Ein unsichtbares Band, genannt Familie. Heli Ihlefeld
Читать онлайн книгу.er als „köstlich“. Die Masch – heute der Maschsee, ein künstlicher See im Zentrum von Hannover, nahe dem Neuen Rathaus aus der pompösen Gründerzeit – war damals eine große Wiese.
„Wenn der Winter begann“, schreibt Opa, „wurde die Masch von der Leine aus – das ist der kleine Fluss, an dem Hannover liegt – voll Wasser gefüllt, und bei Frost ergab sich daraus eine gute Eisbahn, auf der wir das Schlittschuhlaufen erlernten. Im Frühling lief das Wasser wieder in die Leine, das Gras begann zu wachsen.“
Ich lese laut in seinen Erinnerungen an seine Jugendzeit in der Altstadt in der Friedrichstraße und der „wunderbaren Masch“:
„Es gab damals noch keine Fahrräder, Motorräder und Automobile. Pferde zogen die Lastwagen und Karren schoben die Leute. Die Masch war im Sommer eine große Wiese, hatte gutes Gras, das von den Döhrener Bauern zweimal gemäht wurde. Nachher durften die Kinder auf der großen Masch spielen. Unsere Spielgruppe aus der Altstadt hatte aber auch viele heftige Kloppereien mit den Döhrenern, den sogenannten Bütchern. In der Wiese kamen dann auch viele Mäuse hoch, und wir fingen sie gern mit Stockstoß auf den Schwanz. Wir machten uns täglich ein Zelt, saßen im Kreise herum wie Indianer, und eine Pfeife aus einer ausgehöhlten Kastanie an einem Rohrstock mit Tabak aus gedörrten Blättern ging herum. In unserer Mitte waren viele Mäuse mit Bindfäden am Schwanz, die dann am Abend ihr Leben lassen mussten.“
Ich kann keine Geschichten aus meiner Kindheit erzählen. Niemals. Meine Kindheit ist verloren. Das macht mich heute noch manchmal traurig. Von meinem Großvater kamen immer wieder neue Geschichten, die er mir zum Teil auch erzählte, wenn ich aus der Schule kam und er an seinem Marmortischchen saß und Patiencen legte. Zum Beispiel diese:
„Im Herbst des Jahres 1883, als ich acht Jahre alt war, wurde der 400-jährige Geburtstag Martin Luthers in ganz großem Stil gefeiert. Am Morgen des Geburtstages machten alle Schüler eine große Festwanderung durch die Stadt mit Musik und Gesang, die Schülermützen bekränzt mit Eichenlaub.
Unsere Spielgruppe aus der Altstadt besorgte sich am Tage vorher das Eichenlaub von einem großen Eichenbaum auf dem Friedrichsplatz. Ich saß hoch oben auf dem Eichenbaum, als der Platzwächter mit seinem Hund kam und uns fassen wollte. Ich kam nicht herunter. Der Alte, der nicht mehr klettern konnte, blieb aber trotz der Dunkelheit lange unten stehen. Als er schließlich fortging, verschwand ich mit dem Eichenlaub nach Hause. Und da hatten sich meine Eltern schon sehr geängstigt und die Polizei angerufen. Ich bekam von meinem Vater heftige Prügel. Die Schmerzen merkte ich wenig, aber die Schläge hatte ich nicht erwartet für das eingeholte schöne Eichenlaub. – Meine Mutter hatte übrigens am Morgen auf dem Markt schon Eichenlaub für uns gekauft. –
Wenn ich jetzt als alter Mann über den Friedrichsplatz spaziere, betrachte ich den schönen Eichenbaum und erinnere mich, wie ich ihn damals bestiegen habe.“
Wie schön ist es, dass diesem Baum die späteren Bombenteppiche über Hannover nichts anhaben konnten!, denke ich.
Und noch eine andere Geschichte:
„An der Leine bei der Bella-Vista-Brücke war nach der einen Seite ein Garten mit vielen Obstbäumen, der nach der Masch-Seite durch einen kleinen Graben abgetrennt war. Wir machten im Herbst einen Wettlauf um die Masch, und als wir am Obstgarten vorbeikamen und die vielen reifen Äpfel entdeckten, unterbrachen wir den Wettlauf und begannen, Äpfel zu pflücken. Die Jacken wurden ausgezogen, unter dem Baum ausgebreitet und die Äpfel darauf geworfen. Plötzlich erschien der Gartenbesitzer von hinten mit seinem großen Bernhardinerhund. Ich sprang vom Baum herunter, nahm die Jacke mit den Äpfeln hoch, warf sie über den Graben und wollte gerade hinüberspringen, da erfasste mich des Hundes Maul an meiner Hose und hielt mich fest. Das war eine schlimme Situation. Der Gartenbesitzer kam langsam näher und wollte mich fassen. In diesem Augenblick ließ mich der Hund los, und ich sprang über den Graben und war gerettet.“
Nun also war Otto Rüter Sextaner. Sein Vater baute in dieser Zeit mit seinem Kompagnon in der Altusstraße ein Wohnhaus und eine große Schlosserwerkstatt. (Die Altusstraße, die es heute nicht mehr gibt, war damals eine Nebenstraße der Cellerstraße.) Auf diese Weise war der Schulweg zur Leibniz-Schule in der Röntgenstraße nicht mehr weit, denn alles war ja in der List-Stadt.
Seinen Klassenlehrer Dr. Bartels – einen Ostfriesen, der Latein unterrichtete – liebte der Sextaner vom ersten Moment an: „Ich war gleich Primus geworden. In der Leibniz-Schule hatte ich zum ersten Mal Turnunterricht. Auch davon war ich begeistert. Ich habe von da ab fleißig geübt und mein Leben lang viel geturnt.“
Auch die nachfolgenden Generationen waren wie Opa sportlich. Der Bruder meiner Mutter, von dem noch viel die Rede sein wird, war sogar Deutscher Meister im Hochsprung. So jedenfalls wurde es in unserer Familie erzählt. Und mein Bruder Andreas wurde niedersächsischer Sieger im Hürdenlauf. Alle in unserer Familie waren gut in Leichtathletik. Auch ich, obwohl ich mir nichts daraus machte. Wie meine Mutter wollte ich Tänzerin werden. Beim Wollen blieb es dann aber.
Auch bei Opa lief nicht immer alles glatt. Zu Beginn des dritten Schulquartals brach in Hannover eine schwere Scharlach- und Diphtherie-Epidemie aus. Alle Schulen wurden für ein Vierteljahr geschlossen, viele Kinder starben.
Opas Spielgruppe in der Altusstraße wanderte jeden Tag frühmorgens mit Esspaketen zum Benther Berg außerhalb der Stadt, verbrachte dort die Zeit mit Jugendspielen und blieb gesund.
„Dann wurde die Schule wieder geöffnet, aber am zweiten Schultag wurde ich plötzlich krank“, erzählt mir Großvater. „Und der Arzt stellte bei mir Scharlach fest, eine schreckliche Krankheit, die nachher noch durch eine Nierenkrankheit verstärkt und verlängert wurde und mich ein ganzes weiteres Vierteljahr von der Schule fernhielt.“
Ich muss daran denken, wie auch ich als Kind Scharlach bekam. Und das war eine ganz andere Zeit. Es war Krieg. Ich war mit meinem zwei Jahre jüngeren Bruder Andreas vom besetzten Paris aus (wegen seiner guten Französischkenntnisse hatte man meinen Vater in die deutsche Botschaft abkommandiert) in eine „Kinderlandverschickung“ gebracht worden. Wir beide waren zum ersten Mal allein ohne meine Mutter. In einem Zug voller Kinder ging es in den Schwarzwald. Und dort brach dann Scharlach aus. Und auch ich bekam rote Flecken.
„Scharlach!“, meinte der Kinderarzt sofort. Ich kam sechs Wochen auf die Quarantänestation eines katholischen Krankenhauses, weit weg von den anderen Kindern. Auch das war wohl traumatisch für mich. Ich kann mich an niemanden mehr erinnern, an keinen Namen, an kein Gesicht und auch sonst an nichts. Nur etwas ist mir von damals geblieben: Ich konnte den Rosenkranz beten und den habe ich noch lange Jahre weiter getreulich gebetet.
Der kleine Otto Rüter erlebte diese Krankheit ganz anders:
„Als es mir allmählich besser ging, bekam ich richtig Lust meine Grammatik durchzuarbeiten. Am vorletzten Quartalsschultag ging ich wieder in meine Klasse. Auf Wunsch meines Klassenlehrers zeigte ich nun mein Können in Latein. Bei Versetzungen damals kamen nur etwa 50 Prozent der Schüler durch. Aber ich wurde als Primus versetzt. Dr. Bartels erklärte mich zum besten Schüler der Klasse. Das habe ich nie vergessen!“
In der Quinta begann der Französischunterricht für Otto Rüter. Und dieses Jahr verlief gut, ebenso die Quarta. Mit Englisch fingen sie dann in der Untertertia an. Eigentlich waren all die Schuljahre für ihn eine gute und fröhliche Zeit – bis auf eine Erfahrung in der Sexta mit dem Rechenlehrer Dr. Bertram, einem heimtückischen Menschen, der den Schlossersohn aus purer Bosheit schlecht behandelte:
„Ich wollte das eigentlich vergessen, aber ich konnte es bis heute nicht. Wir führten ein Extemporale in Rechnen aus. Ich war in 15 Minuten fertig.“ Danach überprüfte der Junge noch mal, ob alle Aufgaben richtig gelöst waren, und schloss dann sein Heft. „Dr. Bertram kam an mir vorbei und auf seine Frage antwortete ich, dass meine Arbeit fertig sei. Das Heft schob ich nun zur Seite. Und um mir die restliche Zeit zu vertreiben, nahm ich Rechenbuch und Kladde hervor und arbeitete für mich weiter. Da kam Bertram wieder vorbei, sah es und bezichtigte mich des Betruges. Und schrieb mir eine Karzerstunde in das Klassenbuch. Ich wusste gar nicht, was das bedeutete.“
Der kleine Junge verstand das überhaupt nicht. In der Pause sagte ihm dann noch ein Mitschüler, das