Medienwandel. Joseph Garncarz

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Medienwandel - Joseph Garncarz


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17 zeigt einen Konvergenzprozess, die Angleichung der Filmpräferenzen in Europa. Die Kinopublika von Deutschland, Frankreich und Italien haben in den 1950er-Jahren im Wesentlichen die Filme des eigenen Landes favorisiert. Es gab nur sehr wenige Titel, die in allen drei Ländern in die Top Ten kamen. Seit den 1980er-Jahren vollzog sich ein Angleichungsprozess derart, dass die Zahl der in allen drei Ländern sehr erfolgreichen Filme signifikant größer wurde. Zugleich bietet dieses Kapitel ein Beispiel für einen einseitigen Konvergenzprozess: Die Präferenzen des europäischen Publikums wurden denen des US-amerikanischen ähnlicher, was umgekehrt eben nicht der Fall war.

      Wandlungsprozesse sind zudem grundsätzlich umkehrbar. Sie müssen also nicht dauerhaft in eine Richtung laufen, sondern können sich durchaus auch wieder in die gegenteilige Richtung entwickeln. So muss sich ein medialer Konvergenzprozess, wie er in Kapitel 17 für Europa beschrieben wird, nicht immer weiter fortsetzen, bis er die ganze Welt umfasst. Zunehmende Gemeinsamkeiten der Filmpräferenzen in verschiedenen europäischen Ländern können durchaus wieder von stärkeren nationalen Vorlieben abgelöst werden.

      Die Struktur und Richtung eines Wandlungsprozesses vollzieht sich immer in konkreten kulturgeografischen Kontexten. Dies können Regionen, Länder, Kontinente oder auch die Welt insgesamt sein. Nationen waren im 20. Jahrhundert die primären Überlebenseinheiten, in denen sich überwiegend Menschen der gleichen Sprach- und Kulturgemeinschaft organisiert hatten. So bildeten Kinozuschauer eines Landes über Jahrzehnte – ich gehe u. a. in Kapitel 8 darauf ein – starke gemeinsame Präferenzen aus, die sie von Kinozuschauern anderer Länder unterschieden. Da es diese Präferenzunterschiede gab, stehen auf den Listen der erfolgreichsten[39] Filme verschiedener Länder von den 1920er- zu den 1950er-Jahren überwiegend andere Filmtitel. Solche kulturgeografischen Referenzsysteme können sich jedoch verändern, weil sich zum Beispiel die Präferenzen der Kinozuschauer verschiedener Länder wie beschrieben angleichen. Das Referenzsystem sind dann nicht mehr einzelne Länder, sondern supranationale Regionen wie zum Beispiel Europa.

      [40][41]3. Wie lässt sich Medienwandel beschreiben?

      Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Frage der Methodologie der Medienhistoriografie. Wie Mediengeschichte geschrieben wird, ist von Disziplinen abhängig. Disziplinen sind Einzelfächer, die man an Universitäten studieren kann. In Deutschland beschäftigen sich viele Disziplinen mit Medien, allen voran die Medienwissenschaft (auch Medienkulturwissenschaft genannt) und die Kommunikationswissenschaft. Literaturwissenschaftler neigen aufgrund ihrer Ausbildung zum Umgang mit Texten; sie interessieren sich in einem besonderen Maß für Mediengeschichte als Diskursgeschichte. Kommunikationswissenschaftler legen dagegen mehr Wert auf eine Analyse der Medien selbst und interessieren sich für den Diskurs oft nur, insofern dieser einen Einfluss auf die Medienentwicklung hatte. Da die kulturwissenschaftliche Medienwissenschaft in Deutschland von den Literaturwissenschaften dominiert wird, konzentrierte sich zum Beispiel die Analyse des frühen Kinos zunächst in einem erheblichen Maß auf die Diskurse der Kinoreformer bzw. der Schriftsteller, während die Frage, wie das Medium Film als Kino etabliert wurde, weniger Aufmerksamkeit fand.

      Disziplinen sind nicht neutral, sondern schaffen und verteidigen bestimmte Fragestellungen und Analysemethoden. So ist die Medienwissenschaft, die aus der Literatur- und Theaterwissenschaft entstanden ist, in einem besonderen Maß an den medialen Produkten, den Mediennutzungsformen, interessiert und bedient sich hermeneutischer Methoden. Die Kommunikationswissenschaft stellt dagegen stärker die Frage der Mediennutzung und -wirkung in den Vordergrund und bedient sich vor allem empirischer Methoden. Disziplinen konstruieren ihren Gegenstand auf je besondere Art und Weise und weisen, oft vehement, analytische Instrumente von sich, die ihrer Meinung nach fachfremd sind.

      Der Autor dieses Buchs ist der Überzeugung, dass sich die Forschung von solchen akademischen Zwängen stärker freischwimmen sollte. Anstatt den Untersuchungsgegenstand auf fachspezifische Weise zu konstruieren, ist es sinnvoller, von Fragen und Problemen auszugehen, die gelöst werden müssen. Wie und warum wandeln sich Medien, sind solche Fragen, die kaum von einer akademischen Disziplin allein beantwortet werden können.

      Der wissenschaftliche Tunnelblick ist der akademischen Forschung durchaus bewusst. Traditionell wird das Problem dadurch gelöst, dass eine Zusammenarbeit von Forschern unterschiedlicher Disziplinen gefordert wird. Sonderforschungsbereiche, an denen Wissenschaftler mehrerer Disziplinen beteiligt sind, bieten hier eine geeignete Möglichkeit. De facto findet ein solches interdisziplinäres Arbeiten jedoch nicht in einem wünschenswerten Maß statt. Eine Alternative dazu,[42] die der Autor dieses Buchs favorisiert, ist, sich selbst weniger von Disziplinen als von Fragestellungen antreiben zu lassen und sich dabei, was die Beantwortung der Fragen angeht, unterschiedlicher Methoden verschiedener Disziplinen zu bedienen. Dieses transdisziplinäre Verfahren ist wissenschaftlich gesehen von Vorteil, hilft der akademischen Karriere jedoch nicht, da diese von Disziplinen mit ihren Grenzen und Verteidigungslinien bestimmt wird.

      Kapitel 8 und 9 sind sozialwissenschaftliche Studien, die nach der Kultur- bzw. Schichtenspezifik von Filmpräferenzen fragen. Kapitel 10 ist ein Beispiel für eine transdisziplinäre Analyse, die sich kultur-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Methoden bedient.

      Im Folgenden werden zum einen begriffliche Konzepte vorgestellt, die nützlich sind, um den Wandel der Medien zu erforschen, zum anderen wird die Rolle der eigenen Wahrnehmung thematisiert, die unsere Sicht auf den Medienwandel mit bestimmt.

      Begriffliche Konzepte

      Aufgabe einer Medienhistoriografie ist nicht allein, ein neues Wissen über den Medienwandel zu schaffen, sondern dabei zugleich das tradierte Wissen zu korrigieren. Ein Medienhistoriker, der dies leistet, ist also immer auch ein Mythenjäger, der Legenden als solche erkennt und durch ein adäquateres Wissen ersetzt. Aber wie ist das möglich?

      Grob gesprochen gibt es zwei Typen von Medienhistorikern. Die Vertreter der einen Gruppe sind Verfechter von Konzepten, die sie selbst in der Regel als Theorien bezeichnen, während die Vertreter der anderen Gruppe ein theoriegeleitetes Forschen für einen Irrweg halten. Die Vertreter der ersten Gruppe lassen sich zudem danach unterscheiden, welchem Theoriegebäude sie sich verpflichtet fühlen (also etwa der Systemtheorie, den Cultural Studies, der Kritischen Theorie). Die Möglichkeiten, medienhistorisch Innovatives zu leisten, sind bei Vertretern dieser Schule beschränkt, da ihre Sicht auf die Mediengeschichte in einem erheblichen Maß durch das jeweilige Theoriegebäude präjudiziert wird. Interessanterweise arbeiten die Vertreter der zweiten Gruppe, deren Blick auf den Wandel der Medien offener ist, keineswegs ohne begriffliche Konzepte – sie explizieren sie nur nicht.

      Der Autor dieses Buchs ist der Überzeugung, dass man begriffliche Konzepte, aber keine Ideologien oder Großtheorien braucht, um Mediengeschichte zu schreiben. Ein wissenschaftliches Konzept funktioniert im Grunde wie ein begrifflicher Rahmen, der unseren Blick so auf den Forschungsgegenstand richtet, dass neue[43] Erkenntnisse möglich werden. Konzepte sollten alle für die jeweilige Forschung relevanten Faktoren berücksichtigen, jedoch so offen sein, dass sie Forschungsergebnisse nicht vorwegnehmen. In diesem Sinn sind Medienhistoriografie und Konzeptualisierungen interdependente Prozesse. Ohne Reflexion auf die Konzepte bleibt das Verständnis des Medienwandels verschwommen und belastet durch Vorurteile der Forschenden. Die bloße Arbeit an Konzepten, ohne den ständigen Bezug auf den Wandel der Medien, ist dagegen ein intellektuelles Spiel, das wenig Sinn ergibt.

      Alle Fallstudien dieses Buchs arbeiten mit begrifflichen Konzepten. Die meisten Fallstudien arbeiten mit einem empirisch-vergleichenden Begriff von Popularität. Im kulturwissenschaftlichen Kontext ist es üblich, Popularität als eine Eigenschaft des Produktes zu definieren (populär im Sinn von »bloß unterhaltsam«) und nicht als Resultat der Mediennutzung. Definiert man den Popularitätsbegriff dagegen empirisch-vergleichend, ändert sich die Sicht auf die Mediengeschichte grundlegend, da der Mediennutzer in den Blick gerät. Ein Medienprodukt ist dann populärer als ein anderes, wenn es von mehr Menschen genutzt wird.

      Um ein neues Wissen über den Medienwandel zu schaffen und dabei zugleich das tradierte Wissen zu korrigieren, muss man nicht nur wissenschaftliche Konzepte reflektieren, sondern auch Primärquellen recherchieren und auswerten. Diese sind für neue Einsichten fast immer unverzichtbar.

      Oft wird Mediengeschichte ausschließlich auf der Basis von Sekundärliteratur


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