In den Meyerschen nahm alles seinen Anfang. Werner Hetzschold

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In den Meyerschen nahm alles seinen Anfang - Werner Hetzschold


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      „Die habe ich alle antiquarisch kaufen können. Da waren sie preisgünstiger. Billig ist dafür nicht das richtige Wort.“

      Vorsichtig reichte sie Jan ein Buch. Er las „Kamerajagd auf Schmetterlinge“. Jan betrachtete sich die auf dem Tisch liegenden Bücher näher, las „Vom Atlantik zum Mittelmeer“, „Vom Karst zu den Karpaten“. Diese Bücher sahen geschmackvoller aus als viele, viele Bücher, die es in den Buchhandlungen zu erwerben gab.

      „Du musst Vater nichts von diesen Büchern sagen“, flüsterte Mutter. „Er hätte dafür kein Verständnis. Ich habe sie gut versteckt. Wie dir bekannt ist, hat Vater auch seine Verstecke für Bücher, die mir verborgen bleiben sollen.“

      Ausgiebig sah Jan sich jedes Exemplar an, Seite für Seite. Ihm gefiel die Gestaltung der Bücher. Sie machten etwas her, eigneten sich hervorragend als Geschenk.

      Inzwischen waren viele Jahre seit Drechslers Tod vergangen. Bis jetzt ist der Unfall nicht aufgeklärt. Viele Vermutungen wurden angestellt, aber keine endgültige Lösung gefunden. Bis heute ist der Fall nicht aufgeklärt worden. Im Traum verfolgt Jan dieses Geschehen. Er sieht den Mann vor sich, wie er, Jan, ihn sieht. Auf diesem Foto ist er mit freiem Oberkörper abgebildet, kurz vor seinem Tod. Braun gebrannt, auf dem Kopf einen Hut ähnlich den Kopfbedeckungen der Soldaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den ehemaligen deutschen Kolonien, sportlich, durchtrainiert, Waschbrettbauch, eine gut aussehende, auf Wirkung und Ausstrahlung bedachte Persönlichkeit, die sicher auch Feinde hat bei dem Erfolg, den sie auf vielen Gebieten erzielt hatte. Dieses Foto wird gewiss eines der letzten gewesen sein, die von ihm unmittelbar vor seinem Tod angefertigt wurden. Der Traum versetzt Jan in die Nacht vom 3. zum 4. Februar 1960. Drechsler steht am Steilufer des Flusses, lässt das Ambiente auf sich wirken, ist zu tiefst beeindruckt von der tiefen Stille der Nacht. Kein Laut! Nur eine in sich ruhende Natur. Ein Hauch von Ewigkeit. Eine Bewegung, ein falscher Schritt! Der Körper gleitet in die Tiefe, den die Umgebung als Sturz wahrnimmt. Der Tod holt ihn, noch bevor er sich als Individuum mit seinen vielseitigen Talenten voll entfalten konnte. Den letzte Kartengruß an seine Frau hatten dunkle Vorahnungen diktiert. Im Krankenhausbericht vom achten Februar1960 hieß es lakonisch, dass „die Umstände und die Stunde des Sturzes nicht präzisiert werden können.“ Bis heute ist Helmut Drechsler unvergessen geblieben, wird es auch bleiben, solange sein Nachlass existiert in Form von Publikationen, Druckerzeugnissen, Fotografien, Kalendern, Bildern. Ein Mensch ist erst tot, wenn ihn die Nachwelt vergessen hat. Solange es Menschen gibt, die ihn nicht vergessen haben, lebt er in der Erinnerung fort. Gedenksteine, Namen von Straßen und Wegen, sie tragen seinen Namen.

      Jan hat schon öfters darüber nachgedacht, was für eine außerordentliche Persönlichkeit dieser Helmut Drechsler war. Aus bescheidenen Verhältnissen kam er, wuchs ohne Vater auf, da dieser früh verstorben war. Schwer war es für die Mutter, drei kleine Kinder zu versorgen. Der Direktor der Schule erkannte die Begabungen des Jungen, förderte ihn, schickte ihn auf das Lehrerbildungsseminar. Nach bestandenem Examen nahm er keine Position als Lehrer an, sondern machte sein Hobby zum Beruf. Vielseitig begabt wie er war, war er vielseitig einsetzbar, war Fotograf und Schriftsteller, war ein begnadeter Redner, füllte Säle, war ein blendender Organisator, wurde von den Wissenschaftlern geschätzt. In jungen Jahren verfügte er über die finanziellen Mittel, um sich in Colditz in herrlichster Lage ein Haus bauen zu lassen. Er führte ein Leben, das nur wenigen vorbehalten ist. Jan beneidete ihn. Nur wenige sind auserwählt, aber noch weniger sind berufen, so ein erfolgreiches, abenteuerliches Leben führen zu dürfen. Er war eine starke Persönlichkeit, von seiner Kompetenz, seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten und seinem Wert überzeugt.

      Jan wollte Förster werden. Er liebte die Natur: die Tiere, Pflanzen, Seen, Flüsse, Berge, Wiesen, Weiden. Ständig beobachtete er seine Umwelt, verfolgte das Geschehen mit offenen Augen, registrierte jede Bewegung, jede Veränderung. Viel hielt er sich draußen an der frischen Luft auf, zu allen Jahreszeiten, brauchte seine Bewegung. Zu seinem zehnten Geburtstag erhielt Jan ein Fahrrad. Es war kein neues Fahrrad. Viele aus seiner Klasse hatten Fahrräder zu den Geburtstagen oder zu Weihnachten von den Eltern geschenkt bekommen. Das waren alles neue Fahrräder, in allen Farben gespritzt. Sein Fahrrad war eine Rarität, setzte sich aus Bauteilen unterschiedlicher Fahrräder und Fahrradtypen zusammen, deshalb wirkte es kurios, höchst seltsam. Die Farbe seines Fahrrades war auch nicht aufgespritzt worden, sondern es war angestrichen worden. Der Monteur hatte ein freundliches Dunkelblau gewählt, auf dem Fahrrad-Rahmen hatte er einige Nasen hinterlassen, doch die beeinträchtigten nicht das Aussehen. Das Wichtigste war, Jan besaß ein blaues Fahrrad, das auch fuhr. Das Fahrrad hatte keine Gangschaltung, die hatten damals nur wenige. Jan probierte sein Rad aus, wählte den Auenwald zunächst als Ziel. Heiß schien die Sonne. Im Auenwald war es schwül. Die Mücken griffen an, verfolgten ihn, stachen. Sie rückten an in dichten Schwärmen, fielen erbarmungslos über ihn her. Die Haut juckte, rote Flecken bildeten sich, die anschwollen. Er wurde immer von den Mücken am meisten geplagt. Sein Vater sagte, dass die Mücken sein süßes, gesundes Blut bevorzugen, es zu sich nehmen wollen, weil es am besten schmeckt. Deshalb überfallen sie ihn scharenweise, um ihm das Blut abzuzapfen. Den Wald durchflossen viele Wasserläufe, überwuchert von vielen Pflanzen, die Jan nicht kannte. Die einzigen Pflanzen, die ihm bekannt waren und hier in üppigen Beständen sich ausbreiteten, waren die Farne und das Schilf mit den Rohrpumpen. Gern hätte Jan einige Stängel mit Kolben mit dem Taschenmesser abgeschnitten und seiner Mutter als Schmuck für die große Vase überreicht, aber die Rohrpumpen waren zu weit vom Rand des Gewässers entfernt. Die Wasserläufe endeten mitunter in kleinen Seen, auf denen sich Wasservögel tummelten.

      Ein Vogel erregte seine Aufmerksamkeit. Dieser wendige, bewegliche Flieger mit langem Schnabel und kurzem Schwanz war ihm vertraut. Er liebte diesen leuchtenden, blau-grünen Diamanten, der mit schnellen Flügelschlägen dicht über der Wasseroberfläche dahin schoss. Der Eisvogel in seinem strahlend bunten Federkleid war für Jan ein Teil der exotischen Vogelwelt wie der Bienenfresser, die Blauracke, der Wiedehopf, der Pirol. Die Blauracke hat etwa die Größe eines Eichelhähers mit auffallendem Gefieder. Die Unterseite leuchtet grünlich-blau, der Rücken bräunlich. Wenn dieser Vogel fliegt, lenkt die türkis-blaue Farbe der Flügel die Aufmerksamkeit auf sich. Kopf und Hals schimmern bräunlich-grün. Die Blauracke bevorzugt ein offenes Gelände mit vereinzelt stehenden alten Bäumen an Flussufern. Der Bienenfresser hat etwa die Größe einer Amsel, ist von schlankem Körperbau, hat einen langen Schnabel und kastanienfarbenes Gefieder auf der Oberseite. Die Unterseite ist türkis-blau. Wie die Blauracke liebt dieser Vogel offenes Gelände in der Umgebung von Wasserläufen, an deren Ufern er Nistmöglichkeiten hat.

      Jan ließ die Auen-Landschaft hinter sich zurück, befuhr jetzt Sand-Wege zwischen Wiesen und Feldern, über denen Turmfalken rüttelten und nach Mäusen Ausschau hielten. Hatten sie eine erspäht, stießen sie im Sturzflug herab. Sobald sie eine erbeutet hatten, strichen sie davon.

      Wie den Helmut Drechsler zog es Jan hinaus ins Grüne. Während der Wintermonate beobachtete er auf den verschneiten Feldern die vielen Hasen, die jetzt verschwunden, vielleicht fast ausgestorben sind. Im extrem kalten Winter hatten es die Kaninchen sehr schwer Nahrung zu finden. Viele überlebten nicht. Sie leben in einer Vielzahl von Bauen, die mit einem Netz von Gängen miteinander verbunden sind. Blind und ohne Fell kommen sie auf die Welt, öffnen als Nesthocker nach ungefähr zehn Tagen die Augen. In strengen Wintern dringt die Kälte in ihren Bau, lässt sie erfrieren. Der Nahrungsmangel führt auch zum Tod, denn die ursprüngliche Heimat dieser Tiere ist der Mittelmeerraum. Trotzdem haben sie bis heute überlebt, die Hasen offensichtlich nicht oder nur in geringen Populationen. Die Feldhasen wurden sicher ein Opfer der Monokulturen, der auf den weiten Feldern eingesetzten Maschinen. Für die Aufzucht der Jungen gräbt der Hase keinen unterirdischen Bau, er legt zu ebener Erde eine Erdmulde oder Sasse an, die er als Ruhelager nutzt und zur Aufzucht der Jungen. Behaart und sehend werden sie geboren. Als Nestflüchter verlassen sie gleich ihre Geburtsmulde, trotzen den Gefahren des Lebens.

      Jan gehörte zu den wenigen Schülern, die nach dem erfolgreichen Abschluss der Grundschule die Erweiterte Oberschule besuchen durften. Er nahm an, dass er seine Delegierung für diese Bildungseinrichtung seinem sozialen Status zu verdanken hatte, denn unter sozialem Aspekt betrachtet, gehörte er zur Arbeiterklasse und nicht wie die Eltern seiner Mitbewerber zur Intelligenz. Er war der Einzige, dessen Eltern


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