Empirische Methoden der Kommunikationswissenschaft. Heinz Pürer
Читать онлайн книгу.1 sind die einzelnen Schritte des wissenschaftlichen Forschungsablaufes im quantitativen Paradigma in groben Zügen dargestellt (vgl. z. B. Schnell et al. 2011, S. 3ff; Brosius et al. 2012, S. 14ff). In der Praxis laufen die einzelnen Stufen häufig zeitlich nebeneinander ab und stellen sich wesentlich differenzierter dar als in diesem schematischen Überblick. Das Prinzip jedoch ist letztlich immer dasselbe:
Zunächst muss ein gesellschaftlich relevantes Problem in eine wissenschaftliche Fragestellung überführt werden (Stufen 1 und 2), denn sie ist später die Voraussetzung für eine systematische Ergebnisdarstellung. Genauso wichtig sind eine präzise Definition der relevanten Begriffe (z. B. »Gewalt«) und ihre Einordnung in das vorhandene theoretische Wissen über sie (Stufen 3 und 4). Der Forscher greift also auf Theorien und Ansätze der Kommunikationswissenschaft und erforderlichenfalls einschlägiger Nachbarwissenschaften zurück, um seinen Untersuchungsgegenstand wissenschaftlich einzuordnen. In dieser Phase der theoretischen Aufbereitung kristallisiert sich bereits die Wahl der besten Methode heraus (Stufe 5), mit der an ausgewähltem Untersuchungsmaterial die theoretisch begründete Fragestellung empirisch überprüft werden soll. Es kann vorkommen, dass zwei oder mehrere Methoden angewendet werden müssen, um eine Forschungsfrage zu beantworten. Von der Forschungsfrage hängt ebenfalls ab, ob man eine Vollerhebung durchführen kann oder (falls die Grundgesamtheit zu groß ist) auf welches Auswahlverfahren (Stufe 7) zurückgegriffen werden muss, um eine sinnvolle Stichprobe für die Untersuchung zu erhalten. Nachdem die Erhebungsinstrumente (Stufe 6) – also ein Fragebogen, ein Codebuch (Inhaltsanalyse) oder ein Beobachtungsschema – entwickelt und vor der eigentlichen Untersuchung getestet wurden sowie eine Stichprobe gezogen wurde, kann die Feldphase beginnen (Stufe 8). Hierunter versteht man bei einer Befragung die Durchführung der Interviews, bei einer Inhaltsanalyse die Codierung – das ist die systematische Erfassung bestimmter Merkmale von Texten mithilfe eines Codebuchs – und bei der wissenschaftlichen Beobachtung die Erhebung von Verhalten, z. B. das Umschaltverhalten von Fernsehzuschauern mittels elektronischem Messgerät, dem GfK-Meter (vgl. Springer/ Bilandžić/Pürer 2014). In der Feldphase erhebt der Forscher mit seinen Mitarbeitern demnach die Daten, die später in der Datenanalyse (Stufe 9) mit adäquaten statistischen Verfahren ausgewertet werden. Entscheidend ist, dass die Forschungsergebnisse in der abschließenden Darstellung – einem Forschungsbericht, einem wissenschaftlichen Aufsatz oder einer Abschlussarbeit – auf das relevante Problem und die dahinter liegende Theorie rückbezogen werden.
Jeder dieser Vorgänge und jede Entscheidung, die im Laufe des Forschungsprozesses getroffen wurde, muss im anschließenden Bericht begründet und transparent gemacht werden, um für den Leser intersubjektive Nachvollziehbarkeit herzustellen.
Abb. 1: Der wissenschaftliche Forschungsablauf im Überblick
Die Ergebnisse angewandter Kommunikationsforschung können in aller Regel zwar immer nur einen kleinen Teil zu Problemlösungen in der Gesellschaft beitragen. Wissenschaft kann in diesem begrenzten Rahmen jedoch helfen, z. B. mit Vorurteilen aufzuräumen und die öffentliche Diskussion etwa zum Thema »Mediengewalt« zu versachlichen. Aufgabe der Wissenschaft ist es, 1) auf Grund eines allgemein nachvollziehbaren, transparenten Vorgehens, 2) der systematischen Bearbeitung der einzelnen Schritte und 3) einer begründeten Auswahl der Untersuchungseinheiten Ergebnisse zu liefern, die eine allgemeinere Gültigkeit besitzen als eine individuell-subjektive Einschätzung zu einem Thema durch eine beliebige einzelne Person oder durch die Betrachtung eines beliebigen einzelnen Falls. Dabei muss die Betrachtung eines Einzelfalls nicht zwangsläufig unwissenschaftlich sein. Insbesondere die qualitative Forschung untersucht weniger »Fälle« in großer Tiefe und leitet hieraus Beschreibungen und Deutungen für zu Grunde liegende Phänomene ab (vgl. Kap. 2). Auf Basis dieser oft reichhaltigen Beschreibungen lassen sich jedoch keine statistisch-repräsentativen Aussagen ableiten. Die quantitative Forschung ermöglicht das durch die Logik des Auswahlverfahrens.
1.3 Auswahlverfahren
Ähnlich wie in den anderen Sozialwissenschaften hat man es auch in der empirischen Kommunikationsforschung bei vielen Studien mit dem Problem großer Grundgesamtheiten zu tun. Das gilt für alle Lehr- und Forschungsfelder des Faches: Es wäre z. B. viel zu zeit- und kostenaufwändig, alle rund 48.000 hauptberuflich tätigen Journalisten Deutschlands nach ihrem Berufsverständnis zu befragen (Kommunikatorforschung). Auch erscheint es unmöglich, alle bundesdeutschen Zeitungen mit ihren rund 1.500 Ausgaben über einen bestimmten Zeitraum auf sämtliche Inhalte hin zu untersuchen (Medieninhaltsforschung). Vor ähnlichen Problemen steht der Forscher, wenn er die Strukturen aller in Deutschland vorhandenen Medienbetriebe (Print, Rundfunk, Online) beschreiben möchte (Medienstrukturforschung) oder die bundesdeutsche Bevölkerung zu ihrem Mediennutzungsverhalten befragen will (Mediennutzungsforschung). Und erst recht ist es ausgeschlossen, allen in Deutschland beobachtbaren individuellen und sozialen Folgen (Wirkungen) der Medienberichterstattung auf den Grund zu gehen. Immer müssen in der empirischen Sozialforschung, wenn man große Grundgesamtheiten untersuchen will, statistische Verfahren zur Anwendung gelangen, mit deren Hilfe es möglich ist, von einer relativ kleinen Auswahl (Stichprobe) auf die Grundgesamtheit zu schließen (vgl. Brosius et al. 2012, S. 57–78).
Wer z. B. Aussagen über die wahlberechtigte Bevölkerung Deutschlands machen möchte, legt damit eine Grundgesamtheit (auch: Population) fest. In Abhängigkeit vom Forschungsinteresse wird also definiert, über welche Population eine wissenschaftliche Aussage gemacht werden soll. Eine Grundgesamtheit kann – etwa im Falle der Bevölkerung Deutschlands – sehr groß sein, kann sich aber auch auf zeitlich und räumlich enger umgrenzte »Elemente« beschränken, wie z. B. eine Schulklasse in einem bestimmten Schuljahr. Wenn eine Inhaltsanalyse durchgeführt werden soll (vgl. Kap. 3.2), schöpft man die zu untersuchenden Texte oder Fernsehausschnitte ebenfalls aus einer definierten Grundgesamtheit, z. B. alle Ausgaben einer Tageszeitung aus einem bestimmten Zeitabschnitt. Damit ist bereits angedeutet, dass der Forscher – wiederum in Abhängigkeit vom Forschungsgegenstand – entweder die komplette Grundgesamtheit oder nur Teile aus ihr befragen, beobachten oder inhaltsanalytisch untersuchen kann. Man spricht deshalb auch von Voll- oder Teilerhebungen. Im Falle der seit 1964 regelmäßig erhobenen »Langzeitstudie Massenkommunikation« handelt es sich z. B. um eine Teilerhebung. Man befragt nur einen kleinen Ausschnitt der gesamten Bevölkerung (hier im Jahr 2015: 4.692 Personen) und überträgt die Ergebnisse aus dieser Stichprobe auf die Grundgesamtheit (vgl. Engel 2015). Wenn man dann z. B. in dieser Stichprobe ermittelt, dass die Befragten durchschnittlich rund dreieinhalb Stunden am Tag fernsehen, schließt man auf das Fernsehnutzungsverhalten der Bevölkerung insgesamt. Diese Aussage ist nur dann erlaubt, wenn die Stichprobe ein verkleinertes, strukturgleiches Abbild einer Grundgesamtheit ist.
Warum nun ist ein Repräsentationsschluss von der Stichprobe auf die Gesamtpopulation zulässig? Möglich wird dies durch die Logik des Auswahlverfahrens: Für eine repräsentative Bevölkerungsumfrage wird die Stichprobe i. d. R. mittels Zufallsauswahl gezogen. Von einer Zufallsstichprobe spricht man, wenn jedes Element der Grundgesamtheit dieselbe Chance hat, in eine Stichprobe aufgenommen zu werden. Nur dann darf man im statistisch korrekten Sinn Ergebnisse einer Teilmenge auf die Gesamtpopulation übertragen. Durch das Zufallsprinzip bei der Auswahl nähert sich die Struktur der Stichprobe derjenigen der Grundgesamtheit an. Natürlich kann es bei derartigen Ziehungen auch Abweichungen geben, etwa dass Frauen im Verhältnis zu ihrer tatsächlichen Verteilung in der Bevölkerung unter- oder überrepräsentiert in der Stichprobe auftauchen. Diese Abweichung sinkt jedoch mit der Größe der Stichprobe: Auf Grund des Gesetzes der Großen Zahl kann man davon ausgehen, dass die Ergebnisse einer Stichprobe (z. B. Mittelwerte oder Verteilungen) mit vielen Elementen mit hoher Wahrscheinlichkeit nahe am wahren Wert, also der tatsächlichen Verteilung in einer gegebenen Grundgesamtheit, liegen. Eine Stichprobe muss also ausreichend groß gewählt werden, um sich seiner Schätzung sicher zu sein. Fällt die Stichprobe zu klein aus, ist die Möglichkeit, einen »falschen« – d. h. einen vom wahren Wert abweichenden – Wert