Politische Ideengeschichte. Ralph Weber
Читать онлайн книгу.Meisterwerk ist. Am Deutlichsten zeigt sich dies vielleicht durch den rhetorischen Ausschluss von alternativen Lösungsmöglichkeiten: Das Problem der Faktionen könne nur über die Ursachen oder Wirkungen gelöst werden – wieso aber sollte es unmöglich sein, an den Faktionen selbst anzusetzen und beispielsweise bestimmte Arten von Faktionen (die z. B. verfassungsfeindliche Positionen vertreten) zu verbieten?9
Damit verbunden ist eine zweite Grenze, nämlich die Nichtberücksichtigung des historischen Kontexts. Warum machte sich Madison die Künste der Rhetorik zunutze und bemühte sich nicht, seine Argumente maximal klar und transparent zu präsentieren? Nun, wahrscheinlich weil er überzeugen wollte, und zwar weniger das Tribunal der universellen Vernunft, als vielmehr konkrete Zeitgenossen – eben jene, die im Staat New York über die Annahme oder Ablehnung des Amerikanischen Verfassungsentwurfs zu entscheiden hatten. Die Betrachtung dieser Motivation zur Abfassung des Texts beeinflusst die Interpretation maßgeblich. Es wird ersichtlich werden, dass der letzte, marginal wirkende Argumentationsschritt, in dem analog große Republiken gegenüber kleinen bevorzugt werden, der entscheidende ist. Gegner der Amerikanischen Verfassung (die Anti-Föderalisten) hatten nämlich argumentiert, dass die Schaffung einer föderalen Republik der Vereinigten Staaten von Amerika aufgrund ihrer Größe zum Scheitern verurteilt sei. Madison widmet sich dem Problem der Faktionen deshalb wohl weniger, weil er sich für das „überzeitliche“ politiktheoretische Problem der Faktionen interessierte, als mehr deshalb, weil er so ein Argument für eine möglichst große Republik auf dem Amerikanischen Kontintent konstruieren konnte. Entscheidend ist, dass sich durch die Miteinbeziehung des historischen Kontexts das Verständnis der Leitfrage des Texts verändert. Anstatt der Frage, wie das Problem der Faktionen gelöst werden kann, wird untersucht, was für die Ratifizierung des Verfassungsentwurfs spricht. Im Federalist Paper Nr. 2 – das ebenfalls unter dem Pseudonym Publius veröffentlicht, wenngleich von John Jay geschrieben, wurde – gibt es bezeichnenderweise gar kein Problem der Faktionen. Amerika, heißt es dort, bietet optimale Voraussetzung für eine vereinte Union, weil es „ein vereintes Volk [hat] – ein Volk, das von denselben Ahnen abstammt, dieselbe Sprache spricht, sich zu demselben Glauben bekennt“, etc.10
Die Konzentration auf den isolierten Text in seinem Wortlaut kann also dazu führen, dass wir zwar verstehen, was im Text geschrieben steht, aber nicht, welche Sicht der Text im historischen Kontext legitimiert hat und worum es dem Autor eigentlich ging. Wenn das Plädoyer für eine große Republik, wie gesagt, gar nicht die Schlussfolgerung einer zunächst ergebnisoffenen Untersuchung über das Problem der Faktionen, sondern von vorneherein der Zweck des Federalist Paper Nr. 10 war, fragt sich, was das Plädoyer für eine große Republik letztlich motivierte. Charles Beard, der das Federalist Paper Nr. 10 als einer der ersten aus ideengeschichtlicher Warte interpretierte, argumentiert z. B., dass sich Madison von der Ratifizierung der Amerikanischen Verfassung vor allem die Festigung der ökonomischen Oberklasse erhoffte.11
Ein anderes Beispiel als das Federalist Paper Nr. 10 macht die Gefahr des Missverständnisses der Bedeutung eines historischen Texts, die dem analytischen Ansatz immanent ist, noch deutlicher. Wie allgemein bekannt ist, wurde Galilei von der Römischen Inquisition zum Widerruf seines Dialogo über das ptolemäische und das kopernikanische Weltbild aufgefordert, der einen Beweis dafür zu liefern beansprucht, dass sich die Erde um die Sonne bewegt. Galilei widerrief vor Gericht, doch glaubten schon damals nur die Wenigsten, dass er dies aus eigener Überzeugung tat. Gemäß einer Legende soll Galilei deshalb beim Verlassen des Gerichtsgebäudes gemurmelt haben „… und sie bewegt sich doch“. Dem analytischen Ansatz folgend dürfte man aber streng genommen weder die historischen Umstände (Gerichtsprozess) noch die Rezeption (Legende) mit einbeziehen, und müsste die Interpretation auf das beschränken, was tatsächlich im Text, bzw. den Texten (dem Dialogo und der Widerrufserklärung) steht. Als das „letzte Wort“ Galileis zum kopernikanischen Weltbild müsste dementsprechend die Aussage der Widerrufserklärung gewertet werden: „Die Erde bewegt sich nicht“.
Die willentliche Außerachtlassung des historischen Kontexts und das Desinteresse an den eigentlichen Intentionen des Autors kann selbst für die richtige Erfassung der Argumente eines Texts ein Hindernis darstellen.12 Dies zeigt sich besonders deutlich im Hinblick auf den Schritt der Klärung von Begriffen, die im Text selbst nicht eindeutig definiert werden. Wenn Begriffe textimmanent unterbestimmt sind, dann verleitet der analytische Ansatz aufgrund des Verzichts auf kontextualistische Analysestrategien dazu, sich bei deren Verständnis an heutigen Wortverwendungen zu orientieren. Da der Begriff „Parteien“ im Federalist Paper Nr. 10 nicht näher bestimmt ist, wird man dem analytischen Ansatz folgend nicht davor geschützt, sie im heute dominanten Sinn als verfassungskonforme Instrumente des demokratischen Systems zu verstehen, die von partikulären Interessensverbänden unterschieden sind (die deutsche Parteienrechtskommission hielt so z. B. 1957 fest, dass die „Tätigkeit der Parteien … dem Wohle des ganzen Volkes [dient]“13). Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Begriff der Partei hingegen beinahe entgegengesetzt als Verschwörung gegen das öffentliche Wohl verwendet. Es darf als wahrscheinlich gelten, dass Madison eher von diesem als dem heutigen Verständnis von Parteien ausging.
Der Verzicht auf methodische Mittel, die historische Bedeutung eines Texts zu verstehen, spricht noch nicht gegen den analytischen Interpretationsansatz, da es seinen Anwendern ja um eher philosophische als historische Einsichten beschaffen sein kann. Insofern es um die Bergung von theoretischen Werkzeugen geht, spielt es eigentlich keine Rolle, ob der Autor eines Texts wirklich dieses und nicht eigentlich ein ganz anderes Werkzeug entwickeln wollte. Unerfreulich ist eher, dass die theoretischen Werkzeuge, die die Autoren in ihrem historischen Kontext eigentlich entwickelten, für uns heute spannender sein könnten. Auch mag die Gefahr der fälschlichen Zuschreibung von Aussagen und Argumenten gegen analytische Ansätze vorgebracht werden. (Eine kontextuelle Interpretation könnte unter Umständen zeigen, dass das Argument X gar nicht aus dem Text des Autors Y stammt, sondern erstmals im Kommentar des Interpreten Z vorgebracht wurde.) Schließlich muss eingeräumt werden, dass eine Untersuchung mit dem analytischen Ansatz ihrem Anspruch nicht völlig gerecht werden kann, da eine vollkommen textimmanente Interpretation stets unmöglich bleiben muss. Abgesehen davon, dass für eine textimmanente Interpretation die Kenntnis der Sprache, in der der Text vorliegt, nötig ist, werden Interpreten immer eine Reihe von weiteren Vorkenntnissen über den historischen Kontext mitbringen, die bewusst oder unbewusst die Interpretation des Texts beeinflussen werden.
1 Das philosophische Methodenbuch von Damschen und Schönecker stellt eine der wenigen Einführungen dar, die den analytischen Interpretationsansatz immerhin zu rekonstruieren ermöglichen. Sie selbst erachten den analytischen Interpretationsansatz allerdings nicht als tragfähig und empfehlen bei der Interpretation von Texten in synkretistischer Manier auf text-, autor-, adressaten- und selbst leserzentrierte Interpretationsstrategien zurückzugreifen. Siehe: Damschen, Gregor und Schönecker, Dieter. 2012. Selbst Philosophieren. Ein Methodenbuch. Berlin: De Gruyter.
2 Zentrale Figuren waren dabei unter anderem Thomas D. Weldon, Margaret Macdonald, John Plamenatz und Anthony Quinton. Für einen Einblick in die anfänglichen Debatten, die zur Ausprägung des analytischen Ansatzes führten, siehe: Miller, David. 1983. „Linguistic Philosophy and Political Theory“. In: derselbe und Larry Siedentop (Hg.). The Nature of Political Theory. Oxford: Clarendon Press, S. 35–52.
3 Quinton, Anthony. 1982. Thoughts and Thinkers. London: Duckworth, S. ix. Vgl. Plamenatz, John. 1938. Consent, Freedom and Political Obligation. London: Oxford University Press, S. x; Plamenatz, John 1963. Man and Society. A Critical Examination of Some Important Social and Political Theories from Machiavelli to Marx. Bd. 1. London: Longmans, S. xvii.
4 Lovejoy, Arthur O. 1993. Die große Kette der Wesen: Geschichte eines Gedankens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
5 Plamenatz, 1963. Man and Society, S. ix, xvi. Vgl. auch Russell, Bertrand. 1900. Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz. Cambridge: Cambridge University Press, S. vi: „Ohne auf Daten oder Einflüsse zu achten, streben wir einfach danach, die großen Arten von möglichen Philosophien zu entdecken. Orientierung finden wir bei unserer Suche, indem wir die Systeme der großen Philosophen der Vergangenheit studieren.“
6 Eine von vielen brauchbaren Einführungen in die Argumentationstheorie und unterschiedliche Typen von