Medienwandel. Joseph Garncarz
Читать онлайн книгу.Ansteckungswege bestimmter Krankheiten, das es uns ermöglicht, uns nicht zu infizieren, wenn wir uns entsprechend vorsehen.
Zum nicht-realitätsgerechten Wissen gehören Vorurteile, Gerüchte, Klatsch, Legenden und Märchen, aber auch das Religiöse. Viele Menschen glauben an überirdische Kräfte (die sie etwa als Ahnen, Geister oder Götter oder den einen Gott begreifen). Da etwa Christen und Moslems glauben, ihr religiöses Wissen stamme von Gott, fühlen sie sich daran gebunden. Da dieses (wie jedes andere) Wissen der Interpretation bedarf, spalten sich Religionsgemeinschaften oft in unterschiedliche Gruppen auf, wie z. B. Katholiken und Protestanten oder Sunniten und Schiiten. Religion ist immer ein kulturelles bzw. soziales Phänomen: Ein bestimmter Glaube bindet Menschen aneinander, indem er Menschen in Gläubige und Anders- bzw. Nichtgläubige differenziert. Da der Glaube nicht intersubjektiv überprüfbar ist, birgt er einen sozialen Sprengstoff, wenn unterschiedliche religiöse Gruppierungen aufeinandertreffen. Dies kann bis zur physischen Vernichtung der Anders- bzw. Nichtgläubigen führen.
Anders als das Religiöse ist das realitätsgerechte Wissen nicht kulturell oder sozial differenziert. Die Anforderungen an die Statik einer Brücke sind kulturübergreifend, das Wissen um die Übertragungswege von Krankheiten wie Cholera, HIV oder Ebola gilt grundsätzlich in allen Gesellschaften. Die Relevanz des Wissens[25] ist jedoch sehr wohl kulturell und sozial differenziert: Eine Stammesgesellschaft, die in einer Region lebt, in der es weder Flüsse noch Schluchten gibt, braucht das Wissen über die Statik von Brücken nicht, da sie keine Brücken baut. In Regionen, in denen eine bestimmte Krankheit wie Ebola grassiert, ist das Wissen um die Ansteckungswege dieser Krankheit von größerer praktischer Bedeutung als in Regionen, in denen es keine derartigen Krankheitsfälle gibt.
Zur Orientierungsfunktion der Medien gehört neben der Wissensvermittlung auch die Meinungsbildung. Um sich in der Welt orientieren zu können, muss die Relevanz des Wissens fortlaufend bewertet werden. Dies ist für den Mediennutzer allein dadurch möglich, dass Presse und Fernsehen über Ereignisse berichten – auch wenn sie selbst das Berichtete nicht bewerten. So kann sich der Leser bzw. Zuschauer eine Meinung über eine Regierung bilden, über deren Handeln berichtet wird. Darüber hinaus ermöglichen Kommentare zu Ereignissen bzw. Diskussionen in Tageszeitungen, im Rundfunk bzw. Fernsehen den Mediennutzern, ihre eigene Meinung zu bilden, indem sie sich das Urteil anderer zu eigen machen, das eigene gegen das Urteil anderer abgrenzen oder es modifizieren.
Unmittelbar mit der Orientierungs- hängt auch die Kontrollfunktion der Medien zusammen. Wer sich mittels Wissen in der Welt orientiert, indem er das Wissen selbst bewertet, wird handlungsfähig. Dies drückt sich etwa im Wahlverhalten der Menschen in demokratischen Gesellschaften aus. Entsprechend der eigenen Meinung, die auch in der Auseinandersetzung mit medialer Berichterstattung gebildet wird, wählt X etwa die Partei B und Y die Partei A. Investigative Journalisten aus Presse, Rundfunk und Fernsehen berichten über politische Entscheidungsträger und deren Handlungen. Indem sie etwa einen Machtmissbrauch aufdecken und diesen veröffentlichen, haben sie die gleiche Funktion wie Untersuchungsausschüsse von Parlamenten. Sie kontrollieren diejenigen, die Entscheidungsmacht haben, sodass Politiker ggf. zurücktreten müssen oder auch vor Gerichte gestellt werden.
Wissenserwerb jedweder Art beruht auf Lernen, das der Anstrengung jedes Einzelnen bedarf. Für die Wissensvermittlung bilden sich eigene Institutionen heraus, insbesondere Schulen und Universitäten, aber auch Medieninstitutionen wie Verlage, Rundfunk und Fernsehen.
Wissen kann angehäuft und so von Generation zu Generation weitergegeben werden. Mittel der Wissensspeicherung sind Medientechnologien. Das ständig wachsende Wissen, das Forscher weltweit täglich neu schaffen, wird mithilfe der Schrift festgehalten und via Medien (Zeitschriften, Bücher, World Wide Web) anderen zugänglich gemacht. Um etwas Neues zu erfahren, das bereits anderen, aber einem bestimmten Mediennutzer noch nicht bekannt ist, kann er etwa Zeitung lesen, eine Enzyklopädie zurate ziehen oder wissenschaftliche Literatur lesen. Auch das nicht-wissenschaftliche Wissen wird mittels Medientechnologien gespeichert[26] und von Generation zu Generation weitergegeben. So ist das Grundwissen von Hochreligionen wie Christentum oder Islam in Form von autoritativen Büchern, der Bibel bzw. dem Koran, symbolisch repräsentiert.
Als Unterhaltung bezeichnen wir eine menschliche Beschäftigung, die in erster Linie darauf ausgerichtet ist, Vergnügen – oder anders gesagt: Freude oder Spaß – zu bereiten, und dabei grundsätzlich ohne Konsequenzen für das wirkliche Leben bleibt. Menschen sehen sich Fernsehserien an, weil sie davon ausgehen, dass ihnen das Vergnügen bereitet. Sie gehen auf Pop- oder Rockkonzerte, weil sie sich für die Musik begeistern. Sie versammeln sich in Fußballstadien, um ihre Mannschaften gewinnen zu sehen. Natürlich stellt sich bei Fernsehserien oder Fußballspielen nur dann eine Freude ein, wenn dem Zuschauer die Serie gefällt bzw. die favorisierte Mannschaft gewinnt. Grundsätzlich bleibt das Vergnügen jedoch ohne Konsequenzen: Der Zuschauer wird nicht dafür bestraft, wenn er den Bösewicht eines Films umbringen möchte oder die gegnerische Fußballmannschaft lautstark wüst beschimpft.
Unterhaltung kann unterschiedlichen Zwecken dienen. Die wichtigste Funktion von Unterhaltung in Industriegesellschaften ist wahrscheinlich – darin dem Schlaf durchaus ähnlich –, eine Erholung von den Anstrengungen des Lebens zu ermöglichen. Wer sich nicht erholt, ist auf Dauer nicht mehr in der Lage, effektiv zu arbeiten und den eigenen Alltag zu bewältigen. Unterhaltung kann aber auch dem Zweck dienen, Menschen ein gewisses Erregungsniveau zu ermöglichen, das ihnen im Alltag fehlt – wie das etwa bei Bewohnern von Altenheimen oder Häftlingen in Gefängnissen der Fall sein kann. Unterhaltung kann darüber hinaus natürlich auch – darin besteht eine Ähnlichkeit zum Spiel – dem Probehandeln dienen, etwa wenn Zuschauer von Fernsehserien oder -filmen Liebes- und Familienbeziehungen gedanklich und emotional durchspielen oder lernen, mit Emotionen wie Eifersucht und Hass umzugehen. Die Emotionen, die sich beim Zuschauer von fiktionalen Fernsehserien oder Filmen einstellen, sind nicht virtuell, sondern real. Freude, Ekel, Verachtung oder Liebe werden wirklich empfunden.
Was Menschen unterhält, ist in einem erheblichen Maß hinsichtlich der Kultur, der sozialen Schicht, der Psyche, des Geschlechts, der Religionszugehörigkeit differenziert, sodass bestimmten Menschen bestimmte Formen an Unterhaltungsangeboten gefallen. Man kann auch sagen, Unterhaltung hängt von Werten ab. Werte sind »innere Führungsgrößen des menschlichen Tuns und Lassens, die überall dort wirksam werden, wo nicht biologische ›Triebe‹, Zwänge oder ›rationale‹ Nutzenerwägungen den Ausschlag geben.«12 Werte müssen nicht für alle Menschen verbindlich sein. Sie können sich nicht nur hinsichtlich Alter, Geschlecht und Bildung eines Menschen, sondern auch hinsichtlich seiner Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder Nation unterscheiden. Die Werte bestimmter sozialer Gruppen verändern sich oft über einen längeren Zeitraum; ändern sie sich, spricht[27] man von einem Wertewandel (siehe dazu Kapitel 17).
Was von Menschen als unterhaltsam empfunden wird, hängt u. a. von religiösen Werten ab. So ist Bollywood bei Muslimen in Asien und Afrika beliebter als Hollywood, und Hollywoodfilme gelten in einem stärkeren Maß als Gefährdung der eigenen Moral.
»While many Muslims [rund 40 % außerhalb Europas] say they personally like Western music, movies and television, most Muslims [67,7 %] also agree that Western popular culture has hurt morality in their countries. On balance, more Muslims say they like Bollywood movies and music than say the same about Western entertainment [etwa im Verhältnis 50 zu 40 %]. Muslims also see Bollywood as less harmful to morality than Western popular culture is [rund 44 gegenüber 66 %].«13
Dass Zweidrittel der nicht-europäischen Muslime glauben, Popmusik und Hollywood hätten einen negativen Einfluss auf die Moral, ist gut nachvollziehbar. Während 85 % aller Muslime glauben, Frauen müssten ihren Männern immer gehorchen, triumphieren in der angloamerikanischen Popmusik (u. a. Madonna, Lady Gaga) und in US-Fernsehserien (u. a. SEX AND THE CITY) Frauen, die ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen – hinsichtlich der eigenen Meinung, der Berufs- und Partnerwahl und nicht zuletzt auch hinsichtlich ihrer Sexualität.
Unterhaltung ist in einem erheblichen Maß kulturell und sozial differenziert. So können sich die Filmpräferenzen zwischen den Publika verschiedener Länder ebenso unterscheiden wie die Filmvorlieben verschiedener sozialer Gruppen.
Kapitel 8 und 9 zeigen, wie die Filmpräferenzen unterschiedlicher