Die Schamanin. Hans-Peter Vogt

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Die Schamanin - Hans-Peter Vogt


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beerben können, aber er gab das Unternehmen an seine Söhne Raoul und Pedro weiter, die ebenso genial im Umgang mit Tieren sind wie der Vater.

      Solveig will zu ihren Cousins keine Konkurrenz sein. Chénoa hat ihr bereits eine verantwortungsvolle Aufgabe übergeben, aber Solveig will auch eine abgeschlossene Ausbildung, die ihr Spaß macht. Sie war quasi in der Klinik ihrer Mutter aufgewachsen. Das war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Solveig ist bereits geprägt. Sie beschließt, nach dem Abitur Humanmedizin und Tiermedizin zu studieren, Onkel Nakoma und seinen Kindern aber niemals Konkurrenz zu machen.

      Weil Solveig aber schon mit 18 Jahren einen legendären Ruf unter Züchtern genießt, wird sie ihr Tätigkeitsfeld auf Gebiete verlegen, die von ihren Vettern nicht beansprucht werden.

      Tante Chénoa hat ihr inzwischen geraten, sich um Russland und die angrenzenden Regionen zu kümmern. Dort gibt es sehr reiche Familien mit einem sehr wertvollem Pferdebestand. Viele dieser Familien sind in unsaubere Geschäfte verwickelt.

      Überall gibt es solche Familien, die von geheimen Geschäften leben, die man allgemein als mafiös bezeichnet. Manche dieser Familien agieren völlig im Untergrund, andere haben ganze Regierungen okkupiert.

      Chénoa sagte zu Solveig: „Die Mafia kannst du nur von innen heraus bekämpfen. Du musst ihre Strukturen und ihre Denkweise kennen, um sie beherrschen zu können. Denke immer daran, dass dies ein eigenes gesellschaftliches System ist, das im Verborgenen blüht. Was du nicht siehst, das kannst du nicht begreifen und auch nicht bekämpfen. Unsere Aufgabe ist es, dieses System sichtbar zu machen, so dass unsere Familie davon nicht bedroht werden kann.“

      Solveig beherzigt diesen Rat. Sie nimmt Kontakt auf. Sie hört sich um. In den Ferien reist sie mit Chénoa in andere Länder. Sie beobachtet und sie sieht vieles, was ihr nicht gefällt. Sie beobachtet nicht nur, sondern sie beginnt diese Menschen „einzusummen“ und die Kinder dieser Familien auf ihre Seite zu ziehen.

      Solveig greift dabei nie zu rigorosen Maßnahmen, sie ist in ihren Behandlungen sanft und nachhaltig. Sie pflegt die Tiere solcher Leute, die ihre Familie eigentlich von jeher bekämpft hatte. Sie greift nie in laufende Geschäfte dieser Familien ein, auch wenn sie vieles nicht gut findet. Sie sieht, sie hört zu, sie beobachtet und sie registriert. Sie wird nie ein Teil von Operationen dieser Gruppen oder Gangs, die sie aufsucht, um ihre wertvollen Pferde, Greifvögel, Keus oder Hunde zu behandeln, und wie durch ein Wunder kann sie es verhindern, von diesen Menschen vereinnahmt, oder gar bedroht zu werden, obwohl sie oft für konkurrierende Gangs arbeitet. Dabei gilt sie als verschwiegen und als zuverlässig. Wenn man nach Solveig schickt, dann ist sie da. Wenn man sie versucht, unter Druck zu setzen, setzt sie sich darüber hinweg. Wie sie das macht, das ist ihr Geheimnis. Nun ja. Chénoa kennt dieses Geheimnis. Es ist eben die „Methode Solveig“.

      Solveig verdient längst eigenes Geld, bevor sie überhaupt damit beginnt Medizin zu studieren. Sie wird von einigen dieser Familien wegen ihrer heilenden Hände bereits gefeiert wie eine Shamanin.

      Mit 18 beginnt Solveig ihr Studium in Lima und wechselte nach dem Vordiplom nach Deutschland. Dort gibt es eine kleine aber hochangesehene Fakultät für Medizin und Tiermedizin in Marburg. Solveig machte ihr Examen mit Bestnote. Der Professor bietet ihr an, in Marburg zu promovieren, aber Solveig lehnt dankend ab. Solche Ehren bedeuten ihr nichts. Sie geht zurück, um zunächst in der Klinik ihrer Mutter zu helfen. Sie klinkt sich in das heimische Leben wieder ein, und widmet sich parallel dazu weiter ihren Aufgaben als Tierheilerin.

      Während der Semesterferien führt sie diese Arbeiten stets weiter, und sie führt auch die von Chénoa aufgetragene Aufgabe der Leitung der Kids durch. Leise, mit zarter Hand, nachhaltig und ohne jeden Stress.

      Sie kann das wirklich gut. Solveig ist auf diesem Gebiet beeindruckend effektiv, und Chénoa bewundert diese Fähigkeit. Solveig ist Chénoa in vielen Dingen ebenbürtig.

      11.

      Solveig bekommt in diesen Jahren mit, wie die Familie in einem Cyberkrieg angegriffen wird. Sie begleitet die Maßnahmen, die ihre Tante Chénoa ins Leben ruft, um der Gefahr zu begegnen. Sie wird Zeugin von Gewalt. Immer wieder und immer wieder. Mal auf der einen Seite, mal auf der anderen.

      Solveig hat auf ihre eigene Art der Entwicklung eine Anschauung vom Zusammenleben der Menschen, die auf Gewaltlosigkeit setzt. Sie spricht oft mit ihrer Tante Chénoa über dieses Thema und sie versucht stets, einen eigenen Weg zu finden. Sanft und nachhaltig. Vielleicht macht sie sich schuldig, weil sie immer wieder Zeugin von Unrecht wird, ohne das zu verhindern, aber sie weigert sich strikt, selbst durch rigorose Maßnahmen einzugreifen. „Gewalt erzeugt wieder Gewalt“, sagt sie. „An diesem Kreislauf will ich nicht teilhaben.“

      Chénoa ist eine weise Frau, die das Potential ihrer Nichte schon früh erkannt hatte, und sie ermuntert Solveig auf diesem Weg fortzufahren. Wenn es gelingen würde, die Gedanken der Menschen auf breiter Basis nachhaltig zu beeinflussen, dann würde man viel mehr erreichen, als mit Gewalt. Ein solcher Weg braucht viel Zeit. Chénoa weiß das. Sie hatte diesen gewaltlosen Weg selbst beschritten, aber manchmal hatte sie auch schon zu drastischen Maßnahmen gegriffen. Dann war Blut geflossen.

      12.

      Solveig hat eine zwei Jahre jüngere Cousine mit dem Namen Elvira, die sich in Berlin offen gegen die Mafia gestellt hat. Auch Elvira hat aber einen sehr unkonventionellen Weg gewählt. Statt gegen die Mafia einen offenen Krieg zu führen, hat sie die Zusammenarbeit mit der Mafia gesucht, um sie besser kontrollieren zu können. Elviras erstes Ziel ist es, innerhalb von Berlin Ordnung zu schaffen. All die kleinen Ganoven und jugendlichen Gangs kann sie offen bekämpfen, die großen Mafiafamilien (die im geheimen wirken) müssen durch eine besondere Strategie eingefangen werden. Dort geht es um viel Geld und Macht. Ein Machtvakuum hätte die Stadt nur in ein neues Chaos gestürzt. So wird Elvira die heimliche Friedensrichterin in Berlin. Sie vermittelt zwischen den Mafiafamilien. Sie sorgt dafür, dass Berlin drogenfrei wird. Nun ja. Drogen werden zwar weiter konsumiert, dagegen kann sie wenig machen, aber sie untersagt den Verkauf von Drogen mit drastischen Maßnahmen, und die Mafiafamilien fügen sich, wie durch ein Wunder. Sie sorgt für eine Aufteilung der Märkte. Alles das geschieht unsichtbar für die Behörden, denn auch Elvira praktiziert diese Heimlichkeit und Unsichtbarkeit, die es in den Mafiafamilien gibt. Nur ein kleiner Teil ist sichtbar, das, was man öffentlich sehen darf. Elvira wird die heimliche „Königin“ von Berlin.

      Das ist allerdings auch ein Weg auf schmalem Grat. Sinnbildlich mit der Mafia aus einem Teller zu essen, das macht mitschuldig, und Elvira hat für erbrachte Dienstleistungen von den Mafiabossen sogar eine Bezahlung gefordert. Sie musste das tun, um ihr Gesicht zu wahren, und als geheime Friedensrichterin anerkannt zu werden, aber Elviras Familie profitierte seit einigen Jahren finanziell indirekt von den Machenschaften der Mafia. Das ist in der Familie höchst umstritten. Opa Leon und Oma Katharina (in Berlin) hatten geseufzt und sie hatten gefordert, diese Gratwanderung genau, sehr genau zu beobachten, und immer wieder zu hinterfragen und zu kontrollieren.

      Elviras Weg ist in der Familie nicht unumstritten. Der Tanz mit dem Teufel macht dich leicht zu seinem Komplizen. Nicht nur zum Mitwisser, sondern auch zum Mittäter. Manchmal schleichend, dafür aber umso effektiver und nachhaltiger, weil in solchen Fällen die natürlichen Abwehrantennen versagen, in kleinen und in großen Dingen, aber Solveigs Cousine Elvira hat Partei ergriffen. Sie mischt sich ein. Sie übernimmt Führungspositionen und sie beginnt zu steuern.

      Es muss in dieser Zeit klargestellt werden, dass die Familie sich immer wieder in den Traditionen übt, die in der Familie als „Demut“ bezeichnet werden. Diese Kräfte, die sie als Familie haben, die dürfen nicht missbraucht werden. Die Achtung für Mensch und Natur ist oberstes Gesetz. Man darf nicht zum Täter werden.

      In dieser Zeit bittet Chénoa ihre Nichte Solveig, das Gewissen der Familie zu überwachen, oder anders gesagt, die Einhaltung der ethischen Grundsätze zu garantieren. Niemand kann so gut in die Köpfe hineinkriechen wie Solveig, und Solveig wird die Beraterin ihrer Cousine Elvira, mit der sie von diesem Zeitpunkt an in ständigem Kontakt steht.

      Auch Solveigs gewaltfreier Weg ist nicht unumstritten.


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