selbst schriftstellerisch tätig, auch wenn mein Werk noch nicht seinen Platz in der Öffentlichkeit gefunden hat.«
Cressida blickte in die Runde. So eine große Gesellschaft, dachte sie. Das würde ein breiteres und dichteres Geschichtengewebe ergeben, als man an einem Abend durchleuchten konnte. Und außerdem konnte es an die Nieren gehen. Nicht nur Karin, nicht nur den anderen, sondern auch ihr selbst. Aber es war spannend.
Beginn der Untersuchung
Verstrickt ist man immer in die ganze Geschichte. Das Handeln betrifft nur einen Moment in der Geschichte.
Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt
»Alles, was man über einen Menschen wissen muss, ist in den Geschichten enthalten, in die er verstrickt ist.« An den Blicken der Anwesenden erkannte Cressida, dass dieser Anfang nicht gut ankam. Das hörte sich abgehoben an, was zum Teufel sollte das mit uns zu tun haben, war auf ihren Gesichtern geschrieben. Also erst einmal wieder zum Konkreten, das kannten wahrscheinlich alle von aktuellen Fernsehkrimis, damit fühlten sie sich zu Hause. »Aber um Ansatzpunkte für diese Geschichten zu bekommen, braucht man die Forensik. Man muss konkrete Hinweise entdecken.«
Mehrfaches zustimmendes Nicken, sogar von Herrn Storz.
»Die forensisch wichtigen Spuren müssen so schnell wie möglich gesichert werden. Hat jemand von Ihnen ein Handy mit guter Kamera für Makroaufnahmen?«
Herr Storz öffnete seine Aktentasche und zog ein großes Smartphone in einer pink funkelnden Hülle heraus. »Mit Makroaufsatz!«, verkündete er stolz. Cressidas Fantasie begann zu rasen: Herr Storz kam zu früh nach Hause, seine Frau stand vor dem Schlafzimmerspiegel, mit ihrem Liebhaber am Mobiltelefon, Herr Storz versuchte, ihr das Telefon zu entreißen, sie wehrte sich, stolperte, schlug mit dem Kopf gegen den Bettpfosten, er verstaute die Leiche in der Gefriertruhe im Keller und akquirierte das Handy …
»Das hat mir meine Nichte geschenkt, als sie sich ein neues Modell gekauft hat«, fügte Herr Storz hinzu. »Ich benutze es manchmal zum Diktieren, wenn es keine Gelegenheit gibt, einen Gedanken aufzuschreiben. Sie wissen ja, wie es uns Schriftstellern geht – wenn man eine Eingebung hat, muss man sie sofort festhalten, ehe sie ihre Frische verliert.«
Alle schauten schweigend zu, wie Herr Storz systematisch alles aufnahm, was in der Nähe des Toten zu beobachten war: die Wunde aus der Nähe und aus einem Abstand von einem Meter, die Gesamtansicht des Toten von allen Seiten, den Fleck auf dem Teppich, den Brieföffner-Dolch auf dem Tisch, Karin Zwinglis Hand, Karins Gesicht und schließlich jeden der Anwesenden von allen Seiten, »wegen der Spurensicherung«. Als er Karins Gesicht in Großaufnahme fotografieren wollte, sprang Karin plötzlich auf und schlug ihm das Gerät aus der Hand. Dann sank sie wieder in den Sessel zurück.
Herr Storz hob schnell sein Handy auf und ging hinter einem Tisch in Deckung. »Um Himmels willen, diese Frau ist gefährlich! Wir sollten die Täterin fesseln, in unser aller Interesse, wer weiß, was sonst noch passiert. Hat jemand von Ihnen zufällig ein Stück Schnur oder Kabel dabei?«
»Seien Sie nicht albern«, sagte Cressida. »Karin Zwingli hat diesen Mann nicht getötet. Und sie ist nicht gefährlich.«
»Ach?«, erwiderte Herr Storz. »Woher wollen Sie das wissen? Frau Zwingli hatte ganz offensichtlich die Mordwaffe in der Hand, und sie kniete vor dem Toten. Außerdem waren wir eben alle dabei, als sie selbst den Mord gestanden hat!«
»Schauen Sie mal ganz genau hin. Das Blut ist schon seit längerer Zeit in den Teppichboden gelaufen. Der Fleck ist groß und an den Rändern eingetrocknet. Ich bin kein Gerichtsmediziner, doch nach meiner Einschätzung ist dieses Blut schon seit mindestens einer halben Stunde geflossen. Warum sollte der Mörder, oder die Mörderin, so lange bei dem Toten bleiben?«
»Das sind ja interessante Beobachtungen. Haben Sie mal in der diagnostischen Forensik gearbeitet?«
»Nein, aber ich bin eine Frau, und Frauen kennen sich mit Blut aus. Soll ich Ihnen das noch näher erläutern?«
»Nein, nein, vielen Dank, ich verzichte. Aber um auf Frau Zwingli zurückzukommen: Wir haben es alle selbst gesehen – Frau Zwingli ist nach der Tat ohnmächtig geworden und über ihrem Opfer zusammengebrochen. Sie kann da schon längere Zeit gelegen haben.«
»Herr Storz, Sie legen sich ja sehr ins Zeug, ihr den Mord in die Schuhe zu schieben! Frau Zwingli ist erst vor fünf Minuten in den Lesesaal gekommen, also kann sie den Mann nicht erstochen haben.«
»Das kann ich bestätigen.« Heinrich Oberstrass war hinzugetreten, bemühte sich jedoch, nicht in Richtung des Toten zu schauen. »Vor fünf Minuten war Frau Zwingli noch mit mir im Debattierzimmer.«
»Das muss nicht unbedingt etwas zu sagen haben«, mischte Martin Leeman sich ein. »Vielleicht kam ihr erst im Nachhinein zum Bewusstsein, was sie getan hatte, und sie unternahm einen untauglichen Versuch, es wieder rückgängig zu machen. Menschen in Krisensituationen tun seltsame Dinge. Auch wenn es noch so abwegig scheint, haben sie oft die Vorstellung im Unterbewusstsein, dass sie ihr Verbrechen wieder ungeschehen machen können – je schwerer das Verbrechen, desto stärker diese Wunschvorstellung. Dieser Drang, die Schuld loszuwerden, kann unwiderstehlich werden.« Er nahm ein leeres Blatt Papier von seinem Schreibtisch und begann, Notizen zu machen. Herr Storz beobachtete ihn misstrauisch von der Seite. Offenbar war er beleidigt, dass sein Angebot, die Untersuchungen zu dokumentieren, einfach ignoriert worden war.
Die Erklärung, die Martin Leeman vorgebracht hatte, war theoretisch recht überzeugend, überlegte Cressida, er sollte sich einmal an psychologischen Kriminalromanen versuchen. Trotzdem war diese Argumentation natürlich völlig an den Haaren herbeigezogen. Karin war unschuldig über den Toten gestolpert. Anders konnte es überhaupt nicht sein.
Vor ihr auf dem Sessel richtete Karin sich plötzlich auf. »Die Schuld!«, stöhnte sie und schlug sich mit der blutigen Hand gegen die Brust. Cressida erschrak. Was war nur mit Karin passiert? Am liebsten hätte sie ihr den Mund zugehalten und hätte sie erst einmal in den Waschraum geführt, um das Blut abzuwaschen und sie mit kaltem Wasser zur Vernunft zu bringen. Wenn sie nur wüsste, was Karin so quälte!
»Am besten erzählen Sie uns alles, dann fühlen Sie sich besser. Jedes Problem fühlt sich leichter an, wenn man es mit jemandem teilt.« Das war wieder typisch für Daniel, dass er die bedauernswerte Karin in Sicherheit wiegen und sich als verständnisvoller väterlicher Freund profilieren wollte. Auf seine guten Absichten konnte man sich jedenfalls nicht verlassen, das wusste Cressida aus Erfahrung. »Nichts ist so schlimm, wie es einem in der ersten Panik vorkommt. Je mehr wir über den Toten erfahren, desto einfacher wird es sein, den ganzen Fall zu verstehen. Darüber reden, befreit. Sie sind nicht allein. Wir nehmen alle Anteil an dem, was Ihnen geschehen ist. Das war sicher ein großer Schock für Sie.«
In einer Hinsicht hatte er natürlich recht – zur Aufklärung des Mordes musste man alle Geschichten kennenlernen, in die die Verdächtigen verstrickt waren. Und woher sollte man sie erfahren, wenn nicht von den Betroffenen selbst?
»Niemand kennt die eigene Geschichte so gut wie man selbst«, sagte Cressida und wartete auf bestätigendes Nicken aus der Runde.
Stattdessen kam ein verächtliches Lachen von Herrn Storz. »Man erzählt sich selbst immer nur die Geschichte, die man glauben möchte!«
»Das ist wahr. Aber erfundene Narrative geben wertvolle Hinweise darauf, wo man nach weiteren Geschichten suchen sollte,