Zünftig. Marc Späni
Читать онлайн книгу.zog entschuldigend die Schultern hoch. »Es ist meine einzige Spur. Ich muss meine Familie schützen.«
Carole schien ihm nicht übelzunehmen, dass er sie verdächtigt hatte. »Ich habe nicht mehr alle präsent«, fuhr sie fort. »Aber ich bin mir sicher, dass da noch jemand war. Patrick … Patrick Luyet.«
»Patrick Luyet, ja«, bestätigte Felber. »Er ist vor drei Jahren bei einem Tauchunfall ums Leben gekommen, in Spanien.«
»Tatsächlich«, sagte sie, und es klang mehr wie eine Feststellung. »Mit Sandrine habe ich noch ab und zu Kontakt. Sie lebt in Singapur.«
Das hatte Felber mithilfe von Linus über das Internet bereits herausgefunden. Sandrine Vernet hatte im Zeitraum von Deborahs Verschwinden bis zu ihrem Tod in Singapur gelebt, wo sie eine Art Yoga-Zentrum führte. Auch sie fiel als Täterin weg.
»Und Joël wollte nach Kanada auswandern, glaube ich.«
Felber nickte. Aber in Kanada verlor sich Joël Dalimiers Spur Ende der 90er-Jahre. Die Pflegeeltern, die Felber übernächste Woche traf, würden auch nicht viel mehr sagen können.
»Die Ordensleute glaubten, in Québec sei eine Art Schutzzone«, erklärte Carole, »ein Ort, der von der Apokalypse verschont würde. Von der Endzeit, die dann doch nicht gekommen ist … oder anders, als man sie sich vorgestellt hatte.«
Tatsächlich anders, dachte Felber bitter, in Form von Gewalt, Mord und unsäglichem Leid.
Carole knetete einen Augenblick ihre Finger, dann schaute sie auf. »Ich glaube nicht, dass eines der Kinder Ihnen das angetan hat. Und von den Erwachsenen sind die meisten mittlerweile tot, entweder in Cheiry und Granges oder im darauffolgenden Jahr bei Grenoble gestorben. Meine Mutter …« Sie stockte. »Meine Mutter hatte damals erbittert für das Sorgerecht gekämpft.«
Felber hatte in den Akten gelesen, dass Délphine Michelet noch in den 90er-Jahren Jakob Brunegg, einen schwerreichen Zürcher Industriellen, geheiratet hatte. Zusammen hatten sie alle Hebel in Bewegung gesetzt, um den Entscheid der Vormundschaftsbehörde rückgängig zu machen. Felbers Vater hatte sich allerdings erfolgreich dagegengestellt, weil Michelet im engsten Kreis der Sekte verkehrt und er die Gefahr einer weiteren Gewalttat als zu hoch eingeschätzt hatte.
»Ich war damals 13. Drei Jahre darauf, mit 16, hatte ich von Gesetzes wegen wieder die Möglichkeit, den Kontakt zu meiner Mutter zu suchen.«
»Und das haben Sie?«
Sie nickte. »Wir haben noch immer ein gutes Verhältnis. Damals, nach der Sorgerechtssache, hätte meine Mutter sicher Grund gehabt, Ihren Vater zu hassen. Aber so viele Jahre später …«
Felber war klar, dass das keinen Sinn ergab.
»Was würden Sie tun«, fragte Carole, »wenn Sie ihn finden?«
Felber zog die Brauen hoch. Er biss sich auf die Lippen, schüttelte leise den Kopf, schaute weg. Er wusste es schlicht nicht.
Carole Michelet versprach, ihre Mutter nach dem verschollenen Joël Dalimier zu fragen. Sie tauschten ihre Telefonnummern, dann verabschiedeten sie sich.
Felber ging zu Fuß durch die mittlerweile leere Eingangshalle, anschließend unter den Säulen der Hardbrücke durch und fuhr mit dem Lift hoch zur Bushaltestelle. – Ja, was würde er tun, wenn er Deborahs Mörder finden würde? Er war für ihn weit mehr als bloß ein Täter, den man der Gerichtsbarkeit zuführen musste. Er war zu seinem persönlichen Feindbild geworden, einem Gegenüber, das übermenschliche Dimensionen angenommen hatte und ihn bis in seine Angstträume hinein verfolgte. Was er wollte, war die Gewissheit, dass Meret und Linus außer Gefahr waren, außerdem wollte er wieder ruhig schlafen können, ohne diese ständige Angst. Oder war es doch mehr? Wollte er auch Rache?
Felber erinnerte sich an ein Gespräch mit Linus über ein philosophisches Gedankenexperiment zur Frage, ob man einen Menschen töten dürfe, um andere zu retten. Es ging dabei um eine Straßenbahn, deren Bremsen versagten und die man durch Umstellen einer Weiche auf ein anderes Gleis leiten konnte, wo statt fünf Arbeitern nur einer stand. Durfte man einen Menschen töten, um damit die Sicherheit von anderen zu gewährleisten? Machte es einen Unterschied, ob dieser Mensch ein Mörder war und die anderen die eigene Familie?
Der Konzertabend und die Begegnung mit der Cellistin hatten ihn aufgewühlt. Während er auf das weite Gleisfeld und die unzähligen Lichter der Stadt blickte, fiel er vollends in eine seltsame Mischung aus Melancholie und innerer Unruhe, die ihn einmal mehr nicht schlafen lassen würde. Er zog sich eine Zigarette aus der Jackentasche, zündete sie an und blies den Rauch in den samtenen Nachthimmel. Der Verkehr rauschte über die Hardbrücke, weit hinten kam ein 31er-Bus.
Kapitel 3
»Jetzt halt doch mal still!« Sara zog am Ärmel des dunklen Vestons, den Felber über das T-Shirt angezogen hatte, und markierte mit Stecknadeln die Armlänge.
»Warum müssen solche Anlässe eigentlich so steif sein?«, seufzte er.
Sie lachte und machte sich am anderen Ärmel zu schaffen. »Für deinen Sohn kann es nicht elegant genug sein.«
Auch wenn Linus für gewöhnlich mit abgewetzten Jeans und bedruckten, nicht immer ganz frischen T-Shirts daherkam, das Haar wild durcheinander, legte er für die Hochzeit seiner Schwester Wert auf piekfeine Garderobe. Schon früher hatte er manchmal die Familie erstaunt, wenn er bei einem Familienfest, das man in lockerem Rahmen abzuhalten vereinbart hatte, partout mit Hemd und Krawatte erscheinen wollte – einer Kinderkrawatte mit Gummibändchen, wie sich Felber schmunzelnd erinnerte.
»Deine Tochter heiratet ja nur einmal«, nuschelte Sara, eine Stecknadel zwischen den Lippen. »Wäre blöd, wenn du als Einziger wie eine Vogelscheuche daherkommst.«
Felber zuckte mit den Schultern. »So komme ich mir vor wie ein Pinguin, das ist auch nicht besser.«
Meret heiratete ganz traditionell, was Felber nicht erstaunte. In solchen Sachen kam sie definitiv nach Deborah, nicht nach ihm. Der ursprüngliche Hochzeitstermin war Ende März gewesen, doch dann hatte man Deborahs Leiche gefunden und das Fest verschoben. Nun schien es, als wollten Meret und Jan den Aufschub durch doppelten Pomp wettmachen: zivile Trauung im Stadthaus an der Limmat, Apéro im Kirchgemeindehaus über dem Bahnhof Enge, Nachtessen im Belvoirpark-Restaurant etwas weiter stadtauswärts über dem See. Das Etablissement wurde von der Hotelfachschule geführt und hatte einen erstklassigen Ruf. Dabei waren die Preise vernünftig, was Felber sehr recht war, hatte er sich als Brautvater doch anerboten, für das Festessen aufzukommen. Der Lohn eines Kantonsbeamten in seiner Position war zwar anständig, aber Linus’ Ausbildung hatte lange Jahre an den Ersparnissen gezehrt, zudem war die Mietwohnung am Hadlaubsteig schweineteuer – wie mittlerweile überall in der Stadt.
Immerhin konnte er für seinen zukünftigen Schwiegersohn, der mit irgendwelchen Start-ups wahrscheinlich ein Vielfaches von Felber verdiente, mit einem besonderen Geschenk aufwarten, ohne noch einmal in die Tasche greifen zu müssen: Ihm schenkte er den Chrysler, Baujahr 1976, der Felbers Vater zu Lebzeiten gefahren hatte und der seither unbenutzt in der Tiefgarage der Liegenschaft am Hadlaubsteig stand. Mit Felbers Segen hatte sich Jan letztes Jahr darangemacht, den Oldtimer aufzumöbeln. Rechtzeitig zur Hochzeit hätte er ihn so weit, dass er den Wagen aus der Garage herausfahren könnte. Wenn Felber das restliche Gerümpel weggeräumt hatte, würde er den Parkplatz endlich aufgeben können.
Er sah schon vor sich, wie ihn Meret und Jan an schönen Frühlingstagen mit zwei, drei Kindern aus dem Altersheim abholten, für ein Ausfährtli mit dem Oldtimer, und sie gemeinsam zu Onkel Linus fuhren, der irgendwo im Appenzellerland einen Bauernhof betrieb, einen digitalisierten Hightech-Bauernhof vermutlich.
»Pascal, bitte!« Sara blickte zu Linus, der eben ins Wohnzimmer trat. »Dein Vater macht mich noch verrückt.«
Felber drehte den Kopf, so gut das in dieser Position eben ging.
»Hast du dir jetzt überlegt, ob du auch eine Produktion machst?«, fragte Linus, während er kritisch Felbers Aufmachung musterte.
»Du glaubst