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verschwunden ist wie sie selbst seit einer Ewigkeit. Soweit Jan informiert ist, haben sie sich nie gemeldet. Er kennt die Gründe dafür nicht. Vielleicht liegt es daran, dass seine Eltern in eine andere Gegend gezogen sind oder die Österreicher und sich somit aus den Augen verloren haben. Die Zeit nach dem Krieg war eine bewegte Zeit, in der sich viele fanden und sich viele verloren. Joseph von Eichendorff wurde auf Schloss Lubowitz Ende des 18. Jahrhunderts in Oberschlesien geboren. Gern würde Jan nach Oberschlesien reisen, um die Gegend kennen zu lernen, in der der Dichter aufgewachsen ist, aber er kann und darf nicht in diese Region reisen; ihm fehlen die finanziellen Mittel, und dann erlaubt es die Politik nicht oder sieht es zumindest höchst ungern. Der Eiserne Vorhang teilt zwei Imperien, deren Grenze Deutschland in zwei Teile aufspaltet. In den Bücherregalen seines Vaters schlummern Bücher über alle Wissensgebiete aus allen Zeiträumen. Und es werden immer mehr. Jans Vater lebte in einem Deutschland, das vor mehr als einhundert Jahren existierte. „Die nach dem Krieg existierenden Grenzen sind das Werk der obersten Entscheidungsträger dieser heutigen Welt“, behauptete Vater, „aber nicht die Grenzen der innerhalb dieser willkürlich gezogenen Grenzen lebenden Völker. Diese Völker wissen genau, wem welches Land gehört.“

      Aus der Biografie Eichendorffs geht hervor, wo er überall gelebt und seine Spuren hinterlassen hat. Viele Namen stürmen auf Jan ein, viele Landschaften werden namentlich genannt, die in der europäischen Geschichte von Bedeutung sind. In Breslau war er Schüler des katholischen Gymnasiums, in Halle und Heidelberg studierte er Jura. An der Universität in Heidelberg wurde sein literarisches Talent von den Dichtern Arnim und Brentano erkannt. Im Befreiungskrieg gegen Napoleon schloss er sich dem Lützowschen Freikorps an. Weitere Stationen seines Lebensweges sind Danzig und Königsberg, es folgen Berlin, Wien und Dresden. Zuletzt nahm er seinen Aufenthalt in Neiße bei der Familie seiner Tochter. Eichendorff hat ein bewegtes Leben geführt, musste Jan dem Dichter zugestehen. Bei dem Namen Neiße wurde er an die Oder-Neiße-Friedensgrenze erinnert. Von ihr wird nicht mehr gesprochen. In Vergessenheit ist sie geraten. Für ihn sind noch immer einige Gedichte Eichendorffs abrufbereit, noch immer kann er sie auswendig aufsagen.

      Der frohe Wandersmann

      Wem Gott will rechte Gunst erweisen,

      Den schickt er in die weite Welt.

      Dem wird er seine Wunder weisen

      In Berg und Tal und Strom und Feld.

      Er hält inne. Obwohl heute kein Dichter für seine Schöpfungen solche Worte, solche Sprachmelodie wählen würde, sind diese Verse ihm noch immer höchst vertraut, rufen längst vergangene Zeiten wehmütig in ihm wach, wecken Erinnerungen, schwören Gesichter herauf, die sich bereits in seinen Kindertagen für immer von ihm verabschiedet haben. Er hört ihre Stimme, ihre Lieder, ihre Gedichte von den Dichtern, die er auch heute noch mag. Er liebt diese Sprache, in der die lyrische Stimmung wirkungsvoll sich entfaltet. Ihm fällt die Erzählung „Aus dem Leben eines Taugenichts“ ein, die die Sehnsucht nach der unbekannten Ferne weckt. Jan spürt diese Sehnsucht, diese Sucht nach der Ferne auch in sich. Als er jung war, fühlte er sich als Kosmopolit und bekannte sich vehement zu diesem sozialen Status. Heftig wurde er dafür kritisiert.

      „Kein Mensch kann zwischen Stühlen sitzen.“, wurde er zurecht gewiesen.

      Während seines Studiums ist Jan gar nicht bewusst geworden, dass Joseph von Eichendorff zu den viel gereisten Dichtern gehörte. Er hat sehr viel von Europa kennen gelernt, war Augenzeuge vieler intereuropäischer politischer Veränderungen in Form von Kriegen, Revolutionen.

      Mit der Epoche der Romantik und deren Vertretern in der Literatur, der bildenden Kunst, der Malerei, der Musik setzt sich Jan noch immer intensiv auseinander. Das Buch „Die blaue Blume“ von der Schriftstellerin Penelope Fitzgerald hatte ihm ein guter Bekannter empfohlen. „Die Blaue Blume“ war ihr letzter Roman. In ihm gibt die Schriftstellerin den Abschnitt aus dem auch recht kurzen Leben des Dichters Friedrich von Hardenberg wieder. Der 22-jährige Dichter, der sich Novalis nannte, hatte sich in die zehn Jahre jüngere Sophie von Kühn verliebt, sich mit ihr verlobt, sie zwei Jahre später verloren. Seine blaue Blume stirbt mit fünfzehn Jahren. Die englische Kritik ist von dem Buch begeistert.

      Jan entsinnt sich. Damals als kleiner Junge wurde er von der Mutter gefragt, welche Farbe seine Lieblingsfarbe sei. Er legte sich nicht fest, gab zu, jede Farbe sei schön, schön auf ihre Weise. Jede Farbe braucht die anderen Farben, um schön zu sein. Seine Mutter gestand, dass sie Blau sehr mag. Und sie fügte noch hinzu, welche Bedeutung für sie die Farbe Blau hat und welche Wirkung sie ausstrahlt.

      „Blau wirkt entspannend und beruhigend auf mich“, offenbarte ihm seine Mutter. „Zu den kalten Farben gehören die Blautöne. Kühl wirken sie, vermitteln Sachlichkeit, schaffen Distanz“

      Jan hatte im Deutsch-Seminar gelehrt bekommen, dass die Blaue Blume das wichtigste Symbol für die Romantiker darstellt. Sie drückt die romantische Sehnsucht nach dem Unerreichbaren aus, nach der Unendlichkeit. Die Blaue Blume wird als Verbindung von Mensch und Natur interpretiert. Sie ist das Symbol der Wanderschaft. Das Vorbild für dieses Symbol war die Kornblume oder die Wegwarte, behaupteten einige, erblickten in diesen Blumen ein Sinnbild der Sehnsucht nach der Ferne und ein Zeichen der Wanderschaft. Die Blaue Blume wird von heimischen blau blühenden Pflanzen repräsentiert.

      Jan interessierten die Farben schon immer. Als Kind gefielen ihm die Farben, die die Aufmerksamkeit erregten, die weithin sichtbar waren, die Leuchtkraft hatten. Ihm gefielen bei der Auswahl und Zusammenstellung der Kleidungsstücke Farben, die kontrastreich waren. Seine Farbzusammenstellung bei der Auswahl seiner Kleidung korrigierte immer seine Mutter, weil sie eine rote Mütze, einen braunen Schal, eine blaue Jacke, eine grüne Hose in dieser Zusammenstellung nicht akzeptierte. Sie drehte und wendete ihren Jungen vor dem Spiegel, bis er mitunter völlig genervt, ihr zustimmte. Immer wieder erinnert er sich an die Szenen seiner Kindheit, als die Mutter ihm Märchen, Fabeln, Sagen, Geschichten aus der großen und weiten Welt vorlas und er sie später, nachdem er Schreiben und Lesen erlernt hatte, sich selbst mit ihnen beschäftigte, sich mit einer geheimnisvollen, abenteuerlichen und zauberhaften Welt voller Mythen und Geheimnisse umgab, ein Teil dieser Märchenwelten wurde.

      Seine Mutter erklärte ihm immer wieder, dass die Farbe Blau auf sie beruhigend und entspannend wirkt, der Inbegriff für Frieden ist, für ihren inneren, aber auch für ihren äußeren Frieden. Diese Farbe verbindet sie mit der Farbe des Meeres und des Himmels. Sie stimmt sie zufrieden, versetzt sie in einen ruhigen Zustand. Ein blauer Himmel im Sommer ist ein immenser Genuss für ihre Seele, nimmt zu, je älter sie wird. Jan hat die Worte der Mutter nicht vergessen. Während des Studiums befasste er sich im Zusammenhang mit der Romantik auch mit der Farbenlehre, speziell mit der Bedeutung der Farbe Blau in den verschiedenen Kulturen und Religionen. Im alten Orient kam die Sitte auf, männliche Säuglinge in blaue Tücher einzuwickeln, weil sie im Patriarchat einen höheren Stellenwert haben als die Mädchen. Er muss an die Gleichberechtigung denken, die noch heute die Gemüter erhitzt, weil sie ein Fernziel ist, noch unerreicht, obwohl seit Jahrzehnten Thema für heftig geführte Diskussionen.

      Zu Jans Lieblingsdichtern innerhalb der Dichtergilde des Kulturkreises der Romantik gehört Heinrich Heine. Während er an seiner Dissertation schrieb, an dem i-Tüpfelchen seiner juristischen Studien, widmete er sich der Lyrik, die er in einer zeitlosen deutschen Sprache verfasste. Zu dieser Gedichtsammlung gehört auch das Welt berühmte Gedicht „Loreley“. Mehrmals hielt sich Jan entweder auf dem Loreley-Felsen auf, oder er war auf dem Schiff, wenn es am Felsen vorbei fuhr, dass er das Lied hörte. Komponisten, weltweit bekannt, wie Schubert, Schumann oder Mendelssohn-Bartholdy, trugen dazu bei, dass Heines Gedichte, nunmehr Lieder, zu Volksgut wurden.

      Während Jan sich mit seinem Lieblingsdichter beschäftigt, fällt ihm ein, dass die Angaben in Bezug auf diesen Dichter innerhalb der Sekundärliteratur höchst unterschiedlich waren. Einmal ließ ein Autor den Dichter 1797 das Licht er Welt erblicken, einmal ließ ein anderer Autor ihn 1799 auf die Welt kommen. Einmal ist die Rede davon, dass Heine während seines Jura-Studiums von seiner Dichtung hätte leben können, zumindest unmittelbar nach seiner Promotion, bei anderen Autoren heißt es, dass er zeit seines Lebens von der Unterstützung seines Onkels, einem reichen Kaufmann, finanziell abhängig war. Irgendwo hatte Jan gelesen, dass der Dichter mit seinem Text „Es waren zwei Grenadiere“


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