Zünftig. Marc Späni

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Zünftig - Marc Späni


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Seniorenwohnheim von Düdingen erzählt hatte. Hatte er tatsächlich geglaubt, er würde neue Erkenntnisse gewinnen, indem er zuhörte, wie die Frau einen Abend lang auf ihrem Instrument herumgeigte?

      Carole Michelet kam kurz darauf allein auf die Bühne, eine vollschlanke junge Frau, deren Gesichtszüge Felber von seinem Platz aus nicht genau ausmachen konnte. Sie richtete Instrument und Bogen aus und begann ganz allein zu spielen, laut Programmheft eine Suite von Max Reger in d-Moll.

      Felber wusste natürlich, wie ein Cello klang, aber das, was die junge Frau aus ihrem Instrument herausholte, war etwas ganz anderes. In hohen, langgezogenen Melodiebögen drückte Carole Michelet Nuancen von Gefühlen aus, die Felber unmöglich benennen konnte. Gebannt lauschte er den ungewohnten Klängen, und als das Cello in tiefere Lagen drang, schien es ihm, als rühre es im Grund seiner Seele, zu dem er selber keinen Zugang hatte.

      Das zweite war ein Fantasiestück, las Felber im Programm, während der Applaus noch anhielt, Opus 73 von Robert Schumann. Er glaubte sich zu erinnern, dass das ein Romantiker war. »Am Brunnen vor dem Tore« kam ihm in den Sinn, oder war das Schu-bert gewesen? Für dieses Stück betrat ein Pianist die Bühne, auch er jung und auffallend dünn. Er begann mit filigranen Klangtrauben, in die sich das Cello nach wenigen Sekunden hineinwob, ein Über- und Ineinander feinster Wellenbewegungen, das noch intensiver von Felbers Innerstem Besitz ergriff als das letzte Stück. Voller Verwunderung spürte er, wie ihn ein wohliger Schmerz durchströmte, wie er mit dem, was geschehen war, versöhnt schien, wie sich die Anspannung, die quälende Angst und die fiebrige Verzweiflung aufzulösen schienen.

      Einen Moment erinnerte er sich daran, wie ihn vor wenigen Wochen ein seltsamer Heimatschützer im Zürcher Oberland in einer unterirdischen Militäranlage eingesperrt und ihm unbeabsichtigt einen Moment voller Frieden und Ruhe beschert hatte. Auch der war mittlerweile tot. Von der Mafia ermordet.

      Wieder anders, aber nicht weniger gefühlsintensiv, ging es nach einer kurzen Pause weiter, während der Felber gedankenversunken sitzen geblieben war. Die Nocturne einer Lili Boulanger wurde nun wiedergegeben, von der Felber noch nie gehört hatte, aus dem frühen 20. Jahrhundert, ebenfalls mit Piano, ein Stück voller Zartheit, das Klavier zwischendurch fast schon jazzig, jedoch wie mit Samthandschuhen gespielt, das Cello leicht und schwebend.

      Es folgte ein weiteres Solostück. Carole Michelets Finger zuckten nur so über das Griffbrett, der Bogen tanzte über die Saiten, da war tiefe Gefühlskraft gepaart mit unglaublicher technischer Präzision. Lächerlich, sagte Felber sich immer wieder, lächerlich und absurd der Gedanke, dass diese Frau eine Mörderin sein soll, dass ein Mensch mit so feinem Gefühl einen anderen Menschen entführt, jahrelang gefangen gehalten und am Ende kaltblütig getötet haben soll. Absolut lächerlich.

      Der Schlussapplaus riss ihn aus dem traumartigen Zustand, in den ihn das letzte Stück gezogen hatte. Benommen und verwirrt folgte er dem Publikum, das sich fröhlich über die Kunstfertigkeit der beiden Musiker, die herrliche Akustik des Saales und die Stückauswahl austauschte. Er wartete, bis eine Gruppe den Durchgang zur Tür freimachte, als ihn jemand sanft am Arm packte.

      »C’est bien vous, Monsieur Felber?« Sie sind doch Herr Felber?

      Vor ihm stand Carole Michelet, die eben noch mit ihrem Cello Felbers Gefühlswelt auf den Kopf gestellt hatte, und musterte ihn erwartungsvoll.

      »Woher wissen Sie, dass ich … wer ich bin?«, fragte er auf Französisch.

      »Pierre hat es mir gesagt«, erklärte sie.

      Pierre Armand, der ehemalige Arbeitskollege von Felbers Vater, hatte viel über die junge Frau erzählt. Dass der mittlerweile über 80-Jährige bis heute mit ihr in Kontakt stand, hatte er offenbar vergessen zu erwähnen.

      Wenige Minuten später saßen Felber und Carole Michelet in einer Nische hinter der Bühne. Bühnentechniker gingen mit Werkzeugkoffern vorbei, wünschten eine gute Nacht.

      »Ihre Musik ist fantastisch«, sagte Felber und kam sich gleich blöd vor. Er fühlte sich auf Französisch nicht immer ganz treffsicher.

      »Es hat Ihnen gefallen?«

      »Ich verstehe nicht viel von Musik. Ich kann es nicht beschreiben, aber es hat mich sehr bewegt.« Wieder ein mühsamer Satz, der nicht ganz das ausdrückte, was er auf Deutsch gesagt hätte.

      Carole musterte ihn mit lebhaften Augen. »Pierre hat gesagt, dass Sie nach den Kindern suchen, die man damals fremdplatziert hat.«

      »Was hat er Ihnen erzählt?«

      »Nur das.«

      Felber atmete hörbar ein und aus. »Mein Vater, Louis Felber, hat damals für die Vormundschaftsbehörde gearbeitet, Sie müssten sich an ihn erinnern.«

      Die Musikerin blickte lange ins Leere. »Es kann sein«, sagte sie dann langsam und leise. »Die Erinnerungen sind diffus geworden, und das ist gut so.« Plötzlich schaute sie ihn an und fragte mit veränderter Stimme: »Sie sind auch Romand?«

      »Ich bin in Fribourg aufgewachsen. Als das Ganze passierte, in Cheiry und Granges, waren wir aber schon in Zürich.«

      Bei der Nennung der beiden Ortschaften zuckte sie leicht zusammen. »Was ist mit Ihrem Vater?«

      »Er ist gestorben, vor 20 Jahren.«

      Ihr Blick ging wieder ins Leere, zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine kleine Falte. »Was suchen Sie?«, fragte sie nach einer Weile. »Versöhnung? Wiedergutmachung?«

      Felber schaute sie irritiert an.

      »Aus Sicht der Behörden war es sicher gerechtfertigt«, fuhr sie tonlos fort, »aber als Kind … Können Sie sich vorstellen, was das für ein Kind bedeutet?«

      Felber schüttelte den Kopf.

      Zwei Arbeiter schoben große Kesselpauken unter Stoffbezügen vorbei, wahrscheinlich für ein größeres Konzert am nächsten Tag.

      »Jemand hat meine Frau entführt«, sagte Felber nach einer Weile, »vier Jahre gefangen gehalten und dann getötet.« Dieser Satz gab dem Gespräch augenblicklich eine andere Wendung. Er spürte es daran, dass Carole zwar nach wie vor seinem Blick auswich, aber aufrechter dasaß, angespannt.

      »Davon hat Pierre nichts gesagt«, murmelte sie.

      Felber hatte angefangen, dann konnte er auch gleich alles erzählen, von den seltsamen Todesanzeigen mit Hinweisen auf Deborahs Tod, vier an der Zahl, die er in unregelmäßigen Abständen im Briefkasten gefunden hatte. Von dem abgetrennten Finger, den man ihm per Post an die Kantonspolizei geschickt hatte. Wie man vergangenen Frühling Deborahs Leiche auf einem Acker in der Zürcher Agglomeration gefunden hatte und wie er unter den Sachen seines Vaters auf eine ähnliche Todesanzeige gestoßen war, datiert auf einen Zeitpunkt, nicht ganz einen Monat nachdem dieser bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.

      »Mein Gott, so viel Leid«, murmelte Carole, als Felber seine Ausführungen beendet hatte.

      Die Last des Gesprächs lag zentnerschwer in der Luft. Felber spürte seinen Atem, seine kalten Hände auf den Knien. Sein Blazer spannte an den Schultern.

      »Entschuldigen Sie bitte«, unterbrach er nach einer Weile die Stille und räusperte sich. »Es war dumm von mir, herzukommen und Ihnen das alles zu erzählen.« Er machte Anstalten aufzustehen, aber Carole blieb sitzen und blickte ihn ruhig an.

      »Sie glauben«, sagte sie ganz ohne Sarkasmus, »eines der Kinder von damals wollte sich rächen? An Ihrem Vater und dann an Ihnen?«

      Felber seufzte. »Ich weiß, es klingt absurd.«

      »Wie viele sind es?«

      »Wie viele was?«

      »Wie viele Kinder, die man damals aus ihren Familien gerissen und in Pflegefamilien untergebracht hat?«

      »Es sind nur vier.« Felber war selbst überrascht gewesen. In seiner Erinnerung hatte man viel mehr »Schützlinge«, wie seine Mutter sie genannt hatte, nach den Massakern von 1994 fremdplatziert. Er zählte die Namen der anderen drei auf. »Sandrine Vernet, Serge Duverney, Joël


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