Tatort Nordsee. Sandra Dünschede
Читать онлайн книгу.rosa an und geriet beinahe in Rage.
»Nun mal halb lang. Du steigerst dich schon wieder in Vergleiche, die nicht mit unserem Deich zusammenpassen. Was können wir tun? Wir müssen unsere Beweisstücke glaubhaft vorbringen …«
»Was hältst du davon«, schlug Wiard vor und unterbrach seinen Satz, um seine Tasse Tee in einem Zug zu leeren, »wenn wir, zusammen mit Lübbert Sieken, zu unserem Deich, zur Ostkrümmung, gehen und uns gemeinsam ein Bild machen? Und – im wahrsten Sinne des Wortes – Bilder machen, die jeden überzeugen werden?«
»Genau daran habe ich heute schon einmal gedacht. Dann müssen wir über den neuen Zaun.«
»Na, noch wirst du das wohl schaffen, alter Mann«, lachte Wiard. »Lass uns das mit eigenen Augen sehen, damit wir das auch unumwunden glauben können.«
August spürte, dass Wiard ganz bewusst ›unseren Deich‹ und ›uns zusammen‹ gesagt hatte. Offenbar wollte Wiard jetzt alles tun, um August auf seine Seite zu ziehen. Ihm kam der Gedanke, dass Wiard ganz politisch vorging. August war im Polder geachtet, er kannte so gut wie jeden, hatte für die meisten immer ein nettes Wort parat, hatte gute Freunde gewonnen, und diejenigen, mit denen er nicht so recht warm wurde, hielt er auf Distanz. Das machte er nicht bewusst, es war schlicht sein Naturell, seine Persönlichkeit und wohl auch die Überzeugung, dass es grundsätzlich keine Unterschiede zwischen den Menschen gab – daher nahm er alle so hin, wie sie waren. Und dass sie sich alle unterschieden, war gut so, denn das Leben wäre »verdammt langweilig, wenn alle dasselbe denken, sagen und tun würden«, pflegte August zu unterstreichen. Erstaunlicherweise stimmten ihm alle zu. August wunderte sich dann, denn nur wenige Minuten später konnte das Gespräch über Abwesende oder solche, die anders redeten als die Mehrheit, schon wieder losgehen, und da wurde nicht immer nur Nettes gesagt. Da er sich daran nicht beteiligte, dies manchmal unbewusst, manchmal ganz bewusst nicht tat, bekam er auch nicht immer alles mit. Dies mochte hier und da von Nachteil sein, was ihm aber letztlich egal war. Wichtig war ihm, dass die Neutralität gegenüber allen gewahrt blieb. Damit blieb von August das Bild eines integren, freundlichen Mannes, dem alle im Polder glaubten, dass er vor allem für das Wohl seiner Familie und seines Hofes, aber auch für das des Polders insgesamt arbeitete und lebte. Deshalb war er schließlich bei der Feuerwehr, im Sportverein und sogar im Shantychor des Nachbarortes. Er machte bei allem mit, was dem Polderleben zuträglich war, etwa bei der Organisation der letzten gemeinschaftlichen Müllentsorgungsaktion.
August war sich nach diesen Überlegungen sicher, dass Wiard ihn gerade deshalb auf seiner Seite haben wollte – er war vielleicht einer derjenigen, der die Polderbewohner überzeugen konnte, dass der Deich nicht in Ordnung war. Wiard wusste schließlich, dass er selbst, oder auch Lübbert Sieken, kaum eine Chance hätte. August könnte den ganzen Polder bewegen, na, fast den ganzen. Er könnte ihre Bedenken in Worte fassen, sie vortragen, und alle würden ihm zuhören. Ihm schon.
17
Am darauffolgenden Tag war Lübbert Sieken durch eine Magen-Darm-Grippe ans Bett gebunden. (»Bin ständig auf der Latrine.«) Zwei Tage später kam er per Fahrrad bei August vorbei und teilte ihm mit, am Nachmittag könnten er und Wiard, wenn sie Zeit hätten, zu ihm kommen, die Därme arbeiteten wieder halbwegs normal, und er habe Zeit, zur Ostkrümmung zu gehen.
Am Morgen war es schon recht windig gewesen, der Nachmittag gestaltete sich zunehmend stürmisch, als August Wiard mit dem Auto abholte. Sie fuhren zu Lübbert Sieken, auch wenn es kein weiter Weg war, aber der Wind brachte manchen starken Regenschauer mit. Sie hatten keine große Lust, schon vor der Ankunft bei Lübbert durchnässt zu sein. Sie hatten Blaumänner an, aber trotzdem beschlossen, Regenjacken überzuziehen. Wiard war vollständig in Regenzeug eingepackt. Zwar würde sich derjenige, der sie am Deich sah, ohnehin wundern, dass sie arbeiteten und nicht auf Schlechtwetter machten, aber das konnte man – solange es Unbekannte waren – ohne Probleme mit dem steigenden Druck auf dem Arbeitsmarkt begründen, der erforderte, dass man sich hervortat. In Zeiten zunehmenden Wettbewerbs in allen Gesellschaftsbereichen würden das die meisten akzeptieren und für richtig befinden, warum nicht arbeiten, nur weil es ein wenig regnete und stürmte? Und die Gewerkschaft würde hier draußen schon nicht so schnell auf der Matte stehen, schon gar nicht bei solchem Wetter. August stellte den Scheibenwischer auf die höchste Stufe.
»Moin«, Lübbert öffnete die Tür, an der laut vernehmbar geklopft worden war.
»Moin«, erwiderten die beiden anderen unisono und duckten sich instinktiv, da eine Bö um die Hausecke schlug.
»Lasst uns mal gleich losgehen. Die Wettervorhersage ist nicht so berauschend, und besser wird es nicht, so viel ist sicher. Und – falls ihr es noch nicht bemerkt haben solltet – es ist schon miserabel genug, Schietwedder.« Lübbert lachte sie verschmitzt an, und Wiard und August sahen für einen Moment wie die verdutzten Badegäste aus dem Binnenland aus, denen man am Strand von Juist den Rat gibt, heute nicht auf die Wasserkante zu treten (und auf die Frage »Warum denn nicht?« antwortet: »Dann könnte der Strand unterspült werden.«).
»Wir werden wohl einiges abbekommen. Aber vielleicht ist das ganz gut so, es werden kaum Leute vor Ort sein. Die können sich dann auch nicht vor dir erschrecken, Wiard. Wären deine Regenklamotten weiß, würde ich denken, der Yeti steht vor mir«, rief August mehr, als dass er es sagte. Der Wind heulte in Schüben gewaltig.
»Vielleicht ist Yeti-Sein gar nicht so schlecht. Obwohl – der lebt in den Bergen … Jedenfalls ist das Wetter auf unserer Seite«, bestätigte ihn Wiard. »Da können wir mal in aller Ruhe den Deich begucken. Außerdem wird das Hochwasser auch ein wenig über Normal auflaufen. Vielleicht ist das gleich ein interessanter Aspekt.«
»Nee wat, glaub ich kaum«, mutmaßte Lübbert, »so stark ist der Wind nun auch wieder nicht, und ein paar Plätscherchen wird der Deich schon noch aushalten.«
»Na, wir werden sehen«, mischte sich August ein, »nun mal los, ich will spätestens um 18 Uhr wieder zu Hause sein.«
Es war jetzt 15 Uhr. Die Erwähnung Wiards, dass eigentlich Teezeit sei, hatte Lübbert mit der Bemerkung abgetan, sie sollten jetzt lieber gehen, er hätte sich ja eine Thermoskanne mitnehmen können, zum Picknick am Deich sei das Wetter andererseits wohl kaum geeignet.
Die drei Männer erreichten schnell den neuen Zaun am Deich und entdeckten, dass kurz nach einer Biegung noch eine Baulücke bestand. Also betraten sie den Deich gänzlich ohne akrobatische Kletterkünste – allerdings auch ohne Genehmigung. Wenn das Redenius erfährt, ging es August durch den Kopf.
Oben auf der Deichkrone pfiff ihnen ein ordentlicher Nordwest ins Gesicht. Zudem näherten sich dunkle Wolken und kündigten aus der Ferne neuen starken Regen an.
»Wie sollen wir’s nun machen?«, fragte Lübbert die beiden anderen.
»Wir sollten uns aufteilen. August geht Richtung Ost, du gehst Richtung West, und ich schaue mir den Außendeichfuß genau an, vielleicht auch ein bisschen den Heller.« Wiard übernahm die Leitung der Expedition.
»Von mir aus ist das o. k.«, erklärte August sich einverstanden, und Lübbert fügte sich, leicht die Schultern zuckend, ohne weitere Worte.
So gingen die drei Männer, kaum dass sie auf dem Deich waren, auseinander, und jeder überlegte sich, wie er sich in kurzer Zeit einen möglichst systematischen Überblick über die Ostkrümmung verschaffen konnte. Die dunklen Wolken waren indes wesentlich schneller angekommen als erwartet. Es schlug ihnen bei einem heftiger werdenden Nordwest starker Regen entgegen.
August wanderte zunächst etwa 15 Minuten Richtung Ost, oben auf der Deichkrone. Anschließend wollte er im Zickzackkurs an der Außenseite des Deiches zurückgehen in der Hoffnung, zufällig auf Besonderheiten zu stoßen. Wiard lief unten am Deichfuß, sodass, wenn der Wind nicht allzu sehr pfiff, eine Unterhaltung möglich war.
»Stell mal den Regen ab!«, rief August Wiard zu.
Der lachte zurück und entgegnete, mit wesentlich weniger Anstrengung, da er mit dem Wind sprach: »Stell du dich mal nicht so an – das bisschen Regen. Du weißt doch, es gibt kein schlechtes Wetter, nur die falsche Kleidung.«
Die