Empirische Methoden der Kommunikationswissenschaft. Heinz Pürer
Читать онлайн книгу.2) die Forderung nach systematischer Anwendung
3) eine festgelegte, in der Wissenschaft zustimmungsfähige Vorgehensweise
4) die Beantwortung einer oder mehrerer Forschungsfragen.
1) Das Postulat der Wissenschaftlichkeit beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Alltagsverstand. Eine sich sozialwissenschaftlich und empirisch verstehende Kommunikationswissenschaft will gültige Aussagen über Fragen zur sozialen Realität machen. Dies können z. B. Fragen nach den Ursachen für Wahlergebnisse durch Medienberichterstattung, nach Motiven des individuellen Fernsehkonsums oder nach den Themenstrukturen und -agenden von Tageszeitungen sein. All dies sind zunächst Fragen, mit denen sich Menschen auch »privat« befassen. Sie diskutieren das letzte Wahlergebnis, fragen, was die Freunde gestern im Fernsehen angeschaut oder ob sie heute schon die Zeitung gelesen haben. Worin liegt nun der Unterschied zwischen Alltagsverstand und wissenschaftlicher Betrachtung? Der sog. Alltagsverstand, die subjektive Meinung einer einzelnen Person, ist ein willkürlicher, partikularer Aspekt aus vielen ebenfalls existierenden Meinungen. Er hat zwar für die Person, vielleicht für eine Gruppe von Freunden (sog. Peergroups) Relevanz; keineswegs kann jedoch eine singuläre Meinung allgemein relevante Aussagen über »die Gesellschaft«, »den Fernsehzuschauer« oder »die Qualitätszeitungen« machen. Einzelne, spontan beobachtete Meinungen genügen dem Postulat der Wissenschaftlichkeit i. d. R. nicht (vgl. Brosius/Haas/ Koschel 2012, S. 7f). Wissenschaftliches Vorgehen erfordert einen systematischen Plan (s. Punkt 2), muss in allen Schritten transparent und dadurch intersubjektiv nachvollziehbar sein und nach Regeln erfolgen, die in der wissenschaftlichen Teildisziplin zustimmungsfähig sind (s. Punkt 3).
2) Die Forderung nach systematischer Anwendung einer Methode bedeutet, dass z. B. bei einer standardisierten (quantitativen) wissenschaftlichen Befragung nicht irgendwelche Fragen gestellt werden, die dem Interviewer spontan in den Sinn kommen, sondern dass systematisch aus Theorie und Forschungsstand hergeleitete und konsequent aufeinander folgende Fragen allen zu Befragenden in gleicher Weise gestellt werden. Nur so können bei der Auswertung die Antworten miteinander verglichen werden. Systematische Anwendung bedeutet bei einer wissenschaftlichen Befragung ebenfalls, dass nicht »irgendwer« befragt wird, sondern Personen, die systematisch ausgewählt wurden. Die Forderung nach Systematik ist demnach eine Forderung nach
• planvoller Entwicklung eines Erhebungsinstrumentes (z. B. eines Fragebogens),
• planvoller Auswahl der Untersuchungseinheiten (z. B. die Befragung von Münchner Studierenden),
• planvoller Durchführung der Erhebung (z. B. festgelegter Ablauf, Regeln über die Rahmenbedingungen),
• planvoller Analyse der Daten und der Ergebnisdarstellung.
All dies gilt selbstverständlich auch für wissenschaftliche Inhaltsanalysen, bei denen vom Forscher festgelegt werden muss, welche Medien und welche Beiträge der zu untersuchenden Fragestellung zufolge zu analysieren sind. Ebenso ist bei einer Beobachtung vorzugehen.
3) Dabei gilt stets, dass sich alle Schritte auf das Forschungsinteresse beziehen und im Forschungsbericht transparent gemacht werden müssen. Insofern gilt als weiteres Postulat die Befolgung einer festgelegten Vorgehensweise, die intersubjektiv nachvollziehbar und dadurch fachlich zustimmungsfähig wird. Wieder am Beispiel der Befragung dargestellt heißt dies, dass etwa die Fragen eines Fragebogens nur dann sinnvoll konzipiert werden können, wenn man zuvor die Aufgabenstellung und Zielsetzung der geplanten wissenschaftlichen Studie genau definiert (vgl. Kap. 1.2).
4) Eine wesentliche Voraussetzung allen Forschens ist die gesellschaftliche Relevanz des Themas. Die Kommunikationswissenschaft entwickelt entweder eigene Fragestellungen, die der Gesellschaft relevantes Wissen bereit stellen können (z. B. indem sie etwas zu Problemlösungen beitragen), oder bearbeitet Themen, die entweder Teil der öffentlichen Diskussion sind oder die als gesellschaftlich relevante Themen von einem Auftraggeber zur wissenschaftlichen Analyse vergeben werden. Die belastbare Beantwortung solcher Fragestellungen ist der einfachste Nenner, wissenschaftliches Forschen zu beschreiben. Egal, mit welcher Methode man seine Frage beantworten möchte: Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozess folgt letztlich immer einer (möglichst sparsamen) Struktur (vgl. Kap. 1.2).
Aussagen der quantitativ ausgerichteten empirischen Sozialforschung sind letztendlich immer probabilistischer Natur: Man kann nicht von Gesetzmäßigkeiten sprechen (z. B. dass Fernsehgewalt auf alle Menschen gleich wirkt), sondern nur von bestimmten Wahrscheinlichkeiten, unter denen Ursache-Wirkungs-Beziehungen gelten: »Wenn Rezipienten relativ viel gewalthaltige Medieninhalte nutzen, ist die Chance, dass sie danach selbst aggressiver sind, […] größer als bei solchen Rezipienten, die wenig Gewalt sehen« (Brosius et al. 2012, S. 9f). So individuell wie die Menschen sind, die untersucht werden, so variantenreich werden auch die Datensätze, die in der Sozialwissenschaft erhoben werden. Probabilistische Forschung produziert daher immer Aussagen mit Varianz: Unter bestimmten Bedingungen reagieren bestimmte Personen auf Gewaltdarstellungen in den Medien stärker als andere. »Es mag Menschen geben, die von Gewaltdarstellungen im Fernsehen überhaupt nicht beeinflusst werden, und es mag jene geben, die im Sinne einer Nachahmung aggressiv reagieren«. Diese Varianz »geht letztlich auf den Untersuchungsgegenstand, mit dem man sich vorwiegend beschäftigt, zurück: den Menschen. Menschen sind komplex organisiert […]« (ebd., S. 10). Ideal und »Ziel bleibt natürlich die Annäherung an nomothetische [gesetzmäßige] Aussagen, also starke Zusammenhänge zu finden, die mit großer Wahrscheinlichkeit zutreffen« (ebd.).
Woran kann man erkennen, ob die Ergebnisse einer Untersuchung belastbar sind? In der quantitativen Forschung wird die Güte der Untersuchungsergebnisse an der Reliabilität sowie Validität einer Messung bewertet:
Die Reliabilität bezeichnet die Zuverlässigkeit der Messung bzw. des Messinstruments: Wiederholt man den Messvorgang am gleichen Messobjekt, ohne dass sich dieses in der Zwischenzeit verändert hat, sollte man dasselbe Ergebnis erhalten – und zwar unabhängig vom Messenden; außerdem sollte das Messinstrument möglichst robust gegen unbewusste und bewusste Einflüsse des Untersuchten sein. Ein gutes Beispiel für ein reliables Messinstrument ist ein Metermaß: Die Messung eines ausgewachsenen Menschen mittels Metermaß an zwei aufeinanderfolgenden Tagen sollte – jeweils zum selben Zeitpunkt des Tages korrekt ausgeführt – identische Ergebnisse erzielen.
Eine Messung muss außerdem gültig (»valide«) sein. Das ist sie, wenn sie genau das misst, was gemessen werden soll. Um beim Beispiel zu bleiben: Ein Meterstab ermöglicht eine valide Messung der physischen Größe eines Menschen, wenn darauf die Längenabstände korrekt abgebildet sind. Validität bezieht sich also auf die inhaltliche Richtigkeit sowie sachlogische Gültigkeit. Die Methodenliteratur (vgl. z. B. Brosius et al. 2012, S. 54f; Schnell/Hill/Esser 2011, S. 146ff) unterscheidet drei Arten von Validität: 1) Inhaltsvalidität (Stehen die erhobenen Merkmale tatsächlich für das in Frage stehende Konstrukt? Besteht Intelligenz also tatsächlich aus emotionaler, mathematischer und sprachlicher Fähigkeit? Und misst mein Verfahren genau diese Fähigkeiten?); 2) Kriteriumsvalidität (Sind die erhobenen Daten im Vergleich zu einem anderen Messkriterium gültig? Man könnte das Resultat des Intelligenztests eines Schülers z. B. mit dem Urteil seines Lehrers (= Kriterium) abgleichen); 3) Konstruktvalidität (Sind alle relevanten Aspekte des zu messenden Gegenstands vollständig erfasst? Erfasst also ein Intelligenztest, der emotionale, mathematische und sprachliche Fähigkeiten erhebt, tatsächlich alle Aspekte des Konstrukts »Intelligenz« oder gibt es Aspekte, die fehlen [z. B. räumlich-visuelle Fähigkeit]?).
Die beschriebenen Postulate und Gütekriterien leiten den gesamten Forschungsprozess an. Sie sind die unabdingbaren Grundlagen und Rahmenbedingungen für alle Entscheidungen, die der Forscher während eines Forschungsprojekts treffen muss. Im Folgenden soll der Prozess für Forschungsprojekte, die dem quantitativen Paradigma folgen, detaillierter beschrieben werden.
1.2 Der Forschungsablauf im Überblick