Tatort Nordsee. Sandra Dünschede
Читать онлайн книгу.die Tür, durch die sofort kalter Wind und Feuchte ins Haus strömten. Sie liefen mit schnellem Schritt zu ihrem Wagen, einem zivilen Fahrzeug, das neben dem Polizeiwagen von Holger Janssen nicht weiter auffiel. Im Weggehen drehte sich Hauptkommissarin Itzenga noch einmal um und rief den an der Tür stehenden drei Männern zu: »Haben Sie eigentlich davon gehört, dass es finanzielle und bautechnische Unregelmäßigkeiten beim Bau des Deiches gegeben haben soll?«
Wiard und August war, als wären sie wie kleine Jungs beim Rauchen in der Schulhofecke ertappt worden.
»Ja, so was haben wir gehört«, Wiard versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben.
»Vielleicht hängt das alles zusammen, der Schuss, Ihr Spaziergang am Deich, wer weiß?«, rief Frau Itzenga in die Dunkelheit, die nur von der Außenlampe ein wenig erhellt wurde.
»Sie finden es sicher heraus.« In diesem Moment fiel Wiard auf, dass er mit der Sprache herausrücken musste. Der Steinwurf konnte noch als Warnung gesehen werden. Wenn es aber einen Zusammenhang gab zwischen dem Steinwurf und dem Schuss am Deich, dann war das hier ein glatter Mordversuch.
»Frau Hauptkommissarin!«, rief Wiard fast panisch, als Itzenga schon beinahe die Autotür zugeschlagen hatte. »Warten Sie, es gibt da noch etwas!«
Langsam stiegen Tanja Itzenga und Ulfert Ulferts wieder aus ihrem Wagen.
»Und?« Itzenga sah Wiard mit durchdringendem Blick an.
»Entschuldigen Sie, die ganze Situation ist ein wenig verwirrend, habe irgendwie nicht dran gedacht. Erst jetzt werden mir die Zusammenhänge klar. Ich muss Ihnen noch etwas sagen. Ich denke, Sie müssen noch einmal hereinkommen.«
»Warum so spät?«, fragte Tanja Itzenga, als Wiard über die Details des Steinwurfs und die Folgen erzählt hatte. Nun hatten die Polizisten auch eine Erklärung für die mittlerweile verkrustete und gut abgeheilte, aber doch sichtbare Kopfverletzung.
»Hatte wohl zur Verletzung auch ein Brett vor dem Kopf, schließlich passiert hier sonst nicht viel – und jetzt gleich so viele Dinge auf einmal … und ein Mordversuch, wenn’s einer war, da ist man ein wenig durcheinander.«
»Hm, mag sein. Aber dass da ein Zusammenhang besteht, ist wohl sonnenklar, Herr Lüpkes. Also besser später als gar nicht. Hier geht jemand um, der es auf Sie abgesehen hat«, meinte Ulferts.
»Hört sich ja nach einer zunehmend heißen Geschichte an«, pflichtete Tanja Itzenga bei, »verlangen Sie Personenschutz?«
»Personenschutz?« Wiard verstand die Welt nicht mehr.
»Na, ein paar Beamte, die aufpassen, dass Sie so lange unversehrt durchs Leben kommen, bis wir den Täter haben.«
»Oh nee, bloß das nicht – mir kann doch keiner was antun wollen …« flüsterte Wiard eher, als dass er es laut sagte.
»Sie sehen ja, wie schnell das gehen kann. Herr Sieken hat einfach nur Glück im Unglück gehabt.«
»Lassen Sie uns schleunigst den Täter finden. Wir wollen wohl alles tun, das zu unterstützen«, meinte Wiard, und August war froh über diese Antwort. Kriminalpolizei, Personenschutz, langsam wurde es zu viel für ihn. Sollte er mit zwei Polizisten auf dem Trecker den Acker pflügen? Oder wie stellte sich Frau Hauptkommissarin das vor?
Itzenga und Ulferts machten sich erneut daran, zurück nach Aurich zu fahren. Zum zweiten Mal verabschiedeten sie sich und gingen zum Auto, als nun plötzlich August − aufgefordert durch Wiard (»Du Trantüte«) − hinter ihnen hersprang: »Eines noch …«
»Jetzt langt’s aber bald mal, meine Herren. Was nun noch?« Tanja Itzenga sah verdammt gut aus, beinahe besser, wenn sie ungeduldig wurde, fand August für einen Augenblick. Schnell schüttelte er den Gedanken wieder ab. Nach Wiards Hinweis erzählte er nun noch die Sache mit dem Schuss in den Reifen.
»Mann, Sie rücken aber häppchenweise mit der Wahrheit heraus. Ich hoffe, das geht in Zukunft schneller …« Itzenga war genervt.
»Wieso hat eigentlich niemand schon vorher die Polizei alarmiert?«, fragte nun Ulfert Ulferts, »schließlich waren der Steinwurf und der Schuss in den Reifen ja auch nicht gerade alltägliche Vorkommnisse.
»Die ganze Situation … überfordert uns nun wohl doch«, gab Wiard zu, und August nickte nur.
»Also, bis morgen«, sagte die Hauptkommissarin. Offenbar wollte sie jeglichem ›Ach ja, da fällt mir noch etwas ein‹ zuvorkommen. In diesem Moment schlug ihr eine Bö heftig den Wind ins Gesicht, und sie wusste gar nicht, ob Wiard und August sie überhaupt noch verstanden. Ihr Pferdeschwanz tanzte heftig im Wind. Sie winkte noch einmal, hielt mit der anderen Hand den Kragen der Jacke zu, setzte sich ins Auto, und Ulferts fuhr an. Wiard und August sahen den Rücklichtern nach, die schnell in der Dunkelheit und Nässe verschwunden waren, und gingen ins Haus zurück, die Tür hinter sich fest verschießend.
»Wie war das noch? Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt«, sagte Wiard nach einiger Zeit des Schweigens.
August fasste zusammen: »Ist doch alles Mist.« Er war froh, gleich nach Hause fahren zu können. Oft, aber selten mit solcher Heftigkeit, hatte er sich in den letzten Monaten so sehr nach Frau und Kindern, seiner warmen Küche und einer Tasse Tee mit Henrike gesehnt.
20
Um 9 Uhr morgens des nächsten Tages glich der Deichabschnitt an der Ostkrümmung einer belagerten Festung. Polizeiwagen und andere Pkws parkten, wo gerade Platz war. Der große Auflauf hatte sich in Windeseile herumgesprochen, und plötzlich hatten einige Bewohner erstaunlich viel Zeit nachzuschauen, ob es etwas zu sehen oder zu hören gab am Deich, wo jemand versucht hatte, Lübbert Sieken umzubringen. Die Köpfe steckten zusammen, eine Variante jagte die andere, ein Gerücht hielt nicht lange vor, schon war das nächste in Umlauf.
Die Polizei hatte das Gebiet großräumig abgesperrt, rot-weiße Plastikbänder gespannt, und einige Beamte waren ausschließlich damit beschäftigt, diejenigen, die versuchten, näher an das Geschehen heranzukommen, mit freundlichen, aber bestimmten Worten zurückzuweisen.
August, Wiard und Lübbert waren privilegiert. Sie standen auf der Deichkrone, zusammen mit Ulfert Ulferts und Tanja Itzenga. Einige weitere Polizisten waren vor Ort. Ein paar hatten ihre Digitalkameras gezückt und knipsten fleißig Bilder, andere suchten scheinbar planmäßig die nähere Umgebung ab, Sonstige schauten nur hier und da herum. Manche waren wohl einfach wichtig, so schien es jedenfalls, ohne dass man feststellen konnte, warum sie eigentlich dort waren.
»Und hier standen Sie, als der Schuss fiel?«, fragte Tanja Itzenga.
»Ja«, antwortete Wiard, und auch August bestätigte: »Genau hier.«
»Wo hielten Sie sich auf, Herr Sieken?«
»Na, eben hier«, antwortete dieser. Seine Schulter war verbunden und sein Arm in ein Tragetuch eingewickelt, das um den Hals des Versehrten geschlungen worden war und dem Arm Halt gab.
»Herr Sieken«, Tanja Itzenga wurde deutlicher, »das ist mir bekannt, wo, ganz genau, meine ich, und wohin haben Sie geschaut, in welche Richtung hatten Sie den Rücken gekehrt?«
»Tja«, Lübbert dachte ein wenig nach, »also ich stand etwa zwei Meter von den beiden entfernt«, er ging ein Stückchen weiter, »ungefähr hier. Ich sah in die Richtung von Herrn Saathoff und Herrn Lüpkes, also von hier in Richtung Ost-Süd-Ost, so in etwa.« Er versuchte, sich so aufzustellen, wie er am Abend gestanden hatte, als der Schuss fiel. Er war erstaunt, dass er sich dessen nach so kurzer Zeit nicht mehr sicher war.
»Nein, du warst etwas weiter von uns weg«, warf Wiard ein und machte drei, vier Schritte weiter als Lübbert.
»Nein, wir haben uns schließlich unterhalten, bei dem Schietwedder hätten wir das nicht tun können, wenn ich hier hinten gestanden hätte.«
»Ganz bestimmt«, bestand Wiard auf seine Version, »hier war es, hier bist du angeschossen worden. Allenfalls ein kleines Stück weiter noch …« Wiard machte ein, zwei Schritte und stand an einer etwas