Die Macht des Tunnels. Hans P Vogt

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Die Macht des Tunnels - Hans P Vogt


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      Damals war die innerdeutsche Grenze gerade erst gefallen.

      Zwar fuhr die U-Bahn schon immer durch ganz Berlin, schon vor dem Mauerfall, aber das gesamte Berliner U-und S-Bahnnetz musste jetzt regelmäßig geprüft, gewartet und erneuert werden.

      Papa konnte umsonst mit Bahnen und Bussen fahren, wann immer er wollte. An den Wochenenden fuhren Papa, Mama und Dennis manchmal mit der Bahn in den Grunewald oder an die Spree. Das Auto blieb meist zu Hause stehen.

      Einmal hatte Papa Dennis mitgenommen in den Führerstand der U-Bahn. Dennis durfte eine Station lang auf dem Schoß des Zugführers sitzen. Die Lichter der Bahn bohrten sich in den langen dunklen Tunnel. Die U-Bahn raste hinter den Lichtkegeln her. Die Maschine heulte beim Gasgeben und beim Abbremsen wie eine Raubkatze - so kam es Dennis vor.

      Beim Einfahren in die Bahnhöfe kreischten die Bremsen und Dennis musste sich an den Armen des Lokführers festhalten, um nicht nach vorn zu fallen. Obwohl Dennis die rasende Geschwindigkeit im Führerstand ganz unmittelbar erlebte, hatte er keine Angst. Er hatte das Gefühl durch den Tunnel zu fliegen. Das war ähnlich wie auf seinem Laufrad. Nur viel schneller und viel intensiver. Die tanzenden Lichter der Signale, der Lichtschein der Scheinwerfer auf den Leitungen, der Schimmer auf den Gleisen und die Schatten in seitlich abgehenden Gängen brannten sich tief in sein Gedächtnis ein. Es war für Dennis ein Schlüsselerlebnis, das er nie vergessen sollte.

      Es war klar verboten, was Papa und der Kollege da machten. Aber davon erfuhr Dennis nichts und es kam auch nie etwas heraus.

      Obwohl Dennis oft mit Mama und Papa mit der Bahn fahren durfte - dieses Erlebnis war wirklich einschneidend und noch einige Wochen lang Gegenstand in seinen Träumen.

      3.

      Mamas Bauch wurde gewaltig dick. Dennis musste nun vorsichtig mit Mama sein. Einmal war er beim Toben direkt in Mama hineingerannt. Sie war fast gestürzt. Wenn Dennis mit seinem Laufrad unterwegs war, ging ihm seine Mutter aus dem Weg. Sie versuchte ihn ein wenig zu bremsen, aber sie verstand auch, dass Dennis als ein lebhaftes Kind viel „Auslauf“ brauchte. Sie liebte ihn dafür.

      Sie war froh, dass Dennis wenigstens beim Einkaufen an der Hand blieb, ihr beim Tragen half oder in kurzem Abstand vor ihr herhüpfte, ohne auf die Straße zu rennen. Das war für einen knapp Dreijährigen schon eine sehr verantwortungsvolle Angelegenheit. Dennis hatte immer etwas zu tun. Mama gab ihm Aufgaben. Sie kuschelten. Sie erzählten. Mama war eine gute Zuhörerin. Aber es fiel ihr körperlich zunehmend schwerer, bei Dennis Tempo mitzuhalten. Deshalb sprach sie sich mit den andern Eltern ab und sie organisierten an den Nachmittagen Treffen der Kinder, damit Sie etwas Zeit und Ruhe finden konnte für die notwendigen Besuche beim Frauenarzt, bei der Schwangerschaftsgymnastik und bei der Hebamme.

      Mamas Bauch wurde so dick, dass Dennis sich Sorgen machte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie das Kind da raus kommen konnte, ohne dass der Bauch platzt. Aber Mama beruhigte ihn. Das würde schon werden. Vor Dennis Geburt sei der Bauch auch so dick gewesen. „Bäuche platzen nicht“ sagte sie bestimmt. Sie musste es wissen.

      Das vierte Zimmer war inzwischen als Kinderzimmer hergerichtet. Es gab eine Wickelkommode, ein Babybett und einen Schrank für Kleidung und Windeln.

      Eines Tages erzählte Mama, es wäre jetzt bald soweit. Es war organisiert, dass Dennis vor der Geburt von einem seiner Freunde abgeholt wurde. Er hatte schon öfter bei Susi und Allan geschlafen. Dennis fühlte sich dort geborgen. Er hatte kein Heimweh. Papa wollte bei der Geburt dabei sein. Er erhielt Urlaub.

      Am nächsten Tag wurde Dennis von Papa abgeholt. Sie fuhren in die Klinik. Das Baby war da. Es lag dick eingepackt in weiße Tücher und lag neben Mama im Bett. Nur das Gesicht war zu sehen. Dennis staunte nicht schlecht. Dieses hässliche, runzlige und rote Gesicht sollte sein Bruder sein.

      Mama und Papa waren voll Verständnis für ihn. Das würde bald anders werden. Dennis durfte seinen Bruder anfassen.

      Patrick machte die Augen einen Spalt auf, schnaufte, schloss die Augen wieder und schlief wieder ein. Dennis fing schnell an, sich zu langweilen.

      Zwei Tage später war Mama wieder zu Hause.

      Papa blieb noch ein paar Tage zu Hause.

      Dennis fand Patrick ziemlich anstrengend. In den ersten Nächten wachte Dennis öfter auf, weil Patrick schrie und seinen Eltern wenig Schlaf gönnte. Das wurde nach ein paar Tagen besser. Die rote Farbe wich langsam aus Patricks Gesicht. Die Runzeln blieben. Patrick sah so ähnlich aus, wie die Schimpansen im Zoo, fand Dennis. Spielen konnte man mit Patrick nicht. Aber er war vorübergehend eine Attraktion. Man konnte ihn rumzeigen. Die andern Kinder der Gruppe durften das Baby begutachten. Man war sich schnell einig, dass es viele Fragen gab.

      Das Baby wurde für Dennis ziemlich schnell uninteressant. Es machte all die Dinge nicht mit, die für Dreijährige wichtig sind. Aber es gab auch Dinge, die für Dennis neu waren. Er beobachtete.

      Für Dennis änderte sich einiges im Leben. Er war nicht mehr der alleinige Mittelpunkt. Er war nun der große Bruder. Er durfte dabei sein, wenn Patrick gebadet und gewickelt wurde.

      Er durfte Patricks Hand halten und staunte nicht schlecht, als Patrick das erste Mal seinen - Dennis - Daumen mit der Hand umschloss. In dieser kleinen Hand lag viel Kraft. Ähnlich, wie damals - als Mama Dennis Hand auf ihren Bauch legte, fühlte Dennis eine eigenartige Wärme in seiner Hand, die langsam den Arm hinaufkroch, bis sie seine Schulter erreichte. Dennis war verwirrt und machte sich aus dem Klammergriff mühsam frei.

      Dasselbe passierte Dennis noch öfter. Immer breitete sich die Wärme von Patricks Hand wie Wellen in Dennis Arm aus. Er ahnte, dass Patrick auf diese Weise mit ihm redete. Also nahm auch Dennis mit Patrick Kontakt auf. Auf seine Weise. Er redete und erzählte. Patrick beobachtete Dennis aus seinen leuchtenden blauen Augen. Es waren dieselben blauen Augen, die auch Dennis hatte. Nicht selten fing Patrick an zu quieken.

      4.

      Es hätte alles gut sein können, aber Patrick wurde mit drei Monaten krank. Es begann ganz harmlos mit einer Entzündung der Haut rund um den After und rund um den kleinen Pimmel, den Mama den Pullermann nannte. Dennis Mutter säuberte die wunden Stellen mit Öl, und strich den Pullermann dick mit Babycreme ein. Die Entzündung wurde mal besser, mal schlechter. Der Kinderarzt verordnete eine Salbe und Tabletten. Nach 10 Tagen wäre das sicher vorbei.

      Die Entzündung ging in den nächsten Tagen langsam zurück, der Arzt schien recht zu behalten. Doch nach einer Woche war sie wieder da. Schlimmer als zuvor. Der Arzt verschrieb ein neues Medikament. Stärker als vorher.

      Die Entzündung wurde wieder besser. Nach einer Woche wurde sie wieder schlimmer. Schlimmer als zuvor. Der Kot begann sich blutig zu verfärben. Patrick bekam am ganzen Körper Ausschlag. Es war Zeit, mit Patrick ins Krankenhaus zu gehen.

      In der ganzen zurückliegenden Zeit weinte Patrick viel. Wenn Dennis an seinem Bett wachte, nahm der drei Monate alte Patrick Dennis Hände, und schaute ihn mit seinen verweinten blauen Augen an. Jedes mal hatte Dennis das Gefühl, dass Patrick ihm etwas sagen will. Etwas, das Worte braucht. Es war für Dennis nur ein Gefühl, wie das Dreijährige manchmal haben. Die Ahnung war nicht in Worte zu fassen. Mama und Papa bemerkten von diesen Vorgängen nichts.

      Patrick blieb eine Woche im Krankenhaus. Es wurden Untersuchungen gemacht. Patrick erhielt Infusionen und Blutkonserven. Dennis durfte ihn in dieser Zeit nicht besuchen. Der Gesundheitszustand besserte sich scheinbar.

      Patrick blieb noch eine Woche zur Beobachtung, und erhielt in dieser Zeit weitere Infusionen und Blutkonserven. Mama blieb die ganze Zeit im Krankenhaus. Auch über Nacht.

      Für Dennis war das eine harte Zeit. Er brauchte seine Mutter.

      Papa erhielt ein paar Tage Urlaub, um das nötigste zu organisieren, dann musste er wieder arbeiten. Gut, dass Dennis wenigstens seine Kindergruppe hatte.

      Nach


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