Die NATO. Falk Ostermann
Читать онлайн книгу.wurden die bereits oben genannten institutionellen Schritte umgesetzt (s. 2.3). In Anbetracht der starken und einheitlich organisierten sowjetischen Militärpräsenz östlich der Elbe war aber vor allem der Aufbau einer echten militärischen Verteidigungsfähigkeit zentral. Amerikanische Waffenlieferungen (und natürlich der Marshall-PlanMarshall-Plan) bildeten bereits seit 1950 einen materielleMaterialismusn Anfang, der in Anbetracht des durch den Krieg zerstörten Europas enorm wichtig war (Ismay 1955, 24). Die USA verlegten bis 1952 400.000 US-amerikanische Soldat*innen nach Westeuropa (Ismay 1955, 40). Wichtig waren ebenfalls ein Voranschreiten bei der gemeinsamen VerteidigungsplanungVerteidigungsplanung, der Etablierung gemeinsamer Prozeduren, einer Kommandokette und einer militärischen Strategie (Ismay 1955, Kap. 2; NATO 1949b, 6, Art. 8). Dies stellte eine enorme Hürde dar, weil große Uneinigkeit über den Verlauf der Verteidigungslinien bestand (weiter im Osten und somit schwerer zu verteidigen oder tiefer im Westen?) – eine Frage, die durch den Beitritt der BRD im Jahr 1955 noch zentraler wurde, da die Strategiewahl das bundesdeutsche Territorium als Kriegsschauplatz direkt betraf (Kaplan 1984, 142ff.). Letztlich ist in einer Allianz die Entwicklung einer Strategie immer ein Ausgleich zwischen den Interessen aller Mitglieder (Strachan 2005, 40).
Die strategischen Konzeptestrategische Konzepte der Jahre 1949 und 1952 setzten wegen der Realität sowjetischer konventioneller Überlegenheit auf die Garantie nuklearer AbschreckungAbschreckung (nuklear) durch die USA. Das Konzept vom 1. Dezember 1949 (DC 6/1) stellt daher zu Beginn der Auflistung der militärischen Maßnahmen klar, dass Verteidigungspläne „die Fähigkeit zu strategischen Bombardements mit allen möglichen Mitteln und allen Waffentypen, ohne Ausnahme, garantieren“ müssen (NATO 1949c, 5, Art. 7a).1 Die europäischen Mitgliedstaaten sollten konventionelle Mittel bereitstellen, bis Hilfe aus den USA und Kanada eintreffen konnte (ibid., Art. 7b). Des Weiteren seien die USA und das Vereinigte Königreich für die Sicherung der transatlantischen Luft-, Schifffahrts- und Kommunikationslinien verantwortlich, während die anderen Partner ihre Häfen oder Luftbasen und andere Infrastruktureinrichtungen schützen müssten (ibid., Art. 7d, e). Die zahlenmäßige, konventionelle Unterlegenheit sollte durch technischen Fortschritt der alliierten Kräfte ausgeglichen werden. Fünf regionale Planungsgruppen (USA, Kanada, Nordatlantik, Westeuropa, Nordeuropa, Südeuropa und westliches Mittelmeer) arbeiteten für ihre Bereiche Streitkräfteplanungen aus. Dies war bei allen Mängeln ein Fortschritt gegenüber individuellen oder nur durch die USA verantworteten Plänen (Kaplan 1984, 142f.; Pedlow 1997, XIff.). Teil dieser Pläne war im zunehmenden Maße das Konzept der Forward DefenceForward DefenceVorneverteidigung (VorneverteidigungVorneverteidigung, später auch Vorwärtsverteidigung), wonach die Staaten der drei kontinentaleuropäischen Planungsregionen versuchen sollten, sowjetische Angriffe so weit wie möglich im Osten aufzuhalten oder zu verzögern, um die Zeit bis zum Eintreffen weiterer Truppen von Westen her zu überbrücken und der Luftverteidigung Zeit zu geben, der Sowjetunion empfindliche Schäden zuzufügen (s. Abb. 7). Allerdings kam das Prinzip der VorneverteidigungVorneverteidigung erst mit dem Beitritt der BRD zur NATO und dem darauffolgenden Aufbau der BundeswehrBundeswehr zur Geltung, da die neuen westdeutschen Streitkräfte hierbei eine zentrale Rolle spielten. Bis dahin konzentrierten sich die alliierten Planungen stärker auf weiter westlich gelegene Verteidigungslinien, die militärisch mit den vorhandenen Kräften der westeuropäischen Bündnismitglieder besser haltbar waren (Kugler 1991, 112f.; NATO 2013).
Vorwärtsverteidigung 1960 (Grafik 05181-08; Quelle: ZMSBw (o. J.)).
Um die Strategie des ersten Konzepts von 1949 umzusetzen, plante die NATO für 1954 mit 90 Divisionen, ca. 8.000 Kampfflugzeugen, 2.300 Schiffen und 3.200 Marinefliegern (Ismay 1955, Kap. 9; Pedlow 1997, XIV). Diese Zahlen sollte die NATO allerdings nie erreichen. Im Mai 1950 konnten die NATO-Alliierten gemeinsam nur ca. 14 stehende Divisionen (d.h. sofort verfügbare, ohne Mobilisierung von Reservisten) und weniger als 1.000 Kampfflugzeuge in Westeuropa aufbieten, denen direkt 25 sowjetische Divisionen in Ostdeutschland (weitere 60-75 weiter im Osten) und 6.000 Flugzeuge unter einheitlichem Kommando gegenüberstanden (Ismay 1955, 29, Annex B; Bitzinger 1989, 4f.). 1959 verfügte die NATO in Westeuropa über ca. 644.000 Soldaten (ca. 17 Divisionsäquivalente), 2.300 Panzer und 1.800 Jäger, denen 1.530.000 Soldaten des Warschauer PaktWarschauer Pakts, 23.000 Panzer, und 4.000 Jäger gegenüberstanden (Kugler 1990, 102; 1991, 127, 131f.). An diesem grundsätzlichen Ungleichgewicht sollte sich lange nichts ändern (Canby 1972). Im Jahr 1974 weist die NATO die Existenz von 27 Divisionen aus, denen 43-58 Divisionen des Warschauer PaktWarschauer Pakts in Mitteleuropa gegenüberstanden (NATO o. J.-b; ähnlich Bitzinger 1989, 26; Kugler 1991, viii). Diese Zahlen verdeutlichen, wie groß die Bedeutung der nuklearen AbschreckungAbschreckung (nuklear) in der Verteidigungsstrategie der Allianz war (Kaplan 1984, 142f.). Durch ihre Existenz sollte schon der gegnerische Gedanke an einen konventionellen Krieg als zu teuer und gefährlich erscheinen.2
Das Strategische Konzept vom 3. Dezember 1952 enthielt wenig substantielle Änderungen. Es zementierte die 1949 etablierten Verteidigungsstrategien und spiegelte im Wesentlichen die Konsequenzen aus dem Beitritt Griechenlands und der Türkei am 18. Februar desselben Jahres wider, die das zu verteidigende Territorium der Allianz veränderten und praktisch über das gesamte Mittelmeer ausdehnten. Eine Überarbeitung wurde aber als notwendig angesehen, weil sich in der Zwischenzeit mit der Einführung des alliierten Oberbefehlshabers – des SACEURSACEUR in erster Besetzung durch Dwight D. EisenhowerEisenhower, Dwight D. – und des NATO-GeneralsekretGeneralsekretär/ -sekretariatärs die Planungsstrukturen erheblich verändert hatten. Mit der Einführung des SACEURSACEUR wurden die Streitkräfte der Mitgliedstaaten unter ein einheitliches Kommando gestellt. Dies verbesserte die notwendigen Planungs- und Angleichungsprozesse sowie die Kampfkraft der Alliierten erheblich (Ismay 1955, 35f.). Bedeutender als die leichten Veränderungen am Strategischen Konzept stuft Pedlow die Anpassungen der Strategischen Richtlinien (Strategic Guidelines) ein, die das Konzept erläutern und operationalisieren. Die Strategic Guidelines ziehen aus der Betrachtung der weit hinter Plan liegenden konventionellen Kräfte den Schluss, dass die Rolle der nuklearen AbschreckungAbschreckung (nuklear) nach wie vor zentral sei, zumal der Warschauer PaktWarschauer Pakt im Kriegsfall mehr Soldaten mobilisieren kann als die Atlantische Allianz (NATO 1952, 9ff.; Pedlow 1997, 12ff.). Somit waren konventionelle Aufrüstung als auch technologische Fortentwicklung der nuklearen KapazitätenKapazitäten (militärische) wichtige Ziele des Bündnisses, und die NATO sah dies gleichzeitig als Sicherung des FriedenFriedens und Versicherung für den Kriegsfall (NATO 1952, 6). Vor diesem Hintergrund basierte ein nicht zu unterschätzender Teil der NATO-Strategie auf der Androhung und im Zweifelsfall auch der Nutzung von NuklearwaffenAtomwaffen, um eventuelle sowjetische Vorstöße aufhalten zu können (s. 3.4).
Exkurs: Die Suezkrise oder das Versagen alliierter Solidarität
Der NordatlantikvertragNordatlantikvertrag zielte nichtSuez(krise) nur auf die Errichtung einer gemeinsamen Verteidigung, sondern er sah sowohl im Geiste als auch im Text (Art. 2, 4) vor, dass sich die Alliierten in grundlegenden Fragen der Außenpolitik konsultieren sollten. Er etablierte eine NormNormen der Zusammenarbeit (Risse-Kappen 1996, 379ff.). Diese Vereinbarungen haben im Falle der sogenannten SuezSuez(krise)krise (Oktober 1956 bis März 1957) noch nicht gut funktioniert.
Der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser hatte durch die Verstaatlichung der britisch-französischen SuezSuez(krise)kanalgesellschaft, die den Verkehr durch den Kanal zwischen Rotem Meer und Mittelmeer regelte und Gebühren für die Abgeltung der Baukosten einnahm, eine Intervention israelischer, französischer und britischer Streitkräfte ausgelöst. Während Nasser Ägypten aus dem Einflussbereich Großbritanniens entfernen und Gelder für den Bau des Assuan-Staudamms einnehmen wollte, hatte der Kanal für Frankreich und Großbritannien geostrategische und wirtschaftliche Bedeutung. Israel bemühte sich darum, die Oberhand im Konflikt mit der arabischen Welt und den Palästinenser*innen zu gewinnen und sich durch die Intervention auf der Sinai-Halbinsel geostrategisch zu entlasten (Combs 2012, 241f.; Moharram 1999, 197, 208ff.).
Durch die Annäherung Nassers an die Sowjetunion hatten die SuezSuez(krise)krise und der gesamte NahostkonfliktNahostkonflikt/ Naher Osten geopolitische Züge (Orlow 1999). Da die NATO-Alliierten durch Frankreich und Großbritannien allerdings nicht konsultiert worden waren, bevor sie militärisch losschlugen,