Die Schamanin. Hans-Peter Vogt

Читать онлайн книгу.

Die Schamanin - Hans-Peter Vogt


Скачать книгу
dreht sich Solveig um. „Kommt. Es gibt keine Gefahr mehr. Na los doch!!! Wir können nicht ewig warten.“

      Sie führen die Pferde hinunter. Die Wachen stehen, wie erstarrte Salzsäulen. Einer der Männer geht zu einer der Wachen und macht mit der Hand eine Bewegung vor den Augen. Diese Augen sind starr und leblos. Er ist verblüfft, dann eilt er den Freunden nach.

      Sie gehen auf der anderen Seite die Straße hinauf, bis sie zu einem Abzweig kommen, dann dreht sich Solveig um und löst den Bann. Auch sie hält jetzt den Finger an die Lippen. „Los jetzt.“

      Sie gehen zwischen die Büsche, sie folgen dem Trampelpfad, der steil bergauf führt. Sie überqueren die Kuppe und setzen ihren Weg fort. Eine Stunde später meint einer der Männer. „Reiten wir.“

      Sie nehmen den Pferden die Lumpen von den Füssen, stecken sie in eine der Satteltaschen, schwingen sich auf die Pferde und schnalzen mit der Zunge. Es ist unter den Bäumen stockdunkel, aber die Männer reiten wie die Teufel.

      Das geht zwei Tage so. Mehre Male steigen sie ab und binden den Pferden die Lumpen wieder um die Füße, dann sagt der Anführer. Ab jetzt können wir die Pferde laufen lassen. Laufen lassen... Die Männer hetzen die armen Pferde fast zu Tode.

      Solveig hat keine Ahnung wo sie ist. Aber bei diesem Höllentempo hatten sie sicher schon zweihundert Kilometer zurückgelegt, vielleicht dreihundert oder vierhundert oder noch mehr.

      Sie kommen schließlich an einen Fluss und der Anführer ruft wieder den Ruf des Vogels. Dann wird auf der andern Seite ein Lichtzeichen gegeben.

      Sie treiben die Pferde in den Fluss, lassen die Pferde eine Weile schwimmen und steuern dann ein flaches Ufer an, wo sie den Fluss verlassen. Solveig bemerkt, dass sie in den nächsten Stunden von vielen Augenpaaren begleitet werden.

      Dann erreichen sie eine Art Dorf. Naja. Das ist wohl ein sehr geheimes Dorf. Jedes Gebäude ist durch Zweige und Bäume getarnt, und Solveig riecht den Geruch des Todes.

      Die Männer rufen den Ruf des Vogels, dann tritt einer der Bewohner vor die Tür. Solveig erschrickt.

      „Wartet“, befiehlt sie, „kein Körperkontakt.“ Sie baut ihr Energiefeld um sich und geht auf den Mann zu.

      Die Symptome sind eindeutig. Diese Menschen sind an der Ruhr erkrankt. Wahrscheinlich sind schon einige gestorben. Sie schaltet das Feuer eine Stufe höher und fragt den Mann. „Ich sehe, du brauchst meine Hilfe. Sag mir mehr.“

      Der Mann wirft sich auf die Knie. „Schluss damit“, befiehlt Solveig. „Ich will Antworten.“

      Der Mann beginnt stockend zu erzählen. Ja, etwa 60 Männer seien schon gestorben. Es gibt aber auch Frauen und Kinder in dem Dorf. Viele sind bereits tot. Die Männer wissen nicht, was zu tun sei.

      Solveig dreht sich zu ihren Begleitern um. „Kein Körperkontakt. Sammelt alles was ihr habt an Bottichen. Kocht die Kleidung aus, aber fasst sie nur mit Stöcken an. Kocht die Bettlaken und Handtücher aus. Kocht das Trinkwasser ab. Stellt Zelte auf. Die Menschen müssen aus den Häusern raus. Gibt es genug zu essen? Gibt es irgendwo Toiletten? Fasst die Kranken nicht an. Sie sollen sich selbst in die Zelte schleppen. Stellt ihnen saubere Schüsseln mit abgekochtem Wasser vor die Zelte. Sie sollen versuchen, sich zu waschen. Frauen, Männer, Kinder. Kocht das Waschwasser ab, und auch ein zweites Mal, bevor ihr es wegschüttet. Keiner der noch Gesunden fasst die Kranken an. Kein Kontakt mit Speichel und Exkrementen. Ich will hier Sauberkeit, soweit das möglich ist. Jetzt bringt mir einige der Kranken aus dem Haus. Ich will sie mir ansehen, aber ich fasse sie nicht an.“

      Ihre Befehle werden unmittelbar umgesetzt. Sie sieht sich die Kranken aus einiger Entfernung an, dann sagt sie. Ich muss noch mal weg. In zwei oder drei Stunden bin ich wieder da. Befolgt meine Befehle. Tut alles, was ich gesagt habe.“ Dann ist Solveig auf einmal verschwunden.

      Vier Stunden später ist sie wieder da. Sie wird begleitet von zwei ihrer Cousinen und sie tragen große Rucksäcke. „Das sind Maria und Lara“, erklärt Solveig. "Mehr müsst ihr jetzt nicht wissen." Sie sehen nach den Bottichen und den Zelten. Sie haben sterile Handschuhe und einen Mundschutz dabei und sie werfen jetzt verschiedene Blüten, Beeren und Blätter ins Wasser. „Jeder trinkt das jetzt“, befiehlt Solveig, „egal wie schwach er ist. Der Tee wird mit einer Kelle geschöpft, die keiner der Kranken je anfasst. Merkt euch das. Ihr trinkt jeden Tag mindestens fünf Liter, bis euch diese Flüssigkeit zu den Ohren rauskommt. Gesunde und Kranke. Jeder benutzt seinen eigenen Becher. Niemand fasst den Becher eines anderen an.“

      Maria packt einen der Rucksäcke aus. Da sind verschiedenfarbige Plastikbecher drin. „Achtet darauf. Vertauscht die Becher nicht. Wir werden sie später verbrennen. Wenn wir mehr davon brauchen, dann werden wir sie besorgen.“

      Dann ziehen sich Solveig und Lara um. Sie beginnen die Kranken zu untersuchen. Es sind einige schwangere Mütter dabei. Viele der Kranken sind in einem katastrophal schlechten Zustand.

      Sie bleiben insgesamt drei Wochen, und inzwischen wissen sie, dass sie irgendwo im Grenzgebiet zwischen Bhutan, Bangladesh und China sind. Wo genau, das weiß Solveig nicht.

      Immer wieder kommen neue Männer ins Dorf, andere gehen. Solveig hatte schnell herausgefunden, was da geschieht. Diese Menschen leben vom Anbau von Mohn und von der Veredelung von Heroin.

      Sie bauen das nicht selbst an. Dafür haben sie Leute. Sie organisieren diese Geschäfte, sie überwachen sie und sie transportieren die Ware. Es ist eine gut organisierte und gut bewaffnete Truppe.

      Solveig hatte sich mit ihren Cousinen kurzgeschlossen. „Wir helfen, aber wir mischen uns in die Geschäfte nicht ein. Wir verhindern nichts und wir begünstigen nichts.“

      Maria springt in dieser Zeit mehrfach nach Peru und kommt mit einem vollen Rucksack wieder.

      Sie benutzen keine chemischen Medikamente. Sie wissen, wie man das Problem anders löst. Tatsächlich sterben noch einige Menschen. Nach etwa zehn Tagen tritt eine langsame Besserung ein. Nach drei Wochen scheint das Gröbste geschafft.

      „Wir haben noch andere Aufgaben“, sagt Solveig. „Eine von uns wird hier bleiben. Wir wechseln uns ab, und wir sind in den nächsten vier bis sechs Wochen da, bis alle, die jetzt noch im Busch sind, sich zurückgemeldet haben, und bis die Krankheit endlich ausgerottet ist.“

      Der Anführer der Truppe fällt vor Solveig auf die Knie. Er küsst ihr die Hand, an der sie den Siegelring trägt und nennt sie seine Königin.

      Solveig weiß längst, dass sie der Frau und dem Kind des Mannes das Leben gerettet hatte.

      „Ich möchte mit dir reden“, sagt sie, dann fordert sie ihn auf, sich mit ihr alleine zu setzen. „Erzähl mir von deiner Organisation.“

      „Das solltest du eigentlich nicht wissen“ sagt der Mann, „aber du hast uns allen das Leben gerettet.“ Er schweigt einen Moment. „Viele Menschen in unseren Bergen können nur leben, weil sie Mohn anbauen und verarbeiten. Es spielt keine Rolle, in welchem Land sie leben. Es ist hier überall so, von Usbekistan bis hinunter nach Laos. In vielen Staaten der Umgebung gibt es Militärregierungen. Ein Anbau von Mais, Reis und anderen Dingen macht uns nicht satt. Die Weltmarktpreise sind so, dass wir verhungern würden. Die Abgaben an den Staat sind mörderisch hoch. Die Beamten und Militärs wollen bestochen werden. Was sollen wir also tun? Wir sind in den Busch gegangen. Nicht nur die Kämpfer, sondern ganze Dörfer von Bauern. Wir leben illegal und es gibt viele von uns. Hier in unserem Land und in vielen Nachbarländern. Es gibt einige gute Transportfirmen, das Geschäft floriert, und wir haben Freunde, die uns unterstützen.“

      Er zuckt mit den Schultern. „Mir wäre es egal. Ich würde die Bauern auch Reis anbauen lassen, aber es geht nicht. So leben wir im Verborgenen. Wir wehren uns. Wir kämpfen gegen die Militärs. Wir machen uns unsichtbar, wie in China, in Burma, in Nepal, in Bangladesh, in Laos und in Sikkim. Selbst im Norden Thailands und in einigen wenigen Gebieten in Nord-Vietnam. Wenn es brenzlig wird, dann überschreiten wir die Landesgrenzen und suchen den Schutz von Freunden, bevor wir zurückkehren, und unsere Geschäfte wieder aufnehmen. Manchmal


Скачать книгу