Grundlagen der Visuellen Kommunikation. Stephanie Geise
Читать онлайн книгу.25. Das Prosumer-Bild hält in einer Art Situationskomik den Verfall des Mappus-Images fest. In einer Umkehrung der intendierten Bedeutungen wird durch die Gegenüberstellung von Mappus Wahlplakat mit der Jägermeister-Werbung eine neue Bedeutung des Mappus-Porträts erzeugt. Beide querformatigen Plakate haben die gleiche Größe. Wird nun also das rechts plakatierte Bild als unmittelbarer Kontext in die Interpretation integriert, dann liest sich – von links nach rechts – der Text zur Jägermeister-Werbung wie ein Kommentar zu Mappus: »Stefan Mappus. Was für eine Flasche!«. Dabei finden mehrere Kontext- und dadurch Bedeutungsverschiebungen der beiden Plakate statt. Von der Bildproduktion betrachtet, handelt es sich um ein nutzergeneriertes digitales Bild, das in einem privaten Produktionskontext entstanden ist und dann per Internet potenziell global verbreitet wurde. Das Bild an sich ist aber auch ein politisches Statement. Während das Mappus-Plakat eindeutig in einem politisch-kommerziellen Produktionskontext des Wahlkampfes produziert wurde, ist die Jägermeister-Werbung ein kommerzielles Produkt, das aber im Zusammenklang mit dem Wahlplakat eine zweite, politische Bedeutung als Textkommentar zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten annimmt. Über den Rezeptionskontext sagt uns das Bild allein kaum etwas. Wir wissen nicht, wer sich den Bildblog wann und wie lange angesehen hat und ob dies einen Einfluss auf die spätere Wahlentscheidung des Betrachters hatte. Hierfür hätten die oben bereits erwähnten standardisierten bzw. experimentellen Methoden in Echtzeit zur Untersuchung des Plakates angewandt werden müssen. Allerdings bleibt das Bild als Dokument zugänglich, so dass sowohl interpretative Aussagen über die Form sowie den Gestaltungskontext getroffen werden können als auch argumentativ untermauerte Vermutungen über den Produktionskontext angestellt werden können.
Mit Angela Merkels Wahl zum ersten weiblichen Bundeskanzler im November 2005 wurde auch die Frage nach der ikonografischen Geschlechterdifferenz aktuell. Wird die Bundeskanzlerin anders dargestellt als ihre männlichen Vorgänger? Gibt es Kontinuitäten, die dem Amt geschuldet sind? Gibt es Differenzen in der visuellen Darstellung Angela Merkels, die ihrem Geschlecht geschuldet sind? Merkels Vorgänger, Gerhard Schröder (SPD), zeichnete sich durch eine eigene Ikonografie aus (vgl. Müller 2003). Das Bild des Bundeskanzlers in der Presse ist jedoch ein anderes als das politisch gewünschte und intendierte Bild, das aus der SPD-Parteizentrale und von den beauftragten PR- und Werbeagenturen gern vermittelt würde. Der journalistische Bildproduktionskontext gehorcht eigenen Regeln, zu denen die Kritik der politischen Führungsfigur gehört. Ein typisches Format der journalistischen Bildkritik männlicher Politiker und Despoten (vgl. auch Abb. 83, S. 170) stellt die Entkleidung dar. So erschienen sowohl Gerhard Schröder als auch der damalige österreichische Bundeskanzler Vranitzky nackt auf den Titelseiten der Nachrichtenmagazine STERN bzw. PROFIL (Müller 2003: 99). Die Assoziation, die vermutlich geweckt werden sollte, war im Fall Schröder »Die nackte Wahrheit. Kann Schröder noch gewinnen?«. Für weitere
Abb. 26: Die Berliner CDU-Direktkandidatin Vera Lengsfeld mit ihrem Wahlplakat, August 2009
Abb. 27: Bundeskanzlerin Angela Merkel als Ehrengast bei der Eröffnung des Opernhauses in Oslo, April 2008
Interpretationen spielen herrschaftsikonografische Traditionen (vgl. Burke 1993, 1998; Köstler/Seidl 1998; Köstler 1998; Seidl 1998) eine Rolle ebenso wie die volkstümliche Erzählung »Des Kaisers neue Kleider« oder die populäre Redensart »Kleider machen Leute« (Röhrich 1992, 2: 853). Nacktheit im Kontext der Politik erzeugt einen hohen Aufmerksamkeitswert. Bei der Entkleidung prominenter Politiker kommt der Tabubruch hinzu. Die persönliche Bloßstellung wird durch die assoziierte politische Bloßstellung verstärkt.
Kanzlerin Merkel wurde bislang physisch noch nicht völlig bloßgestellt (vgl. aber Abb. 92, S. 195). Andererseits scheute sich die konservative Politikerin auch nicht, ihre Weiblichkeit zur Schau zu stellen (vgl. Abb. 27, s. o.), als sie anlässlich der feierlichen Eröffnung des norwegischen Opernhauses in Oslo 2008 tief dekolletiert erschien, im vollen Bewusstsein, dass dies von der Presse aufgegriffen würde. Besonders betont wird Merkels Ausschnitt durch eine Perlenkette. Weniger elegant wird die Pressefotografie von Reuters in der Selbstdarstellung der Berliner CDU-Direktkandidatin Vera Lengsfeld (vgl. Abb. 26, S. 71) im Jahr darauf aufgegriffen. Links ist die Reuters-Fotografie Merkels und rechts daneben Vera Lengsfeld, die ebenfalls tief blicken lässt, dabei aber die Betrachter direkt anblickt und anlächelt. Lengsfeld trägt eine große grüne Perlenkette. Der Plakatslogan spielt auf die gezielte weibliche Selbstentblößung an: »Wir haben mehr zu bieten«. Dabei ist die Plakataussage deutungsof-fen – bezieht sich das »mehr« auf die weiblichen Brüste, im Vergleich zu männlichen Politikern, zielt dies also auf die weibliche Wählerschaft ab? Zudem ist dies – zumindest aus dieser Perspektive – ein geschickter Einsatz assoziativer Logik, denn die Lokalpolitikerin vergleicht sich direkt mit der Kanzlerin, spricht die weiblichen Vorteile an, die auch Männer zu schätzen wissen und verdeutlicht einen »neuen Konservativismus«, der die CDU als Partei stärker in die Mitte rückt und eine Gleichsetzung von konservativ mit prüde ausschließt. In jedem Fall führte die »Neue Weiblichkeit« der Bundeskanzlerin auch eine neue Imagefacette hinzu.
Angela Merkels Image war lange Zeit durch ihren politischen Ziehvater Helmut Kohl geprägt – sie war zunächst »Kohls Mädchen«, später die »Ost-Mutti der Nation«. Insbesondere ihre Frisur war über lange Jahre journalistischem Gespött ausgesetzt. Dies wurde sogar in einem kommerziellen Werbeplakat für die Leihwagenfirma Sixt zum Argument für eine Spritztour mit Cabrio gemacht (vgl. Abb. 28).
Die große Zeitungsanzeige im Mai 2001 warb mit einem Doppelporträt der CDU-Vorsitzenden als Motiv. In dem aus der Diätwerbung in Frauenzeitschriften bekannten Vorher-Nachher-Format wurde für den positiven Effekt des Autofahrens mit offenem Verdeck geworben. Auf dem Vorher-Bild links wird Angela Merkel in gewohnter Sicht im Frontalporträt gezeigt mit der darunter gesetzten Frage: »Lust auf eine neue Frisur?« Das Nachher-Bild rechts zeigt Merkel nach der angeblichen Cabrio-Fahrt, mit wilder Mähne und der Empfehlung: »Mieten Sie sich ein Cabrio.«
Abb. 28: Sixt-Werbeanzeige für Cabriolets mit Angela Merkel, 2001
Zum Verständnis dieser Werbeanzeige ist das Kontextwissen unerlässlich, dass Merkels Erscheinungsbild und ihre Frisur seit dem Beginn ihrer politischen Karriere in den Medien und damit in der Öffentlichkeit thematisiert wurden. Dabei wurde von Seiten der Medien an weibliche Politiker offenbar ein anderer Maßstab angelegt als an die männlichen Kollegen. Die Empörung über die Verunglimpfung Angela Merkels kam jedoch nicht von ihr selbst, sondern wurde von der konservativen Presse, wie hier am Beispiel des HAMBURGER ABENDBLATTS, geäußert: »Darf Werbung so weit gehen? Prominent sein hat seinen Preis, da spielen Fragen des guten Geschmacks dann keine Rolle mehr. Was wird sich Angela Merkel, die [damals lediglich] CDU-Vorsitzende [und noch nicht Kanzlerin war,] wohl gedacht haben, als sie eine große deutsche Zeitung aufschlug und sich als Werbe-Objekt für Leihwagen missbraucht sah?« Vielleicht ist die Gelassenheit, mit der die Parteivorsitzende auf die Fotomontage reagierte auch der ikonografischen Anleihe geschuldet, die in dem Porträt Anwendung findet: Der das Porträt umgebende Heiligenschein erinnert an Mariendarstellungen und eine Madonna im Strahlenkranz ist kein schlechtes Motivvorbild für eine christdemokratische Politikerin.
Der Visualisierung von Politikern sowie der visuellen Ebene von Politiker-Images wird – insbesondere im Kontext Visueller Wahlkampfkommunikation sowie der Bildberichterstattung im Wahlkampf – mittlerweile mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Vorreiter auf diesem Gebiet in Deutschland ist Hans-Mathias Kepplinger (1987, 2010) mit der Untersuchung von »Darstellungseffekten« und dem Vergleich der textuellen und der visuellen Komponenten in der Wahlwerbung (vgl. auch Kepplinger/ Maurer 2001; vgl. zur Nonverbalen Medienkommunikation