Grundkurs Soziologie. Hans Peter Henecka
Читать онлайн книгу.Klassiker der Soziologie. Bd. 1, S. 127–149. Beck: München.
Otthein Rammstedt (2007): Georg Simmel. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 389–407. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart.
1.5.3.3 | Vilfredo Pareto |
Anders als in der Vorstellung von Weber betont der italienische Soziologe Vilfredo Pareto in seinem theoretischen Ansatz die irrationalen und nicht-logischen Quellen des menschlichen Verhaltens. Er sieht das soziale Handeln überwiegend von Gefühlen und Glaubensvorstellungen her bestimmt, wobei das Individuum sich solcher irrationalen Wurzeln des Handelns meist nicht bewusst ist, sondern vielmehr von der »Wahrheit« der überformenden Sinngebungen und der »Logik« seiner Rationalisierungen überzeugt scheint. Pareto erklärt »den geringen Grad von Folgerichtigkeit in der Praxis des sozialen Lebens aus dem großen Einfluß von Residuen (Überbleibseln) und Derivationen (Ableitungen). Jene äußern sich in Instinkten, Gefühlen und dem, was die heutige Psychiatrie ›Komplexe‹ nennt; Derivationen sind die Ideologien, die mehr in Einklang mit den Residuen als mit Erfahrung und Logik stehen« (v. Wiese 1954, 100). »Residuen« sind somit relativ stabile Antriebskräfte und Motivstrukturen, »Derivate« eher variable Ausdrucksformen von Meinungen und Alltagstheorien.
Unter diesen Voraussetzungen sieht er das soziale Handeln als einen Vorgang an, der bestimmt ist von Gewohnheiten, Interessen, aber auch von Leidenschaften und Gefühlen, die zwar beobachtbar und messbar sind, denen jedoch eigentlich erst im Nachhinein ein bestimmter Sinn und eine Rechtfertigung unterlegt wird. »Am Beispiel eines beliebigen, wohlerzogenen Mannes, der einen Salon betritt, seinen Hut abnimmt, einige Worte spricht und bestimmte Bewegungen ausführt, entwickelt Pareto so wesentliche Variablen seiner Analyse. Denn wenn man diesen Mann nach dem Warum seines Verhaltens fragte, so könnte er nur erwidern: das ist so Brauch. Man kann leicht zeigen, dass er sich ganz analog in zahllosen Situationen verhält, die gesellschaftlich von viel weitreichenderer Bedeutung sind« (Eisermann 1973, 28).
Die sozial überwiegend nicht-logisch handelnden Individuen werden gesellschaftlich und politisch von einer Machtelite zusammengehalten, wobei in Anlehnung und Überwindung der älteren Analogie von Gesellschaft und Organismus (z. B. bei Spencer) Pareto die Vorstellung von der Gesellschaft als einem dynamischen System entwickelt, das sich im Gleichgewicht hält oder zumindest immer wieder zum Gleichgewicht tendiert, – eine Vorstellung, die dann von der modernen Systemtheorie wieder aufgenommen wurde und auf die wir später noch zu sprechen kommen (vgl. Abschnitt 3.2).
Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre
Raymond Aron (1971): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 2. Band. (Darin »Vilfredo Pareto«, S. 96-175). Kiepenheuer & Witsch: Köln.
Maurizio Bach (2007): Vilfredo Pareto. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 331–337. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart.
Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Vilfredo Pareto«, S. 385–392). Westdt. Verlag: Opladen.
1.5.3.4 | Emile Durkheim |
Der französische Soziologe Emile Durkheim, der übrigens als erster Soziologe überhaupt 1896 in Bordeaux einen eigens eingerichteten Lehrstuhl für Soziologie und Pädagogik erhielt und dann ab 1902 an der Sorbonne in Paris lehrte, betont schließlich – ähnlich wie Simmel – die Bedeutung der Gruppe bzw. des Kollektivs für das soziale Handeln. Er will das soziale Handeln wie »Tatsachen« betrachten, die außerhalb des Individuums liegen, eine »Wirklichkeit eigener Art« darstellen und als Ausdruck »kollektiver Vorstellungen« von äußeren Zwängen, Verpflichtungen, Geboten, Sitten u. Ä. bestimmt werden: »Weit davon entfernt, ein Erzeugnis unseres Willens zu sein, bestimmen sie ihn von außen her; sie bestehen gewissermaßen aus Gussformen, in die wir unsere Handlungen gießen müssen« (Durkheim 1961, 226). Durch die mehr oder weniger von außen auferlegten Zwänge wird soziales Handeln zu einem »soziologischen Tatbestand« (»fait social«).
Da er davon ausgeht, dass sich gesellschaftliche Vorgänge nicht auf individualpsychologische Phänomene reduzieren lassen und er vielmehr »Soziales nur durch Soziales erklären« will, legt er dem Sozialen ein solches Gewicht bei, dass er sich dem Vorwurf des »Soziologismus«, d. h. der einseitigen Betonung der gesellschaftlichen Bedingtheit und Abhängigkeit menschlichen Denkens und Handelns, ausgesetzt sah.
Für Durkheim ist eine soziale Gruppe oder auch die Gesellschaft immer mehr als die Summe ihrer Teile, d. h. mehr als die Summe ihrer individuellen Mitglieder. Dieses »Mehr« bezeichnet er als »kollektives Bewusstsein«, das zugleich so etwas wie das Gewissen der Gruppe ist und sich als eine moralische, sittliche oder religiöse Kraft niederschlägt, die in ihren Wirkungen deutlich bei den Individuen der jeweiligen Gruppe (z. B. im Bereich der Sozialisation und Erziehung) nachweisbar sei.
Die gesellschaftliche Entwicklung folgt nach Durkheim einer sozialen Evolution, die von der auf der Gemeinsamkeit von Ideen, Gefühlen und Traditionen beruhenden »mechanischen Solidarität« der Menschen in einfacheren Gesellschaften sich zu einer »organischen Solidarität« der Menschen in zivilisierten und industrialisierten Gesellschaften gewandelt habe und die hier vor allem auf der hoch entwickelten Arbeitsteilung, der weitgehenden Differenzierung der Persönlichkeiten und dem Vorherrschen vertraglicher Beziehungen beruhe.
Die Erschütterung und den Zusammenbruch der Gruppenmoral und damit der sozialen Ordnung nennt Durkheim »Anomie«, deren differenziertes Ausmaß er exemplarisch anhand von Selbstmordraten in seiner Theorie des Selbstmords (Le Suicide, 1897) empirisch zu belegen und zu klassifizieren versucht. Aus Überidentifikation mit Systemnormen kann so ein altruistischer Selbstmord resultieren, der am häufigsten in einfachen Gesellschaften und vorindustriellen Hochkulturen auftritt, wo sich das Individuum dem Kollektiv noch besonders stark verpflichtet fühlt. Der egoistische Selbstmord ist dagegen eher für die moderne Gesellschaft typisch, da in ihr bei hochgradiger Subjektivierung der Bindungen die kollektiven Integrationsleistungen eher schwach ausgeprägt sind. Der anomische Selbstmord (wie auch der fatalistische, den Durkheim allerdings nicht weiter behandelt) weist dagegen auf einen Zusammenbruch bisheriger Regelungen und sozialer Orientierungen hin, wie dies etwa bei wirtschaftlichen Depressionen oder bei Umbrüchen gesellschaftlich-politischer Systeme zu beobachten ist: Die bislang verlässliche Ordnung gilt nicht mehr und eine neue, sozial verbindliche Regulation ist noch nicht installiert, – Zustände, wie sie beispielsweise beim Zusammenbruch der sozialistisch-kommunistischen Ostblockstaaten in den 1990er-Jahren zu beobachten waren.
Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre
Raymond Aron (1971): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 2. Band. (Darin »Emile Durkheim«, S. 19–95). Kiepenheuer & Witsch: Köln.
Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Emile Durkheim«, S. 91–96). Westdt. Verlag: Opladen.
René König (1976): Emile Durkheim. In Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens. Bd. 1, S. 312–364, 401–444, 501–508. Beck: München.
Hans-Peter Müller (2007): Emile Durkheim. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 90–111. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart.
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Der knappe Exkurs in die Soziologiegeschichte zeigt uns, dass Soziologie in der Krise der modernen Gesellschaft ihren Ausgang genommen hat: In den tiefgreifenden Wandlungsprozessen und rapiden Veränderungen, die in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten vor allem die industrialisierten westlichen Gesellschaften erfasst haben und sich auf unseren Alltag unmittelbar oder mittelbar auswirken. Dazu gehören alle Merkmale der modernen sozialen Welt, wie die atemberaubenden wissenschaftlichen und technologischen Umbrüche, die gravierenden und folgenschweren Veränderungen unserer Arbeitswelt, die Art und Weise des Wohnens in zunehmend urbanisierten Umwelten, die Tendenzen zur umfassenden Informationsvernetzung und ökonomischen Globalisierung, der Zusammenbruch alter und das Aufkommen neuer politischer Systeme, aber auch die neuen Herausforderungen durch zu Ende gehende natürliche Ressourcen und durch Energiekrisen