Wenn Löwen weinen. Mick Schulz
Читать онлайн книгу.Sie sich gut eingelebt?«, fragte er, während er den Wagen wendete und in Richtung Innenstadt fuhr. »Aber was sage ich. Sie sind ja von hier, Braunschweig ist Ihre gute Stube.«
Ja, die Löwenstadt war ihre Heimat, ihre ganze Kindheit und einen Teil der Ausbildung hatte sie in dieser Stadt verbracht. Doch seitdem ihr Vater tot war, hatte sie keine Familie mehr. Selbst die zahlreiche griechische Verwandtschaft ihrer Mutter war mittlerweile in alle Himmelsrichtungen zerstreut.
Das Kommissariat Mitte befand sich in der Münzstraße. Den dunklen Bau kannte Hella schon seit ihrer Kindheit. Man erwartete sie bereits. Im Konferenzraum 231 herrschte bleierne Stille, als sie erschienen. Die bohrenden Blicke der Kollegen wechselten zwischen erstaunt bis mitleidig. Das war zu erwarten gewesen. Warum hatte sie nur gedacht, dass es anders sein könnte? Irgendwie freundlicher? Sie ärgerte sich, das Geld für diese blöden Strähnchen ausgegeben zu haben. Als ob das einen Unterschied gemacht hätte.
»… und wie ihr alle wisst, ist Frau Budde die Tochter unseres hochgeschätzten und viel zu früh verstorbenen Kriminaloberrats Henning Budde, mit dem auch ich zusammenarbeiten durfte …«
Stöhnte da jemand leise? Der ältere Kollege rollte tödlich gelangweilt mit den Augen. Den erhofften Vorteil, die Tochter eines Ehemaligen zu sein, konnte sie sich also auch abschminken.
»Vielen Dank für die freundliche Begrüßung, Kollegen, ich setze auf eine gute Zusammenarbeit und eröffne den kleinen Imbiss. Greift zu«, hörte sie sich sagen. Lauwarmer Applaus, dann zerstreute sich das Team. Den Teil der Tagesordnung hatte sie also überstanden, dabei war der nächste kein bisschen leichter: Sie musste tatenlos mit ansehen, wie die Platte mit den Mettbrötchen im Handumdrehen leer geräumt wurde.
»Wollen Sie nicht auch?«
»Nein, danke, ich habe gut gefrühstückt«, log sie und riss sich los von dem verstörenden Anblick.
»Aber einen Kaffee werden Sie trinken?« Der Kollege, der das fragte, sah blendend aus und lächelte unbefangen.
»Gern«, erwiderte sie.
»Nein, bitte, bleiben Sie, wo Sie sind. Ich hole Ihnen einen. Milch und Zucker?«
Sie nickte.
»Mein Name ist Tom, Tom Seipold«, stellte er sich vor, als er zurückkam und ihr den Kaffee reichte. »Wir werden im Doppel zusammenarbeiten. Sicher hat Senge Ihnen das bereits gesagt, oder?«
»Nein«, erwiderte sie, »aber er wird es bestimmt noch tun.«
»Ich arbeite Sie gern ein, schließlich kenne ich mich aus, bin über zehn Jahre hier. Da lernt man, worauf es ankommt.«
Ein freundliches Angebot, wenn da nicht ein gewisser Unterton gewesen wäre, den sie nur allzu gut kannte. »An welchem Fall arbeiten Sie aktuell?«, entgegnete sie.
»Mord an einer Rentnerin in Wenden, vermutlich war es der Sohn. Tat und Motiv ergeben ein ziemlich klassisches Bild.«
»Und weil Sie Erfahrung haben, wissen Sie natürlich, dass sich die sogenannten klassischen Fälle oft genug als Überraschungseier herausstellen. Mir ist es mehrmals so gegangen.« Er sollte ruhig wissen, dass sie kein Kindermädchen brauchte, sondern eine kurze, präzise Einarbeitung. Schließlich sollte sie die Ermittlungen leiten. Und anscheinend hatte er verstanden, was sie meinte, denn er wurde plötzlich ziemlich wortkarg. »Na, dann bis später«, verabschiedete er sich auch schon, »auf gute Zusammenarbeit.«
Das hoffte sie auch, dachte Hella.
»Sie können es sicher kaum erwarten, Ihr Büro zu beziehen«, meinte Senge. Der leere hohe Gang hallte wie alle Behördenflure. An der Tür prangte bereits ihr Name: »Kriminalhauptkommissarin Helena Budde«. Ein ausgesprochen heller Raum. Dieses Büro schien mehr Sonne abzubekommen als ihre Wohnung, wie die ausgedörrte Botanik auf der Fensterbank bestätigte.
»Meins ist gleich nebenan«, sagte der Kriminalrat und grinste. Sie wusste nicht, ob sie das gut oder eher weniger gut finden sollte. Fürs Erste diente es jedenfalls der Orientierung. Die Einrichtung überraschte nicht weiter. Das Foto einer Männermannschaft hing goldgerahmt rechts neben der Tür.
»Unsere Fußballelf«, präsentierte Senge stolz.
Und wo war die Frauenmannschaft?, wollte Hella fragen, verkniff es sich aber, als ihr das einsame Foto auf der Schreibtischplatte ins Auge fiel: Ein Polizist in Uniform hielt ein Kind an der Hand, ein pummeliges Mädchen mit Ponyschnitt.
»Es gehörte zu den Sachen Ihres Vaters, ich wollte es nicht …«
Sie konnte sich nicht daran erinnern, bei welcher Gelegenheit der Schnappschuss gemacht worden war, aber ihrem Dad hatte das Foto offenbar am Herz gelegen. Hätte er es sonst an seinem Dienstplatz aufgestellt? Seine Stimme klang wieder in ihren Ohren. Einmal, vor einem nicht ungefährlichen Einsatz, hatte er sie in die Arme genommen und hochgehoben, während er mit Mutter sprach: »Mach dir keine Sorgen, Kathyna, mir passiert schon nichts. Unsere Prinzessin bringt mir Glück.« Das bewahrheitete sich. Bei Einsätzen hatte er nicht ein Mal einen Kratzer abbekommen, aber dann vor nicht ganz zwei Jahren, drei Wochen vor der Pensionierung, kippte er in der kleinen Küche seiner Wohnung in Stöckheim einfach um und war sofort tot …
»Danke, das ist in Ordnung«, erwiderte sie. Der Blick aus dem Fenster ging auf den Vorplatz des Kommissariats, so groß wie ein Kasernenhof. »Mir scheint allerdings, dass mein Vater es nicht bei allen Kollegen zur Legende gebracht hat.« Sie drehte sich plötzlich auf dem Absatz um und schaute Senge direkt in die Augen.
Er zuckte mit den Schultern. »Nun … wissen Sie … Ich war lange Jahre sein Assistent, habe viel bei ihm gelernt. Jeder hat natürlich seine eigenen Erfahrungen mit ihm gemacht … Ist alles Ansichtssache.«
»Schon gut … Wollten Sie mir nicht noch etwas Dienstliches mitteilen?«
»Ja, ja, natürlich. Ich habe Ihnen Tom Seipold zur Seite gestellt, er kennt sich aus …«
»Und weiß, worauf es ankommt?« Sie schmunzelte.
»Genau. Ich sehe, Sie sind bereits im Bild. Wenn Sie weitere Fragen haben, beantworte ich sie gern. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.« Sein Zeigefinger wies auf das Büro nebenan.
»Eine Frage noch: Hatte sich auch jemand aus dem Team auf meine Stelle beworben?«
»Wir sind froh, dass Sie hier sind, Hella, Ihr Ruf als erstklassige Ermittlerin geht Ihnen voraus, und wir wollen alle im Team mitspielen. Das ist aber nur möglich, wenn …« Offenbar fühlte er sich in die Enge getrieben, sonst würde er kaum den Chef herauskehren.
»Wenn wir mit offenen Karten spielen?«, ergänzte sie vielleicht etwas zu scharf.
Senge seufzte. »Genau so, aber deshalb muss ich mit Ihnen am ersten Tag nicht über meine Personalpolitik reden.«
»Wenn Sie nicht wollen, ist das okay für mich, danke jedenfalls für den freundlichen Empfang, ich weiß das zu schätzen.« Sie versuchte, versöhnlich zu klingen, aber Senge hatte sich abgewandt und ging wortlos aus dem Raum. Auch wenn der Herr Kriminalrat eine ziemlich dünne Haut hatte, war Hella fest entschlossen, mit ihm einen neuen Anfang zu machen.
Den Nachmittag verbrachte sie mit Tom Seipold im Außendienst und nahm an zwei Zeugenbefragungen teil, die seinen aktuellen Fall betrafen. Dass Tom ihr gegenüber nicht unvoreingenommen war, hatte sie bereits beim Imbiss gespürt, und der abschätzige Blick, den er ihr zwischenzeitlich zuwarf, wenn er meinte, sie wäre abgelenkt, eignete sich auch nicht gerade als vertrauensbildende Maßnahme. Als er sie gegen achtzehn Uhr vor ihrer Haustür absetzte, fragte sie: »Meinen Sie, dass Sie darüber hinwegkommen können?«
»Was soll das heißen?«
»Sie haben sich auch auf meine Stelle beworben, stimmt’s?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Für mich ist das kein Problem, wenn Sie keins daraus machen.«
Er versuchte die Fassung zu wahren, aber sein hochrotes Gesicht verriet ihn.
»Ich konnte