Erstellung von Fragebogen. K. Wolfgang Kallus

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Erstellung von Fragebogen - K. Wolfgang Kallus


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festgelegt sind. Aus den Interviews lassen sich dann weitere Facetten und Ergänzungen oder Einschränkungen des Themenbereichs ableiten. Einen wesentlichen Vorteil der Interviewmethodik für die Fragebogenentwicklung stellt der aus den Interviews ableitbare Pool der „prägnanten Aussagen“ dar, der für die Formulierung von Items eine hilfreiche Ressource darstellt. Eine inhaltsanalytische Auswertung trägt zudem wesentlich zur Präzisierung des Merkmalsbereiches bei und bringt automatisch die Perspektive der Befragten in die Testentwicklung ein. Wittkowski hat sowohl die Interviewtechnik in der Arbeit „Das Interview in der Psychologie“ (1994) sehr gut dokumentiert als auch die auf Basis von Interviewdaten erfolgte Fragebogenentwicklung beispielhaft im Manual zum „Fragebogeninventar zur Messung der Angst vor Sterben und Tod“ (FIMEST; Wittkowski, 1996) dargestellt.

      Insbesondere die Frage zum Einsatz von Interview und/oder Fragebogen ist in vielen Fällen nach den initialen Interviews deutlich leichter entscheidbar. Viele Problemfelder haben sehr weitgehende privat-persönliche Facetten, die in Interviews aufscheinen und nicht in Fragebogen gehören. Sie sollten dort ausgeklammert werden oder lediglich in ihren indirekten Äußerungsformen erfragt werden. Dies begründet sich in der anonymen Befragungssituation der Fragebogenbeantwortung.

      Der oben skizzierte Erholungs-Belastungs-Fragebogen erfasst beispielsweise neben Beanspruchung auch den Erholungszustand. Erholung und Regeneration finden zu erheblichen Anteilen in nichtöffentlichen Bereichen des individuellen, zum Teil intimen Privatlebens statt. Diese Facetten von Erholung sind im Fragebogen nicht erfassbar. Stattdessen sind (ggf. in strukturierter Form) persönliche Interviews die geeignetere Methode zur Untersuchung der eher „privaten“ Facetten von Erholung. Andere Methoden sind für den persönlichen Bereich berufsethisch aus Sicht der Psychologie kaum vertretbar (dies gilt auch für anonyme Interviewformen wie Telefon- oder Internetinterviews).

      Im Bereich der angewandten Forschung erlauben Interviews zudem eine Anpassung und Konkretisierung von theoretischen Konzepten an das jeweilige Arbeitsfeld. Zu diesem Zweck bietet sich an, im Anwendungsfeld mit Betroffenen, AusbilderInnen und Vorgesetzten gezielt Interviews durchzuführen. Dabei sind unstrukturierte Vorgehensweisen zu vermeiden, und es empfiehlt sich der Einsatz eines zweistufigen halbstrukturierten Interviews.

      In der ersten Stufe werden gezielt Fragen zu den zu erfassenden Konzepten gestellt, die den Charakter offener Fragen mit wenigen Entweder-oder-Antworten haben. Wichtig ist dabei, den Bereich gezielt einzugrenzen. Diese Eingrenzung ist wie beim arbeitsanalytischen (Rekonstruktions-)Interview mit dem Critical-Incident-Ansatz (vgl. Flanagan, 1954) in einfacher Weise umsetzbar.

      Die Critical-Incident-Technik erfragt von ExpertInnen, wie ein Ablauf unter optimalen Bedingungen aussieht und worin sich ungünstige, problematische oder falsche Abläufe davon abheben. Nach 4 bis 6 Interviews findet eine inhaltsanalytische Zwischenauswertung statt.

      Eine Methode zur Analyse der Interviewdaten stellen an die Grounded Theory (Strauss & Corbin, 1996) oder an verwandte Ansätze (Mayring, 2009) angelehnte „Auswertungen“ dar, die jedoch in diesem Stadium noch ergänzt und präzisiert werden können.

      Bei der Auswahl der ExpertInnen sollten die entscheidenden Zielgruppen mindestens durch eine qualifizierte/typische Person vertreten sein. Die Interviewfragen werden dann entsprechend der Perspektive (Leitung/Management/MitarbeiterInnen/ KundInnen/Administration/Qualitätsmanagement/Sicherheits- und Gesundheitsbeauftragte/LehrerInnen – Schulleitung/Administration – SchülerInnen – Eltern/BeraterInnen) formuliert. Die unterschiedlichen Perspektiven sind zur Eingrenzung des Merkmalsbereiches auch dann sinnvoll, wenn der Fragebogen nur für ausgewählte Personen (z. B. SchülerInnen) entwickelt werden soll. In einem frühen Stadium sollten die unterschiedlichen Merkmalsfacetten möglichst umfassend abgebildet werden. Dabei sind nicht nur Übereinstimmungen von Bedeutung, sondern auch unterschiedliche und widersprüchliche Sichtweisen. Arbeiten zum 360°-Feedback werden gerade deshalb vorgenommen, um die unterschiedlichen Sichtweisen zu erfassen. Die Aussagen von Vorgesetzten und MitarbeiterInnen zeigen in der Regel unterschiedliche Sichtweisen und damit verbunden auch unterschiedliche Validitäten.

      In der zweiten Stufe werden dann mehr Personen in die Interviews einbezogen, wobei hier der Leitfaden für die Interviews insgesamt stärker strukturiert ist und durch Hauptfragen mit optionalen Unterfragen sicherstellt, dass die relevanten Bereiche für die Auswertung im Interview auch angesprochen werden. Als Beispiel sei auf den Test zur Erfassung von Mobbingverhalten am Arbeitsplatz verwiesen (TEMA; Kolodej, Essler & Kallus, 2010).

      2.4 Workshop-Methoden

      In der Praxis steht oft nur eine kurze Zeit für die Entwicklungsarbeit eines Fragebogens zur Verfügung. Um in kurzer Zeit die relevanten Merkmalsfacetten zu erfassen, ist der Einsatz von Gruppeninterviews oder Workshops die Methode der Wahl. Über die Workshop-Methodik lässt sich ein Prozedere ableiten, das von ExpertInnen erfolgreich zur zeitgerechten Entwicklung von kundInnenorientierten Fragebogen eingesetzt werden kann. Die Ergebnisse aus den Workshops und daraus abgeleitete Items und Subtests erlauben eine systematische Entwicklung von Fragebogen für die Anwendung in Industrie und Organisationen.

      Der erste Schritt in einem solchen Vorgehen ist theorieorientiert und beantwortet die Frage, welche Kenntnisse zum zu messenden Merkmalsbereich bereits vorliegen. Damit wird es auch möglich, im Fragebogen Informationen für Optimierungsansätze, Unternehmensführung, Interventionen und Entwicklungsprozesse aus der Arbeits- und Organisationspsychologie einzubeziehen. Diese Aspekte gehen bei direkten Fragen nach einem umgangssprachlich definierten Konzept oftmals verloren. Workshop-Arbeiten sind eng am Common Sense und an der Oberfläche von Merkmalen orientiert. Tiefer greifende theoretische Aspekte aufzubereiten und einzubeziehen, obliegt den psychologisch geschulten Fachleuten als Vorbereitung für den Workshop (oder ggf. als Nachbereitung).

      Innerhalb von MitarbeiterInnenbefragungen sind Ergebnisse aus Fragebogendaten oft nur sinnvoll umzusetzen, wenn die Konzepte auf unternehmensspezifische Aspekte bezogen werden und/oder allgemeine Fragenkomplexe durch unternehmensspezifische Facetten ergänzt werden. Besonders für die Formulierung von Items zu den unternehmensspezifischen Aspekten hat sich die Durchführung von moderierten Workshops bewährt. In diesen Workshops sammeln Führungskräfte gemeinsam mit betroffenen MitarbeiterInnen typische Verhaltensweisen oder Äußerungsformen für das Thema der Befragung. Diese werden über Moderationstechniken (Kärtchenabfragen, Mindmaps etc.) dokumentiert. Für die ModeratorInnen stellt die Eingrenzung der Merkmalsbereiche über die Critical-Incident-Technik von Flanagan (1954) auch hier die Methode der Wahl dar.

      Die Workshop-Methode erfordert ein Vorgespräch mit den AuftraggeberInnen (Leitung, MitarbeiterInnenvertretung, Qualitätsmanagement) mit dem Ziel einer ersten Klärung des Problemfeldes sowie der relevanten Verhaltensbereiche (Führungskompetenz, Kooperation, Arbeitsunfälle, Unzufriedenheit, Fehlzeiten, Motivation, Mobbing, Verfügbarkeit bei Bereitschaftstagen, KundInnenbeschwerden über Verspätungen, Materialschwund etc.). Für den Erfolg des Workshops ist die Anwesenheit von RepräsentantInnen aller (!) relevanten Zielgruppen, EntscheidungsträgerInnen und Organisationseinheiten entscheidend. Wünschenswert ist die gleichzeitige Anwesenheit eines Mitglieds aus der Unternehmensleitung und eines Mitglieds der MitarbeiterInnenvertretung.

      Im Workshop werden, gegliedert nach den Problemfeldern/Merkmalsbereichen, die relevanten Verhaltensweisen, Situationen und Manifestationen gesammelt und diskutiert. Gemäß der Critical-Incident-Technik werden immer wieder sowohl die Verhaltensweisen und Zustände bei ungünstigen oder kritischen Abläufen beleuchtet als auch im Kontrast dazu die Verhaltensweisen bei optimalen/wünschenswerten Abläufen.

      Die Ergebnisse sind als Basis für die Formulierung von Items besonders ergiebig, wenn nicht nur „Extreme“ angesprochen werden, sondern vor allem auch der „Alltag“ und „kleine Anzeichen“. Extreme Verhaltensweisen dienen zur Klärung des Feldes, sind für die unmittelbare Umsetzung in Items aber nur selten brauchbar. Zudem sollte die Äußerungsform (Häufigkeit/Wahrscheinlichkeit/Intensität/Valenz etc.) für jedes Problemfeld diskutiert werden und geklärt werden, worin sich eine Verbesserung eindeutig zeigen würde.

      Aus dem Pool der gesammelten Verhaltensweisen und Manifestationen werden anschließend per ExpertInnenurteil diejenigen ausgewählt, die sich aus der Sicht der Betroffenen


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