Grundkurs Soziologie. Hans Peter Henecka

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Grundkurs Soziologie - Hans Peter Henecka


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Fragen ihrer Zeit: z. B. mit dem Problem der Armut (Simmel), der sozialen Lage der Landarbeiter, den Produktionsbedingungen in den Webereien oder auch – grundsätzlicher – mit dem Zusammenhang zwischen protestantischer Religion und kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung (Weber), mit der Rolle der Eliten in der Gesellschaft (Pareto) oder etwa mit möglichen sozialen Einflüssen auf die Selbstmordraten (Durkheim).

      Diese Autoren beschränkten sich jetzt darauf, konkrete Aussagen über die soziale Wirklichkeit zu machen und wandten sich somit der Erforschung des sozialen Alltags zu, statt von irgendeinem fiktiven Punkt aus allumfassende Theorien über gesellschaftliche Strukturen und Entwicklungen zu wagen und nicht minder vage Prognosen in eine ferne Zukunft zu formulieren. Dadurch gewann der Einzelne nicht als »reines« Individuum (denn dies ist ja der Forschungsgegenstand der Psychologie), sondern in Verbindung mit anderen als sozial und kulturell geprägte Persönlichkeit, auch verstärkt soziologische Beachtung. Neben der Frage, was für die verschiedenartigen sozialen Gebilde, Gewebe und Verflechtungen konstitutiv wird – also der immer wieder neu gestellten Frage nach dem Rätsel des sozialen Zusammenhalts und seinen zwischenmenschlichen Variationen – erregte das besondere Interesse der Klassiker die Frage nach den wichtigsten Kennzeichen des sozialen Handelns des Menschen, gleichsam verstanden als kleinste soziale Einheit oder molekularer Baustein des Sozialen.

1.5.3.1Max Weber

      Für Max Weber ist das soziale Handeln des Individuums deutlich und »subjektiv sinnvoll« auf einen anderen Menschen bezogen: ein Mensch, der einem anderen Menschen Hilfe suchend oder liebend begegnet; ein Mensch, der einen anderen übervorteilt oder an ihm feindselig seine Aggressionen abreagiert; ein Mensch, der einem anderen über die Ladentheke hinweg eine Ware verkauft oder ihn am Büroschalter berät; einer, der auf ein Podium steigt, sich den Hörern zuwendet und zu ihnen spricht oder einer, der sich an den dort befindlichen Flügel setzt und dem versammelten Publikum Beethovens »Pathétique« interpretiert. Aber: »Nicht jede Art von Berührung von Menschen ist sozialen Charakters, sondern nur ein sinnhaft am Verhalten des anderen orientiertes eigenes Verhalten. Ein Zusammenprall zweier Radfahrer z. B. ist ein bloßes Ereignis wie ein Naturgeschehen. Wohl aber wären ihr Versuch, dem anderen auszuweichen, und die auf den Zusammenprall folgende Schimpferei, Prügelei oder friedliche Erörterung ›soziales Handeln‹« (Weber 1960, 19).

      Nach Weber, dessen Soziologie auch »Verstehende Soziologie« genannt wird, erfassen wir das soziale Handeln eines anderen, wenn wir es auf eigene seelische Erlebnisse und Erfahrungen beziehen. (Von daher wird Weber gelegentlich auch unter die »psychologistischen« Soziologen eingereiht, – eine Etikette, die seinem Gesamtwerk jedoch nicht gerecht wird.) Doch wenn dieses Verstehen auch mehr oder weniger »psychologisch« evident ist, ist es noch nicht unbedingt empirisch gültig. Die evidenteste Interpretation muss nicht zwangsläufig auch die richtige sein. Wahrscheinlichkeit und Wahrheit sind nicht notwendigerweise deckungsgleich. Indem Weber deshalb die geisteswissenschaftliche Methode des Verstehens mit der naturwissenschaftlichen Logik des Erklärens verknüpft, will er – einem Gedankengang Heinrich Rickerts folgend – die »Besonderheit« und »Objektivität« der Soziologie begründen (vgl. Bernsdorf 1980).

      Da es für die Soziologie leider kein unmittelbares Erfassen ihrer Gegenstände und auch keine Möglichkeit zur Bestimmung eindeutiger Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge gibt, will Weber die Gültigkeit des Verstehens und Erklärens mit Hilfe des sogenannten »Idealtyps« überprüfen. Der Idealtyp ist bei ihm ein konstruierter Begriff, eine gedanklich zugespitzte, überprägnante Idee, die aus der Komplexität der Wirklichkeit einige konstitutiv erscheinende Faktoren als »rein« ausgeprägte hervorhebt, sie also im logischen (nicht unbedingt auch im moralischen) Sinne »ideal« erscheinen lässt, wobei störende und widersprüchliche Aspekte ignoriert werden. Beim Idealtyp handelt es sich also primär um einen heuristischen Begriff, der gewonnen wird »durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde« (Weber 1956, 235).

      Indessen sind die konstruktiven Begriffe der Soziologie für Weber nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich idealtypisch, so dass das reale soziale Handeln in den meisten Fällen »in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines ›gemeinten Sinns‹« (Weber 1960, 18) verläuft. Die richtige ursächliche Erklärung eines konkreten Handelns bedeutet also, dass der äußere Ablauf und das zugrunde liegende innere Motiv in ihrem Zusammenhang sinnhaft verständlich erkannt werden.

      Hierfür entwickelt Weber folgende Typologie des sozialen Handelns:

       beim zweckrationalen Handeln wird der eigene Zweck des handelnden Individuums gegenüber den Mitteln rein vernunftmäßig abgewogen;

       beim wertrationalen Handeln wird der Handelnde motivisch von einem irrational gesetzten Wert bestimmt;

       beim affektuellen Handeln sind Ziel und Verlauf des Handelns Ergebnisse augenblicklicher Gefühle und Stimmungslagen;

       beim traditionalen Handeln schließlich beruht das Verhalten auf »eingelebten Gewohnheiten« und irrationalen Überlieferungen.

      Entsprechend wird bei Weber die Soziologie zu einer »Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will« (Weber 1960, 5).

       Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

      Raymond Aron (1971): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 2. Band. (Darin »Max Weber«, S. 176–250). Kiepenheuer & Witsch: Köln.

      Hans Norbert Fügen (1992): Max Weber mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt: Reinbek.

      Dirk Kaesler (1999): Max Weber. In Dirk Kaesler, Klassiker der Soziologie. Bd. 1, S. 190–212. Beck: München.

      Hermann Korte (2011): Einführung in die Geschichte der Soziologie. (Darin »Der Mythos von Heidelberg: Max Weber«, S. 97–116). 9. Aufl. VS: Wiesbaden.

      Volker Kruse (2012): Geschichte der Soziologie. (Darin Kapitel 3.5 »Max Weber«, S. 138–163). 2. Aufl. UVK: Konstanz.

1.5.3.2Georg Simmel

      Auch in Georg Simmels theoretischem Ansatz stehen im Mittelpunkt des soziologischen Interesses die Prozesse des sozialen Handelns. Soziales Handeln verbindet die Individuen in typischer Weise untereinander und erzeugt wechselseitige Beziehungen, die zu unterschiedlichen sozialen Gebilden kristallisieren können. Hierbei vermischt Simmel bewusst die »subjektive« mit der »objektiven« Bedeutung von sozialen Handlungen und sucht vorrangig nach »Typen« oder »Klassen« von Beziehungsformen, unabhängig davon, welche Bedeutung die handelnden Menschen diesen zeitlosen »Formen der Vergesellschaftung« beimessen.

      Gleich, was die Menschen miteinander verbindet oder was sie voneinander abstößt, wie sie sich aufeinander einstellen, sich miteinander einlassen, aufeinander zugehen oder miteinander streiten, – die gleichen formalen Beziehungsformen sind in allen sozialen Verbänden, ob familiärer, religiöser, politischer, wirtschaftlicher oder militärischer Art nachweisbar. Simmel wird von daher zum Begründer einer »formalen Soziologie«, die als ihren Gegenstand nur die zwischenmenschlichen Beziehungen wie Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Streit, Nachahmung, Parteibildung, aber auch Neid, Eifersucht u. Ä. anerkennt und gelten lässt.

      Soziales Handeln und damit Gesellschaft ist bei Simmel schlechterdings »überall da existierend, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten«. Von daher wird bei ihm zum konstitutiven Element der Soziologie die soziale Gruppe, die er wie kein anderer vor ihm feinsinnigen qualitativen und vor allem auch quantitativen Detailanalysen unterzieht, von denen die zeitgenössische Soziologie immer noch profitiert. Dies gilt insbesondere für seine klassische Studie des »Streits« als einer Form sozialen Handelns, die ihn zu einem Begründer der soziologischen Konflikttheorie werden ließ.

       Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

      Werner Jung (1990):


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