Mord im Lesesaal. Susanne Mathies

Читать онлайн книгу.

Mord im Lesesaal - Susanne Mathies


Скачать книгу
man nicht genau hinschaute. Grelb und Pickblau. Lichtblau und Blaulicht. Braubleich. Grelles Gericht. Jemand würde über sie richten. Nicht über ihre schlechte Lyrik. Sondern über sie, über ihre Tat. Ihre Untat, die sich nicht ungeschehen machen ließ.

      Irgendwann musste sie in den Lesesaal zurückkehren, schließlich hatte sie heute Abend dort Aufsicht. Das sagte ihr das Pflichtgefühl, aber seine Stimme war leise, überlagert vom Dröhnen der Schuld, die sie auf sich geladen hatte. Spielte überhaupt noch irgendetwas eine Rolle? Sie rutschte weiter auf das Fensterbrett und schaute hinunter auf den Limmatquai. Dritter Stock, vielleicht würde sie einen Sprung überleben, möglicherweise querschnittsgelähmt. Ihr Noch-Freund Mark würde sich verpflichtet fühlen, bei ihr zu bleiben, jedenfalls für eine gewisse Zeit. Grace Period. Amazing Grace. Nicht für sie.

      Sie schüttelte sich und trat in das Zimmer zurück. Stand da jemand an der Tür? War das Joe? Sie konnte wirklich nicht länger auf ihn warten.

      »Ich habe mich schon gewundert, wo du bist.« Heinrich natürlich, der strubbelige Heinrich, den man nicht Henry nennen durfte, schon gar nicht Heini. Der sich am liebsten mit Doktor Oberstrass anreden lassen würde, wenn es zurzeit nicht so angesagt wäre, links und nicht-elitär zu sein. Heinrich, der Allgegenwärtige. Immer da, wenn man ihn nicht sehen wollte. Er hielt ihr einen Zettel hin. »Ich suche hier eine Signatur, und in der Bibliothek ist keiner mehr, kannst du mir helfen?«

      Nicht mein Job, dachte sie.

      »Tut mir leid, ich habe zu tun.« Rasch ging sie an ihm vorbei, die Treppen hinunter in den Lesesaal. Dort war alles ruhig. So, als ob die Welt noch in Ordnung wäre. Sie nahm einen Stapel Literaturzeitschriften vom Schreibtisch und ging auf die Regale zu.

      Wenn das Bild etwa die Begegnung Rotkäppchens mit dem Wolf darstellt, taucht die Frage auf, was der Wolf von Rotkäppchen will, in welchem Zusammenhang die beiden stehen, und wie die Begegnung wohl auslaufen mag.

      Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

      Beim Glockenschlag zuckte Barbara Bärlich zusammen. Schon kurz vor 19 Uhr, fast hätte sie ihren Termin verpasst. Doktor Heinrich Oberstrass, Dozent der Neueren deutschen Literatur am Literaturinstitut Zürich, hatte sie persönlich gebeten, ihm bei der Korrektur der Hausarbeiten aus dem ersten Semester zu helfen! Das war nicht nur eine Ehre, sondern auch eine mega Chance für eine Studentin im letzten Semester. Vielleicht sprang ein Job oder ein Lehrauftrag dabei heraus, das durfte sie sich nicht entgehen lassen.

      Inzwischen hatte sie sich wieder beruhigt. Erstaunlich, was eine kurze Pause ausmachen konnte. Alles war gut. Sie klappte den Siri Hustvedt-Roman zu und schaute aus dem Fenster. Unten auf der Gasse standen ein paar Touristen im Sprühregen und schossen Selfies. Das Leben war einfach weitergegangen, nichts hatte sich geändert. Manche Dinge fielen im Weltgeschehen wohl einfach nicht so ins Gewicht. Sie war auf dem richtigen Weg, da war sie sich sicher. Irgendwann würden Frauen frei bestimmen können, mit wem sie intim werden wollten, und mit wem nicht. Und wer ihnen blöd kommen durfte. Nämlich niemand.

      Doktor Oberstrass war irgendwie süß. Sein offensichtlich gefärbtes Haar, das in alle Richtungen abstand, ließ ihn so verletzlich wirken. Warum versuchten Männer bloß, jünger auszusehen? Der intensive Blick seiner dunkelbraunen Augen unter den buschigen Brauen zeigte, wie ernst ihm seine Anliegen waren: die Literatur, die Forschung und seine Studenten. Super, dass er ausgerechnet sie aus allen Studentinnen des Abschlusssemesters ausgewählt hatte, obwohl sie da bisher nicht gerade als Star geglänzt hatte. Gut, sie gehörte zu denen mit den besten Noten; auf der anderen Seite musste sie zugeben, dass einige andere etwas sorgfältiger recherchierten. Manche Leute hatten einfach zu viel Zeit, wahrscheinlich passierte nichts Besonderes in deren Leben.

      Sie betrachtete sich im Flurspiegel. Doch, sie war schon speziell. Goldene Locken, schmale Nase, ein Mund wie eine Rosenknospe. Es tat gut, das zu wissen. Obwohl sie es nicht nötig hatte.

      Die Kirchenuhr hatte aufgehört zu schlagen. Cowboystiefel, Wildlederjacke, fertig. Kein Mantel, an dem hingen noch die Erinnerungen von vorhin. Gut, dass sie diese Künstlerwohnung im Niederdorf von ihrer Schwester übernehmen konnte, man war so schnell überall.

      Sie eilte den Rindermarkt hinunter und rannte fast den kurzen Weg zum Literaturhaus. Man konnte einen Mann schon warten lassen, aber nicht zu lange.

      Der Mensch ist nicht der Mensch von Fleisch und Blut. An seine Stelle drängt sich uns seine Geschichte auf als sein Eigentliches.

      Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

      Karin Zwingli blickte misstrauisch über den Rand der Zeitschriftenregale zu den roten Ledersesseln hinüber. Joe hing über zwei Sesseln, er schien eingeschlafen zu sein. Aber sie spürte, dass sie nicht länger warten konnte. Irgendwann musste er Stellung beziehen zu ihrem Ultimatum. Vielleicht konnte sie ihn aufwecken, ohne ihm zu nahe kommen zu müssen, einen Versuch war es jedenfalls wert.

      Mit Schwung zog sie die Schublade der orte-Literaturzeitschrift auf. Das Thema des neuen Heftes lautete »Gesponnen – das Lügenheft«. Die Redaktion hätte sie um Mithilfe bitten sollen, dachte sie bitter und warf das Heft hinein, dass es gegen die Rückwand knallte.

      Joe rührte sich nicht. War irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung? Falls er Drogen genommen oder einen Herzinfarkt erlitten hatte, würde sie wohl den Notarzt rufen müssen.

      Karin atmete tief ein, zog die Schultern zurück und ging entschlossen auf die Ledersessel zu. Joe roch noch unangenehmer als vorhin, nicht nach ungewaschenen Kleidern, sondern nach etwas Metallischem. Sie schnüffelte, konnte es aber nicht identifizieren. Da fiel ihr Blick auf den Boden.

      Zwischen Joes Füßen hatte sich eine dunkle Lache gebildet. Burgunderfarben, an den Rändern hellrot, die Flüssigkeit fraß sich in den beigefarbenen Teppich ein. Es tropfte immer noch vom unteren Metallrand des Sessels. Diesen Teppich hatte sie immer schon grässlich gefunden, er erinnerte sie an schlechte Filme aus Zeiten, als ein Teppichboden das Nonplusultra an eleganter Wohnungseinrichtung war. Frühe 70er, dazu passten auch diese kubusförmigen Ledersessel mit den dünnen blanken Metallfüßen. Im Moment waren diese Metallfüße allerdings nicht mehr blank, sondern an den Kanten blutbesudelt.

      Sie zwang sich, Joe ins Gesicht zu sehen. Seine Augen waren weit geöffnet, und ein geronnener Speichelfaden hing aus seinem Mund. Sein Kinn ruhte auf dem Hemdkragen, das Hemd leuchtete weiß mit einem glänzenden dunkelroten Fleck in der Mitte, und in der Mitte des Flecks steckte ein schmaler Griff aus Messing.

      Wie im Fernsehkrimi, kunstvoll vom Maskenbildner hergerichtet. Das war lächerlich. Konnte nicht sein. Aber sie träumte doch nicht!

      Joe war tot.

      Vorhin hatte sie es sich noch sehnlichst gewünscht, als Befreiung herbeigesehnt. Doch jetzt wirkte Joes maskenhaftes Totengesicht wie eine Bedrohung, als ob er sich selbst im Tod noch eine Gemeinheit für sie ausgedacht hätte.

      Direkt vor ihr schrillte ein Fanfare, Trompetenklang, elektronisch verzerrt. Sie hatte das Gefühl, vor Schreck mindestens einen Meter in die Höhe gesprungen zu sein, aber anscheinend stand sie immer noch vor diesem Sessel, völlig erstarrt. Die Fanfare wurde lauter, und allmählich begann ihr Hirn wieder zu arbeiten. Ein Mobiltelefon. Völlig verpönt in diesem Raum.

      Joes Telefon. Der Klang schien direkt aus der blutverschmierten Hemdtasche vor ihr zu kommen. Das musste aufhören, sofort. Sie versuchte, nach dem unsichtbaren Handy zu greifen, ohne allzu genau hinzusehen. Plötzlich spürte sie einen spitzen Gegenstand in ihrer Hand. Ich falle, dachte sie noch, dann wurde alles um sie herum dunkel.

      Der Mensch und das Menschsein tritt bei dem Fall weit in den Hintergrund.

      Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

      Fanfarenklang! Cressida schreckte aus ihren Gedanken auf und sah sich um. Wer war der Übeltäter, der ein eingeschaltetes Handy in den Lesesaal gebracht hatte? Wer immer es war, würde er


Скачать книгу