Die Schamanin. Hans-Peter Vogt
Читать онлайн книгу.schließt die Augen und atmet lange tief ein- und aus. Dann sieht er Solveig durchdringend an und beschließt, „du sollst alles haben, was du brauchst.“ Auch in seiner Familientradition hatte es in früheren Jahrhunderten Schamanen mit besonderen Fähigkeiten gegeben. Solveig ist mit solchen Fähigkeiten ausgestattet. Der Clanführer hat keinen Zweifel. Er hat zwar Angst um seinen Lieblingsenkel, aber wenn irgend jemand helfen kann, dann wahrscheinlich Solveig.
2.
Zwei Tage später bricht Solveig auf, begleitet von dem Vater des Jungen, von einem der großen Brüder, und von mehreren Knechten und Treibern.
Solveig hat sich ein großes Tuch geben lassen. Sie steigt auf das Pferd und lässt sich den achtjährigen Abay in das Tuch geben. Dann bricht die ganze Gruppe auf. Solveig trägt das Kind in ihrem Tuch. Das Pferd dirigiert sie nur mit ihren Füßen und leichten Zurufen. Sie benutzt nicht einmal einen Sattel.
Während des langsamen Rittes ist Solveig wie weggetreten. Sie hat ein Energiefeld um sich gebreitet. Sie summt und singt. Sie wiegt sich im Schritt des Pferdes. Auch das Pferd hat längst begriffen, dass es da eine wertvolle Fracht trägt, die es zu beschützen gilt. Tiere haben für solche Dinge ein feines Gespür, und dieses Pferd nimmt die feinen Schwingungen auf, die von Solveig und dem Kind ausgehen.
Mittags bittet sie darum anzuhalten. Sie lässt einen Tee zubereiten, aus den Kräutern, die sie mitgebracht hat, und benetzt die Lippen des Kindes damit. Sie führt einen dünnen Schlauch in den Magen und gibt ihm von diesem Tee. Sie selbst trinkt Wasser, das sie mit einigen anderen Kräutern zubereiten lässt, dann trinkt sie etwas Stutenmilch, und kaut auf mitgebrachten Blättern, die sie in eine Art Trance versetzen. Erst dann reiten sie weiter.
Sie reiten, bis sie einen kleinen klaren See erreichen, der in einem Talkessel liegt. Dort lässt Solveig die Gruppe anhalten, und sie bittet darum, die Jurten aufzustellen.
Während die Männer die Schlafkojen vorbereiten, summt und singt Solveig, die sich im Schneidersitz auf ein Fell gesetzt hat, das Kind in ihren Armen. Auch jetzt ist sie wieder völlig weggetreten. Das Energiefeld ist fest und weist jeden Eindringling von außen ab. Die Mitglieder der Reise wissen das schon. Es ist, wie eine undurchdringliche Mauer.
Solveig kann aber auch unvermittelt aus dieser Selbstvergessenheit auftauchen und klare Bitten oder Anweisungen aussprechen. Jetzt bittet sie um eine eigene Jurte, ein Stück getrennt von den anderen.
In dieser Nacht kommen die Männer nicht zum Schlafen. Solveig entfacht in der Jurte ein Blitzlichtgewitter, das so heftig wird, dass es zu Detonationen kommt. Der Donner rollt durch das Tal und die Pferde sind so unruhig, dass sie sich fast losreißen.
Der Vater trommelt die Mannschaft zusammen, sie gehen ins Freie und beginnen zu singen und sie beten zu Allah und zu Mohammed, seinem Propheten.
Erst am Morgen hört das Blitzlichtgewitter auf. Solveig tritt aus dem Zelt, bekleidet mit einem leichten Gewand, das nackte Kind auf den Armen, dann geht sie, wie in Trance, zum Ufer des Sees. Sie geht ins Wasser, bis sie mit dem Kind unter der Wasseroberfläche verschwunden ist.
Bei Allah, was hat sie vor? Der Vater hat Ängste, wie selten zuvor.
Plötzlich steigen heftige Blasen auf, sie hören ein Gurgeln, und Solveig schießt plötzlich aus dem Wasser, hängt sich im Sprung das Kind über die Schulter, das jetzt schreit, dann taucht sie wieder unter, um kurz darauf schnell an Land zu waten.
Sie legt das Kind auf eines der Felle, und macht Wiederbelebungsversuche. Sie drückt auf die Brust. Sie beatmete es durch den Mund, dann kommt ein Schwall Wasser aus der Lunge und noch einer und das Kind beginnt zu husten.
„Decken und ein Feuer“, befiehlt Solveig, „schnell.“
Dann setzt sie die Wiederbelebung fort.
Das Kind spuckt erneut Wasser, dann schlägt es die Augen auf. Die Männer stehen schon mit Tüchern und Decken bereit. Solveig lässt das Kind warm einpacken und trocknet den Kopf.
Sie verfällt in ihre „Weltsprache“, die der Vater des Jungen schon aus früheren Begegnungen kennt.
Das Kind atmet jetzt normal. Solveig will ihren Rucksack, sie richtet den Jungen etwas auf und gibt dem Jungen etwas von dem Tee, den sie gebraut hatte.
Der Junge hat die Augen offen. Er schluckt den Tee und dann sieht er sich in der kleinen Gruppe um.
„Vater, was machen wir hier?“
Erdem, der Vater, ist fassungslos vor Überraschung und Glück. Er fällt auf die Knie und schickt ein Stoßgebet zum Himmel.
Später sitzen sie um dieses Feuer und Solveig hält den Jungen auf ihrem Schoß, eingepackt in Decken, und sie summt fast unmerklich.
Solveig bleibt noch zwei Wochen an diesem See. Sie badet und schwimmt jeden Tag mit dem Jungen. Sie hilft ihm, seine Beine wieder zu gebrauchen, die nach den Wochen des Liegens an Kraft verloren haben.
Jeden Tag erhält der Junge jetzt von der frisch gezapften Stutenmilch, er bekommt Tee und Blütenblätter und Beeren, auf denen er kaut. Die Gesichtsfarbe wechselt von einem käsigen Weiß in ein zartes helles Braun mit roten Wangen.
Solveig setzt sich jeden Tag mit dem Jungen auf ein Pferd und reitet langsam um den See. Später wird das Tempo schneller.
Sie beginnt mit dem Jungen spielerisch um die Wette zu laufen und mit ihm zu balgen. Sie hebt mit dem Jungen Steine auf und stemmt sie, wie in einem Gewichtshebertraining.
Nachts spannt sie ihren Energiegürtel und entfacht ihr Feuer aus Energie.
Dem Jungen geht es von Tag zu Tag besser. Sie fangen Fische. Sie zünden Feuer an. Sie machen Wanderungen zu Fuß.
Nach zwei Wochen reitet der Junge selbständig auf einem der Pferde mit ihnen zurück, so, als wäre er nie krank gewesen.
3.
Der Vater des Kindes hatte bereits einen der Helfer zurückgeschickt, um zu berichten. Als sie jetzt in das schlossartige Anwesen der Familie zurückkehren, werden sie empfangen, wie bei einem Staatsempfang.
Manal, der Clanführer, würde nie vor einer fremden Person knien. Er begrüßt zunächst sein Enkelkind, dreht es mehrfach um die Achse, und als Abay dem Alten lachend Einhalt gebietet, nimmt der Alte Solveigs Hände, und er senkt minutenlang den Kopf. Das ist seine Form der Hochachtung, während die gesamte Sippe in tiefes Schweigen verfällt.
Seine Dankbarkeit zeigt er, indem er Solveig versichert, sie könne alles von ihm haben, was er ihr erfüllen könne.
Solveig hält seine Hände. Er spürt diese Wärme und sie bittet, „lass mich noch drei Wochen hier bleiben. Ich möchte sie mit dem Jungen verbringen und das tun, weshalb ich hierher gekommen bin. Abay kann mir dabei helfen. So habe ich ihn ständig unter Beobachtung.“ Sonst sagt sie nichts. Keine andere Bitte, kein Verlangen nach Geld. Nur die Fürsorge für den Jungen, die Pferde und die Greifvögel. Der Alte ist schwer beeindruckt. In den nächsten Tagen muss er erfahren, dass Solveig das ernst meint, was sie da gesagt hatte: „In unserer Familie gibt es eine lange Tradition“, und sie hatte hinzugefügt. „Freunde helfen Freunden, ohne lange zu fragen. Auch ihr habt in eurem Land so einen Brauch. Wenn ich einmal eure Hilfe brauche, dann werde ich euch darum bitten, aber erst dann. Jetzt aber lasst uns das tun, was wir auch sonst tun. Wir alle haben unsere Arbeit. Wir müssen unsere Familien versorgen.“
Abay scheint völlig genesen zu sein. Solveig kümmert sich um den Jungen, um die Pferde und die Greifvögel. Sie lässt ihn helfen. Sie beobachtet ihn und leitet ihn an. Sie summt das Kind ein und sie wird zur „Tante“ für den Jungen. Sie ist sich sicher, dass Sie hier Freunde fürs Leben gefunden hat.
Sie erhält ihr übliches Honorar und darf sich ein paar dieser struppigen Pferde aussuchen, die man ihr „gratis“ nach Peru schicken wird. Sie stellt keine Forderungen.
Manal hatte sich mit seinen Söhnen