Erlebnispädagogik. Werner Michl
Читать онлайн книгу.B. im Sicherheitsbereich. Die Erlebnispädagogik will auch berühren, emotional und körperlich, also berührt sein und berührt werden. Bei vielen Problemlösungsaufgaben und Spielen, im Niedrigseilgarten und bei der Höhlentour kommt man sich im Wortsinn und metaphorisch nahe. Wir begegnen Menschen ganz anders, lernen sie neu kennen, wir begegnen unbekannten Menschen, die uns helfen können oder Hindernisse und Herausforderungen sind. Und wir bauen Beziehungen auf, zum Trainer, zu anderen Teilnehmern, zur Natur. In ganz neuen Lebensräumen zu lernen, unabhängig von der Uhrzeit, kann befreiend wirken. Nach der Aktion folgt die Pause, die Müdigkeit, das Nachdenken, die Besinnung. Und immer wieder ist es notwendig, sich zu besprechen.
Abb. 3: „Bonsai“
Merksatz
Wir sprechen erst dann von Erlebnispädagogik, wenn nachhaltig versucht wird, die Erlebnisse durch Reflexion und Transfer pädagogisch nutzbar zu machen. Klettern, Schlauchbootfahren oder Segeln sind Natursportarten, die viel Freude und Sinn vermitteln. Sie bleiben aber lediglich eine Freizeitbeschäftigung, wenn sie um ihrer selbst willen durchgeführt werden.
Der Begriff „Erlebnispädagogik“. Es wäre ein Leichtes gewesen, zu Beginn der Theoriediskussion um 1990, Erlebnispädagogik zu definieren. Man hätte damals ohne Weiteres sagen können, dass Erlebnispädagogik durch Natursport etwas zur Persönlichkeitsbildung beitragen will. Heute, nachdem sich die erlebnispädagogische Bewegung in allen pädagogischen Praxisfeldern und mit einer zunehmenden Vielfalt von Methoden ausgebreitet hat, kann diese Definition die Bandbreite nicht mehr abdecken. Bernd Heckmair und ich haben in der achten Auflage des Buches „Erleben und Lernen. Einführung in die Erlebnispädagogik“ folgende Definition von Erlebnispädagogik formuliert (2018, 108):
Definition
„Das Konzept der Erlebnispädagogik will als Teildisziplin der Pädagogik junge Menschen durch exemplarische Lernprozesse und durch bewegtes Lernen vor physische, psychische und soziale Herausforderungen – vornehmlich in der Natur – stellen, um sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu fördern und sie zu befähigen, ihre Lebenswelt verantwortlich zu gestalten“.
Manche Autoren haben auf eine Definition verzichtet und versucht, Erlebnispädagogik durch folgende Eigenschaften zu beschreiben (vgl. dazu Schad / Michl 2004, 23):
■ Sie findet in der Regel unter freiem Himmel statt.
■ Sie verwendet häufig die Natur als Lernfeld.
■ Sie hat eine hohe physische Handlungskomponente.
■ Sie setzt auf direkte Handlungskonsequenzen der verwendeten Aktivitäten.
■ Sie arbeitet mit Herausforderungen und subjektiven Grenzerfahrungen.
■ Sie benutzt als Medien eine Mixtur von klassischen Natursportarten, speziellen künstlichen Anlagen sowie eine Palette von Vertrauensübungen und Problemlösungsaufgaben.
■ Die Gruppe ist ein wichtiger Katalysator der Veränderung.
■ Das Erlebte wird reflektiert: Was wurde gelernt und wie wirkt es sich auf den persönlichen und beruflichen Alltag aus? Auf die Reflexion folgt der Transfer in den persönlichen und / oder schulischen und / oder beruflichen Alltag.
Erst wenn alle oder die meisten dieser Kriterien erfüllt sind, kann man von Erlebnispädagogik sprechen.
Inzwischen hat sich dieses Verständnis von Erlebnispädagogik auch durchgesetzt. Wenngleich es nicht zufrieden stellt, weil es nicht das Ziel, sondern nur den Weg in den Mittelpunkt stellt, so ist es doch das Bestmögliche. Relativ unverfänglich, aber letztlich zu allgemein sind die Bezeichnungen „Erfahrungslernen“ oder „handlungsorientierte Methoden“. Das Gleiche meinen die amerikanischen Experten, wenn sie von „Experiential Education“ reden. Dieses erlebnis- und handlungsorientierte Lernen dringt auch in Schule und Hochschule vor, in der Erwachsenenbildung ist es nicht mehr wegzudenken. Action Learning, Open Space, Problemorientiertes Lernen, Projektlernen, Zukunftswerkstatt, Rollenspiel und Improvisationstheater sind einige Zauberwörter dieses Ansatzes.
Ein Abenteuer ist ein Ereignis mit offenem Ausgang und wenig planbaren Hindernissen. Soweit als irgendwie möglich muss in der Erlebnispädagogik aber alles planbar bleiben, daher führt der Begriff „Abenteuerpädagogik“ auf eine falsche Fährte. Wir wissen aus der Praxis, dass zu oft Unplanbares eintritt, aber das darf man dann als Restrisiko der Erlebnispädagogik bezeichnen. „Nature never gets boring“, schrieb der Ethnologe Melvin Konner, als er die San („Buschleute“) Südafrikas erforschte. Natur und Wildnis werden nie beherrschbar sein, daher verzichten wir auf Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Wer sich zum ersten Mal von einem hohen Felsen abseilt, verspürt sicherlich Herzklopfen, Unsicherheit, mitunter lebensbedrohliche Ängste. Unter der fachlichen Leitung eines erfahrenen (und zertifizierten) Erlebnispädagogen kann diese Aktion aber sicherer als eine Fahrradtour durch eine Großstadt sein.
„Aktionspädagogik“, ein Begriff, der gelegentlich in der Fachliteratur auftauchte, fokussiert auf „Action“, auf Thrill, Risiko, Sport, Überwindung, Survival. Davon ist die Erlebnispädagogik meilenweit entfernt. Blickt man die letzten zwei Jahrzehnte zurück, so kann man zusammenfassen, dass die Entdeckung der Langsamkeit, der Einsamkeit, des Schweigens und Fastens, der Dunkelheit und Nacht, der schöpferischen Pause, des gemeinsamen Schweigens in der Höhle oder am Berggipfel ein wesentlicher Aspekt dieser handlungsorientierten Methode war. Die Aktion ist nur das sichtbare, spektakuläre Moment. Sie gehört zwar zur pädagogischen Dramaturgie, ist aber nicht höher zu bewerten als diese stillen, ruhigen, beschaulichen, nachdenklichen Phasen.
Abb. 4: Vektorenmodell der Erlebnispädagogik (in Anlehnung an Ebner, www.fh-ooe.at/fileadmin/user_upload/fhooe/studieren/akademie-fuer-weiterbildung/erlebnispaedagogik/allgemein/docs/fhooe-ep-detailinfos.pdf)
Also nehmen wir Erlebnispädagogik als gültigen und gängigen Begriff, denn es sollte immer darum gehen, dass wir Kinder und Jugendliche durch Erlebnisse innerlich bewegen. Und diese Erlebnisse, die emotionalen Ungleichgewichte, welche durch herausfordernde Situationen ausgelöst werden, sind dann Ausgangspunkte eines nachhaltigen Lernens. Die deutsche Sprache ist in diesem Punkt der englischen überlegen, denn es gibt keine überzeugende Übersetzung des Begriffes Erlebnis. Experience ist die Erfahrung, Adventure das Abenteuer. Wir sprechen von Erlebnispädagogik, die englischen und amerikanischen Wissenschaftler von „Adventure Education“ oder „Adventure Programming“. Werner Ebner, einer der Begründer der Erlebnispädagogik in Österreich, hat in einem „Vektorenmodell“ die Dimensionen der Erlebnispädagogik veranschaulicht (Abb. 3, S. 13).
Abb. 5: Erlebnis- und handlungsorientiertes Lernen – eine Übersicht
Die Modifikationen des erlebnis- und handlungsorientierten Lernens kann man bildlich als vierblättriges Kleeblatt darstellen (Abb. 4). Es setzt sich zusammen aus pädagogischen Disziplinen (erstes Blatt), von der klassischen Erlebnispädagogik über Ferien- und Freizeitpädagogik und Naturpädagogik, die Elemente des Survival enthält (Bach / Bach 2016), bis hin zur Sportpädagogik. Das zweite Blatt ist mit Selbsterfahrung und Therapie überschrieben. Dazu zählen das Solo (vgl. dazu Thoreau 1971), die Erlebnistherapie (Gilsdorf 2004), die Arbeit mit Ritualen und spirituelle Ansätze (Schödlbauer 2004; Muff / Engelhardt 2013) sowie die Visionssuche – die therapeutische Variante des Solo (Koch-Weser / v. Lüpke 2005): Aus der ein- bis dreitägigen Einsamkeit in der Natur, dem Solo, entwickelte sich seit dem Jahr 2000 die Visionssuche, die der Selbsterfahrung und therapeutischen Zwecken dienen soll. Auf dem dritten Blatt werden Weiterbildung und Firmentrainings gewürdigt, vom Outdoor-Training und Outdoor-Development-Training,