Tatort Nordsee. Sandra Dünschede
Читать онлайн книгу.Zufällig hatte sie Lübbert Sieken getroffen, der nicht weit von hier in einem kleinen Haus lebte, mit einem Hund, einer Katze und zwei Schafen. Siekens Frau war vor drei Jahren an Krebs gestorben, dieser »gottverdammten und völlig nutzlosen Seuche«, wie Sieken seitdem nicht ohne Verbitterung sagte. Er war, nach einer Phase, in der alle überzeugt gewesen waren, dass er nun endgültig dem Alkohol verfallen würde, vor dessen krankhaften Folgen ihn bis dahin wahrscheinlich nur seine Frau weitgehend abhalten konnte, vor anderthalb Jahren von einem Tag auf den anderen aus seiner Lethargie erwacht und hatte sich daran gemacht, aus seinem Haus und dem Grundstück ein kleines Schmuckstück zu zaubern. Das war sein neues Lebensziel geworden. Er hatte alles selbst gemacht, Fenster und Türen dunkelgrün gestrichen, was gut zu den roten Ziegeln passte (zumindest fand Lübbert das), den Garten auf Vordermann gebracht, Obstbäume beschnitten und den Zaun erneuert, an dem im Frühling Wicken rankten, die im Sommer herrlich dufteten. Manchmal wurde er ganz melancholisch und seufzte: »Wenn Erna nun von oben guckt, wird ihr das gefallen.«
Nicht dass er dem Alkohol abgeschworen hätte, aber er hielt den Konsum so weit in Grenzen, dass er den Tag über arbeiten konnte, klar, mit Pausen natürlich, aber schließlich war er Rentner. Mittlerweile ging er wieder mit offenen Augen durch seine Umwelt, zwischenzeitlich hatte ihn rein gar nichts mehr interessiert. Sein Verstand war immer noch scharf. Die 35 Jahre als Gemeindearbeiter im nächsten Sielort hatte er hinter sich, war etwas früher in Rente gegangen, und die »reichte allemal, selbst wenn sie die noch mal kürzen, damit die Diäten erhöht werden können oder wenn es wichtiger war, ein paar Panzer mehr für die Bundeswehr anzuschaffen, um die Heide kaputt zu walzen.« Außerdem, so ergänzte er, spare der Staat doch auch, obwohl er ihm Rente zahle – schließlich sei seine Stelle nach seinem Weggang nicht wiederbesetzt worden.
Am Deich hatte Lübbert Sieken Henrike schon von Weitem gegrüßt. Lübbert kannte Henrike seit deren Kindheit. Henrike ihrerseits schätzte ihn als netten, älteren Mann, der oft witzig war und beim Dorffest den Kindern eine Süßigkeit spendierte. Gerade dann besonders gern, wenn er angetrunken war. Der manchmal mürrische Sieken wurde unter Alkoholeinfluss lebhaft und lustig, was bekanntlich nicht bei allen Zeitgenossen der Fall ist, und von daher verband sie positive Erinnerungen mit ihm. Als Kind hatte sie den Alkohol nie bemerkt, jedenfalls konnte sie sich nicht daran erinnern. Sie grüßte ihn zurück, und als er nahe genug herangekommen war mit seinem Fahrrad, rief er: »Moin, min Kind, wat makst du hier so alleen bi de Schietwedder?«
»Moin, Lübbert, ich kam gerade aus der Stadt, und da sah ich, dass hier schon wieder gebaut wird …Was machen die denn hier?«
»Hest du Bohnen up dien Oogen?«, meinte Lübbert und fuhr dann auf Hochdeutsch fort: »Hier wird ein Zaun gebaut, würde ich mal tippen.« Geradezu väterlich lächelte er sie an, und wieder ging ihm durch den Kopf, dass er schon, als Henrike noch nicht einmal zehn Jahre alt gewesen war, immer hervorgehoben hatte: »Das wird mal das schönste Mädchen im ganzen Polder.« Henrike hatte später entgegnet, ob das denn nun ein Kompliment oder eher das Gegenteil davon sein sollte, aber Lübbert hatte erwidert: »Wieso? Gibt’s denn noch was anderes als unseren Polder auf dieser Welt?«
»Ja, das sehe ich, aber wozu?« In diesem Moment fiel Henrike auf, dass sie eigentlich immer mit Lübbert Sieken Gespräche geführt hatte, in denen sie Fragen stellte und Lübbert wohlwollend antwortete.
»Na, ich denke, da soll keiner mehr auf den Deich.«
»Da standen doch schon Schilder, reicht das nicht?«
»Doch, das reicht wohl. Aber erklär das mal den Leuten auf’m Amt. Die meinen, das reicht nicht. Und dann kann man ja noch ein paar Steuergelder verschleudern, ist ja Herbst, da muss das Geld weg, baut man eben einen Zaun an den Deich, wenn einem nix anderes einfällt. Und die Verbotsschilder dazu, die gibt’s ja auch nicht umsonst, da kann man noch ein bisschen mehr Geld verballern«, ereiferte sich Sieken, und wusste nicht, ob er dabei nun lachen oder weinen sollte. Kurz dachte er auch wieder an die erneute Nullrunde bei den Renten.
»Aber man muss doch mal drauf können, auf den Deich. Die können hier doch nicht alles dichtmachen«, war das Einzige, was Henrike hervorbrachte.
»Da kommen sicher ein paar Türen rein. Ja, klar.« Lübbert machte eine kleine Pause. »Aber die werden wohl verschlossen sein, und den Schlüssel hat dann wieder so ein Amtlicher – also, wir, die hier wohnen, wir kommen nicht mehr auf den Deich, jedenfalls nicht hier.« Es lag echte Trauer in seiner Stimme, denn er war über viele Jahrzehnte hinweg fast jeden Tag auf und vor dem Deich gewesen. Der Wind, die See, das waren Lebenselixiere für ihn. Wenn man hinter dem Deich wohnte, aber ihn nicht begehen durfte, war das mindestens so bitter wie zu lang gezogener Tee, und dann noch ohne Kluntje. Oder Beutel-Tee, im Glas, mit Kondensmilch. Holl mi up.
»Ich verstehe ja, dass nicht jeder drauf soll, aber die Einheimischen, die wissen, dass man auf so einem Deich nicht alles machen darf und auch nicht im Deichvorland einfach herumtollen kann, wie man will, die müssten doch eine Sondergenehmigung erhalten«, dachte Henrike laut nach, und Lübbert Sieken nickte zustimmend, aber schweigend mit dem Kopf.
Schließlich fügte er hinzu: »Das meine ich auch, min Deern, aber solche Dinge zählen heute nicht mehr, alles schnuppe. Amtliche Vorgänge sind anders. Zäune bauen, betreten verboten, und wer’s trotzdem tut, kriegt ’ne saftige Strafe aufgebrummt. So geht das. Die Krux ist, dass so etwas nicht hier beschlossen wird, sondern in der Kreisstadt oder noch weiter weg. Das entscheiden Leute, die zum Deich hier keinerlei Verbindung haben, denen es egal ist, ob ein Zaun davor steht, oder nicht. Die wissen doch rein gar nicht, was uns der Deich hier bedeutet – und dass wir gut mit ihm umgehen, schließlich schützt er uns. Denen da oben ist das so schnuppe, wie der nächste Huster des bayerischen Ministerpräsidenten mir piepegal ist«, Lübbert Sieken sah durchaus erbost aus.
Henrike und Lübbert standen eine Weile, sahen zu den Arbeiten am Deich hinüber und sagten nichts. Schließlich ergriff Lübbert wieder das Wort, und was sie hörte, verblüffte Henrike.
»Ich mache mir aber weniger Sorgen um den Zaun und die Schilder als um den neuen Deich.«
»Sorgen?«
»Also, man darf den Deich nicht mehr begehen, das ist schlimm für mich, weißt du? Ich wohne hier hinter’m Deich und darf nicht darauf, das ist fast wie im Knast. Du kannst dir vorstellen, dass ich oft hingegangen bin, zum Deich, vor allem abends, um noch ein paar Schritte auf oder vor ihm zu gehen. Ich brauche das einfach, den frischen Wind, den Geruch des Watts, die Vögel, die irgendwo rufen. Möwen, Enten und vor allem Austernfischer, Tütjevögels. Du weißt ja, wie schön das ist, hast August doch auch am Deich kennengelernt, ja … da kann Liebe entstehen … Ich habe den alten Deich gekannt wie meine Westentasche, und auch der neue ist mir schon ein wenig vertraut geworden.« Lübbert machte eine kleine Pause, als denke er nach. »Der neue ist aber nicht wie der alte, obwohl er ja höher, fester und besser sein soll. Wie alles Neue angeblich besser sein soll, schneller, weiter, am höchsten, am … ach, was weiß ich …« Lübbert Sieken schwieg wieder. Seine Wangenknochen traten hervor, er schien sich auf die Zunge zu beißen. Sein Blick ging in die Ferne.
»Was meinst du?« Henrike spürte, dass sie sich der Wiard’schen Deichgeschichte näherten, die nun auch im Kopf ihres Mannes herumschwirrte.
»Ich glaube, die haben den Deich nicht überall so gebaut, wie er eigentlich gebaut sein müsste. Das ging alles zu schnell. Ich habe nicht Buch geführt, aber man hat das im Gefühl, wenn man sein ganzes Leben hinter dem Deich verbringt. Auch mit den neuen Maschinen und so, ich habe das damals schon komisch gefunden, wie schnell plötzlich alles fertig war. Da wurde mit einer Hochgeschwindigkeit gebaggert, aufgeschüttet, modelliert, gesodet, gesät, dann war die Einweihung und schwupp, alles bestens. Und nun ist mir bei meinen – zugegebenermaßen verbotenen, aber da sag ich mal wie die im Süden: ›Hobt’s mi alle gern‹ – abendlichen Wanderungen etwas aufgefallen, was mir ernsthaft Sorgen macht.« Er machte wieder eine Pause.
»Was?« Henrike ahnte, worauf er hinauswollte.
»Der Deich ist weich. Und ich reime da nicht aus Spaß.«
»Weich?« Henrike wusste genau, was Lübbert meinte, wollte aber seine Version hören.
»Er