Die Schamanin. Hans-Peter Vogt
Читать онлайн книгу.geben, und sie gilt den Indios als ihre Hohepriesterin.
Peru ist ja ein katholisches Land, und Solveig war einmal katholisch getauft worden. In der Stadt finden übers Jahr verteilt mehrere Prozessionen statt. Weil das aber früher stets ein großer trauriger und jammernder Zug war, war das Interesse der Indios an diesen Prozessionen irgendwann nahezu erloschen, in dem Maße, wo sie ihr Selbstbewusstsein und ihre Lebensfreude wiedergewannen, die durch ihre Stellung als Teil der Ausgrabung und als Teil einer über 8.000 Jahre alten Kultur begründet war. Wie anders als bei den kirchlichen Prozessionen, ist das bei den rein indianischen Festen. Dort wird gelacht, getanzt und Musik gemacht. Das sind lebensfrohe Feste für alle. Selbst die Beerdigungen sind zwar zu Beginn still und in sich gekehrt, weil man mit Würde Abschied nimmt, aber sie werden dann laut und fröhlich. Chénoa hatte stets gesagt, „Während dieser Mensch zu Erde wird, wächst aus dieser fruchtbaren Erde ein neues Leben. Das ist ein Grund zur Freude. Es ist ein ewiger Kreislauf, der uns am Leben erhält. Wir vergessen diesen Menschen nicht. Wir halten die Erinnerung an ihn wach, den er gestattet dieses neue Leben. Lernen wir aus seiner Erfahrung.“
Bei den Indianern gibt es seit Jahren einen neuen alten Kult um die Wiedergeburt, und deshalb ist der Tod eines Menschen Teil eines Kreislaufs, von dem die christlich begründete Trauer sich völlig unterscheidet. Unter der Führung von Solveigs Tante Chénoa hatte sich die indianische Gemeinde in einem langen, zähen und unblutigen Kampf aus der früheren Abhängigkeit und Knechtschaft befreit und ihre eigene Kultur wiedergefunden. Nicht nur im Tal von Ciudad del Sol, sondern in ganz Peru und Bolivien. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die kleine Stadt Ciudad del Sol die geistige Hauptstadt der indianischen Bevölkerung dieser beiden südamerikanischen Länder geworden war, auch wenn die politischen Zentren dieser beiden Staaten in den Millionenstädten Lima und La Paz liegen. Die Hauptstadt der Region, zu der Ciudad del Sol gehörte, die liegt wiederum in der Luftlinie etwa 200 Km von Ciudad del Sol entfernt. Die 350.000 Einwohnerstadt Cusco hat ihre eigene Bedeutung als Verwaltungszentrum und als Weltkulturerbe des früheren Inkareiches.
Nun. Die kleine Stadt Ciudad del Sol hat ihre Bedeutung durch die Entdeckung dieser gewaltigen Königsstadt der Peruche-Krieger erlangt, und durch den Clan von Solveigs Familie war sie zum geistigen Zentrum der südamerikanischen Indianer geworden. Solveig ist - als Teil dieses Familienclans - dazu bestimmt, spätere Führungsrollen zu übernehmen. Solveig wird durch ihre Eltern wie ein Freigeist erzogen, aber sie nimmt alle diese unterschiedlichen Ereignisse mit wachen Augen auf. Es gibt indianische Familien, wo gebetet und gefastet wird, aber durch den Einfluss von Tante Chénoa hatte sich das bereits mit den alten indianischen Riten gemischt, die einmal ganz von dem Sonnenkult geprägt worden waren, der damals das Leben in der heiligen Stadt der Könige bestimmt hatte.
Solveig nimmt an solchen Gebeten manchmal teil, aber sie ist davon nicht sehr beeindruckt. Die Hoffnung, die sich im christlichen Glauben manifestiert, die kann einem Menschen Kraft geben, aber ist auf nichts anderes gebaut als eben nur Hoffnung. Die Kräfte, die Solveig von Mama lernt, die sind hingegen konkret und wirkungsvoll, und auch die Indios ihres Viertels hatten längst verinnerlicht, dass die Kräfte dieses Familienclans eine reale Kraft sind, mit der man rechnen kann, und auf die man sich verlassen kann. Nicht umsonst ist Solveigs Tante Chénoa den Indianern wie eine Hohepriesterin erschienen. Sie gilt den Indianern als ihr geistiges Oberhaupt, deren Führung man sich bereitwillig unterwirft, weil sie Kraft und Freiheit vermittelt. Ganz anders als bei den herkömmlichen Patriarchen der christlichen Glaubensrichtung, die stets auf Unfreiheit und Knechtschaft abzielte, bis hin zur Versklavung und zur Zwangssterilisation. So etwas gab es in Peru und Bolivien schon nicht mehr, als Solveig geboren wurde. Solveigs Großvater Leon und ihre Tante Chénoa hatten dieses Verbot politisch durchgesetzt, und seit durch den Einfluss von Tante Chénoa ein Indianer auf dem Posten des Ministerpräsidenten sitzt, waren die Rechte der indianischen Mehrheit in Peru nicht mehr von denen der weißen Bevölkerung zu unterscheiden, zumindest nicht auf dem Papier.
Die indianische Bevölkerung zelebriert ihren neuen alten Glauben inzwischen. Es gibt im Zentrum der Indianer sogar einen kleinen Raum, der ausschließlich für den Sonnenkult gedacht ist, und von dem nicht einmal der katholische Priester etwas weiß. Die Indianer hatten diesen Raum einmal heimlich eingerichtet, um zu Chénoa zu beten und ihr zu danken, und selbst Chénoa hatte anfangs nichts davon gewusst.
Tante Chénoa hatte nun einmal alte Riten wieder belebt, die heute etwa bei indianischen Hochzeiten oder Beerdigungen wieder durchgeführt werden. Sie war es, die den Indios ihre kollektive Identität wiedergegeben hatte. Sie war es, die den Indianern in diesem Land wieder zu Rechten verholfen hatte. Sie war es, die erreicht hatte, dass die Indios in diesem Land endlich freien Zugang zu Bildung, Universitäten und zu allen Berufen haben. Es gibt inzwischen indianische Ingenieure, Ärzte, Wissenschaftler, Kaufleute, Piloten oder Provinzgouverneure, die hoch angesehen sind, aber dieser Prozess war noch nicht abgeschlossen, als Solveig noch klein war. Es war Tante Chénoa, die in diesem heimlichen Raum heimlich verehrt wurde, wie eine Göttin. Die Indianer wissen das. Die Weißen nicht. Chénoa gilt den Indianern Süd-und Mittelamerikas als ihre heimliche Königin, die sie beschützt und bewacht, aber darüber sprechen sie mit den Weißen nicht.
Die alten Gebräuche sind Teil eines kollektiven geheimen indianischen Wissens, das von indianischen Schamanen über Jahrhunderte bewahrt worden war, längst bevor Solveigs Großvater Leon die politische Bühne erstmals betreten hatte. In der Familie von Solveigs Großmutter Mila, da gab es dieses Denken, denn Großmutter Mila stammt aus einer Sippe, die im Nachbarstaat Bolivien 200 Jahre lang an Aufständen gegen die weiße Oberschicht teilgenommen hatte. Heute gehört dieser Zweig der Familie in Bolivien zu den führenden Familien. Mit anderen Worten, Solveig entstammt einer wirklich alten Familie, in der stets Wert auf Familientradition gelegt wurde, und die Kenntnisse historischen Wissens als erhaltenswert, und an oberster Stelle standen.
Es gibt bei den Indianern eine katholische (kirchliche) Trauung und oft auch eine zweite rein indianische, die von Solveigs Tante Chénoa nach alten Riten durchgeführt wird. Das ist der Kirche inzwischen bekannt. Chénoa unterstützt aber auch die Kirche großzügig, und so war ein seltsames Agreement zwischen dem katholischen Priester und Chénoa entstanden, das für den Priester und die indianische Gemeinde konfliktfrei ist. Solveig erlebt das in ihrer Kindheit zunächst nur unbewusst. Immerhin bekommt sie schon früh mit, dass es innerhalb ihrer indianischen Gemeinde Geheimnisse gibt, die auch gegenüber dem katholischen Priester stets gewahrt werden.
Für die kleine Solveig sind solche Stimmungen von Belang, weil sie diese feinen Schwingungen wahrnimmt, aber sie spürt keine Bedrohung. Die katholischen und die indianischen Riten hatten bereits angefangen sich zu vermischen. Ihre Familie hatte in der Stadt und in diesem Land längst eine Stellung, die unantastbar scheint. Für Solveig gibt es andere Dinge, die wichtiger sind, als eine mögliche Auseinandersetzung zwischen katholischer Glaubenslehre und den alten Schamanen der Indianischen Bevölkerung.
Onkel Nakoma nimmt Solveig mit in den Urwald, wo Solveig lernt, all diese Heilpflanzen selbst aufzuspüren. Sie hilft bei der Pferdezucht, und sie begleitet ihren Onkel von Zeit zu Zeit bei seinen Aufträgen in Übersee, die er als „Wunderheiler“ von bekannten Gestüten überall auf der Welt erhält. Onkel Nakoma ist ein weltweit gesuchter und gebuchter Therapeut, aber er ist besonders gerne in den arabischen Ländern unterwegs. Dort hat er seit Jahren einen festen Kundenstamm, und dort geht es wirklich um sehr wertvolle Rennkamele, Falken und Rennpferde. Er kennt alle dieser Scheichs und Emire persönlich, und dort lernt Solveig auch ganz andere Riten kennen. Es ist eine komplett andere Welt, als die Kultur in Südamerika. Es spielt dabei keine Rolle, dass in der arabischen Welt einen Kampf zwischen Schiiten und Sunniten stattfindet, denn Onkel Nakoma hat das Talent, von den einen und von den anderen akzeptiert zu werden. Manchmal vermittelt er, und er hat in den letzten Jahrzehnten schon so manch einen bewaffneten Konflikt zwischen den Kontrahenten verhindern können.
Inzwischen sind zwei der Kinder von Onkel Nakoma besser als ihr Vater, aber auch das ist in der Familie kein Thema. Sie assistieren Nakoma, aber sie nehmen auch eigene Aufträge an. Sie sprechen sich ab und sie machen sich gegenseitig keine Konkurrenz. Auch Solveig wird in der Heilkunst phänomenal gut. Schon im Alter von 14 Jahren übertrifft sie ihren Onkel in einigen seiner Fähigkeiten. Dies gelingt ihr unter anderem durch ihre besondere Beobachtungsgabe. Im Aufspüren und Heilen von