Unabwendbare Zufälligkeiten. Inge Borg
Читать онлайн книгу.trennten die Geschwister. Mark kam zu einem kinderlosen Ehepaar, welches ihn sehr gut und liebevoll aufzog. Doch die Verbindung zu diesen Pflegeeltern war nach Marks Hochzeit allmählich abgekühlt. Sie erschienen auch nicht zu seiner Beerdigung und Susanne dachte nicht daran, einen erneuten Kontaktversuch zu starten. Sie schienen immer noch betrübt oder mehr verärgert darüber, dass sie ihn nie adoptieren konnten, weil sein Vater unauffindbar war, dieser aber dazu seine Einwilligung hätte geben müssen. Eine Formalität, für welche Mark kein Verständnis aufbrachte, auch nicht dafür, den Vater nach langen Jahren für tot erklären zu lassen, das war ihm genauso unwichtig gewesen. ‚Nur eine Formalität, nichts weiter‘, fand er und damit war für ihn das Thema besiegelt, erst recht nach seiner Volljährigkeit. Eine Adoption nannte er überflüssig, seine Pflegeeltern bedeuteten ihm auch ohne diese Papiere, neben seiner Schwester Brigitta, alles!
In Windeseile ging Susanne all dies durch den Kopf, während sie über das Grundstück zum Steg lief, um den beiden Anglern vom zusätzlichen Besuch zu berichten. In Kurzfassung erklärte sie: „Wir bekommen Besuch. Tante Brigitta kommt, Michael.“
„Wie, die gibt es auch noch?“
„Ja, und ich hole sie am Bahnhof ab. Ihr könnt noch was mehr fangen, aber bitte Micha, auch bratfertig ausnehmen. Du weißt, ich kann das nicht.“
Frank sah Susanne nach und schmunzelte: „Es finden sich immer mehr Übereinstimmungen bei deiner Mutter und mir!“
„Was?“ Michael starrte Frank entsetzt an. „Ich fasse es nicht. Meinst du damit, du fängst die Fische – und dann?“
„Na ja, sie kommen in den Eimer, ins Wasser. Und entweder ist jemand da, der den Rest für mich besorgt, wie du zum Beispiel, oder …“
„Du lässt sie wieder frei? Ich werde verrückt! Dann bin ich der, der den Rest besorgt oder wie?“
Frank nickte und brüllte Susanne nach, und das war ihm gerade viel, viel wichtiger: „Ist das denn mein letzter Abend? Schläft Tante Brigitta dann hier?“
Susanne lief zurück und hockte sich vor ihn hin. „Natürlich nicht. Brigitta geht immer ins Haus Agnes.“
Franks Augen weiteten sich. „Bist du sicher?“ Er verzog sein Gesicht und Susanne stupste kurz seine Nase an und nickte „ja“, dann ließ sie sich nicht mehr zurückhalten.
Michael ahnte natürlich, was Frank durch den Kopf ging bei seiner skeptischen Frage und klärte ihn auf: „Gäste, die nicht unbedingt angeln wollen, werden in dem Hotel ganz normal behandelt!“ Dazu nickte er gewichtig mehrmals mit dem Kopf und machte bei dieser Gelegenheit Frank auch noch auf etwas aufmerksam, was ihn schon eine ganze Weile beschäftigte: „Überhaupt Frank“, sagte er „von wegen Zufall oder kein Zufall, und was du gesagt hast: ‚Man muss erkennen, wenn es mehr ist und für einen selbst bestimmt‘. Du kannst endlich mal einen Blumenstrauß zu Frau Hackler bringen und danke sagen. Ohne den Schilderklau hätten wir uns doch nie getroffen – oder?“
„Wahrscheinlich nicht“, überlegte Frank und fragte zurück: „Aber das Schild verschwinden lassen, das war doch nicht Frau, das war doch Herr Hackler. Soll ich dem denn jetzt auch noch danken? Soll ich ihm tatsächlich dafür danken, dass er ein Gesetz übertreten hat? – Obwohl er ja unwissend diesmal …“
„Auf gar keinen Fall“, unterbrach ihn Michael erschreckt. „Der ist ein solcher Kotzbrocken, der darf das gar nicht wissen!“ Und dann warf er einen Blick in den Eimer. „Mal was andres, bis jetzt hat nur eine Forelle angebissen, das heißt, wir brauchen noch drei!“
Leider waren die Fische aber nicht der gleichen Meinung. Vielleicht war es ihnen auch heute ein wenig zu lebhaft am Steg. Susanne würde einen Ersatz finden und ihn servieren müssen.
11
Helene Weber fuhr, nach der Aufregung über das Nachbarkind, in den Ort zum Supermarkt, um ihren wöchentlichen Einkauf zu tätigen. Außerdem war das nach dem Schrecken von vorhin eine gute Ablenkung. Eventuell sogar wie eine Therapie, dachte sie bei sich und änderte ganz spontan unterwegs ihren Kurs. Die Idee, mal eben in Bergers-Markt durchs Gartenparadies zu schlendern, kam ihr plötzlich. Nur hindurch schreiten und schauen, einfach nur, um auf andere Gedanken zu kommen. Bei der Gelegenheit konnte sie auch endlich Noppen für die Stuhlbeine kaufen, die bei ihrem letzten Einkauf in Vergessenheit geraten waren. Nun gab es ja in Bergers-Markt, ziemlich nahe am Eingang, dieses breite Brett, die Vorrichtung für Aushänge aller Art. Ständig hielten sich irgendwelche Leute davor auf und schienen sämtliche Karten und Zettel genauestens zu studieren. Helenes Interesse dafür hielt sich in Grenzen, was hätte sie dort auch suchen oder finden sollen? Immer lief sie achtlos daran vorbei. Doch heute war sie nicht so ganz bei der Sache, es war auch ziemlich viel Betrieb, schon mehr ein Menschengedränge. Dieses niedliche Kind und solch eine Rabenmutter, beschäftigte sie gerade wiederholt gedanklich, dann mussten sie wohl irgendwie einige Leute von dem direkten Weg in den Markt abgedrängt haben. Sie bemerkte es gar nicht richtig, jedenfalls stand sie nun doch vor dieser Aushangtafel. Natürlich ohne wirklich etwas zu lesen, oder? So was Dummes, tadelte sie sich selbst, wollte sich abwenden und weiter gehen, da stutzte sie, was war das? Bruchstücke eines Textes verdrängten kurzfristig die Sorgen um die kleine Nachbarin, was hatte sie soeben gelesen? … für Vater – gut kochen – Bergstraße 10? Augenblicklich war sie hellwach. Sekunden später entdeckte sie den Aushang wieder. Da ging es doch um Herrn Scholz! Unverkennbar! Also wollten seine Kinder ihn nicht ins Heim stecken, sondern? Helene wusste was zu tun war. Wenn ich das doch nur geahnt hätte. In rasanter Geschwindigkeit verließ sie den Baumarkt. Keine Noppen, schon wieder nicht, und auch kein Paradies! Sie lenkte ihr Auto zum Supermarkt und kaufte strickt nach ihren Einkaufnotizen ein, auf keinen Fall noch hier und da schauen, nur so viel Aufenthalt wie nötig. Sie beeilte sich so schnell es eben ging, verstaute schließlich den Einkauf im Kofferraum ihres Wagens und fuhr zurück. Nur schnell, schnell zum Nachbar Scholz! Sie lud auch nicht erst die Waren zuhause aus, sie fuhr vorbei an ihrem Haus direkt zu Otto Scholz.
Hans-Peter öffnete die Haustür. Woher kannte er bloß diese Frau? Wo konnte er die schon gesehen haben? Wollte sie etwa auch bei Vater …?
„Hallo, Herr Scholz, ist Ihr Vater da? Ich habe in Bergers-Markt den Aushang gelesen und bin direkt her gefahren. Wenn Sie noch niemand zugesagt haben, dann würde ich gerne die Haushalt-Betreuung bei Ihrem Vater übernehmen. Wir kennen uns, ich bin Helene Weber von schräg gegenüber aus Nummer 5“, dabei nickte sie mehrmals Herrn Scholz‘ Sohn freundlich zu.
„Ach so, ja, jetzt erkenne ich Sie, kommen Sie doch rein.“ Seinem Vater, der hinterm Haus den Kleistereimer reinigte, rief er zu: „Hier ist Frau Weber. Sie bietet sich für den Posten an.“
Otto Scholz unterbrach seine Beschäftigung und kam näher. Das ist ja ein merkwürdiger Zufall, dachte er staunend, da hätte ich auch selbst drauf kommen können. „Bin schmutzig, kann Ihnen die Hand nicht reichen. Danke Frau Weber, das finde ich nett von Ihnen. Dann kann mein Sohn die Zettel entfernen. Möchten Sie einen Kaffee?“
„Ja gerne. Heißt das, ich habe die Stelle?“
Otto Scholz nickte. „Haben Sie, und von mir aus können Sie morgen schon anfangen. Gehe mir eben die Hände waschen, bin gleich wieder da.“
Hans-Peter goss Cappuccino auf, servierte ihn, aus Rücksicht auf die Renovierungsgerüche und auch Unordnung, in großen Tassen draußen am Gartentisch. Als sein Vater hinzukam, die Tassen sah und deren Inhalt erkannte, begann er augenblicklich zu meckern: „Mensch, Junge, das moderne Zeug, vielleicht würde Frau Weber doch lieber einen normalen Kaffee trinken?“
„Nein, nein das ist schon in Ordnung, ich trinke das moderne Zeug gerne“, lachte Helene. „Ich fange wirklich morgen an, um welche Zeit ist es Ihnen denn recht?“
„Schön wäre es um neun, allerdings nur, wenn Ihnen die Zeit auch zusagt?“
Helene Weber nickte und Hans-Peter freute sich. „Das ist gut, dann frühstücken wir gemeinsam und besprechen dabei alles Weitere.