Ein unsichtbares Band, genannt Familie. Heli Ihlefeld

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Ein unsichtbares Band, genannt Familie - Heli Ihlefeld


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beruhigte seinen Sohn dann sehr schnell und versprach ihm, mit seinem Klassenlehrer über den Vorfall zu reden.

      „Das war dann aber gar nicht mehr nötig, denn am anderen Tag kam mein Klassenlehrer vom Militär zurück und las den Vermerk im Klassenbuch. Ich musste ihm alles erzählen. Daraufhin strich er den Bericht im Klassenbuch einfach aus. Dr. Bertram war wütend, aber danach habe ich nichts mehr von der Sache gehört.“

      Dr. Bertram ließ Otto Rüter nun einfach links liegen, verließ aber bald darauf die Schule und mein Großvater war froh.

      Was Lehrer so alles anrichten können! Sicher war dieser Bertram mit daran schuld, dass Opa plötzlich nach der mittleren Reife trotz seiner blendenden Zensuren abgehen wollte. Bei mir war das umgekehrt. Auch wenn ich mich während meiner Schulzeit häufig missverstanden und ungerecht behandelt fühlte, wie zum Beispiel vom „Mathe-Schmidt“. Wir hatten eine Zeit lang Mathematik bei unserer sehr strengen Direktorin Bernecker, und ich war in dieser Zeit immer gut in Mathe. Es machte mir auch viel Spaß. Dann kam an ihrer Stelle der besagte Herr Schmidt in unsere Klasse, ein schöner, aber langweiliger Mann. Der stufte mich von Anfang an schlecht ein und begründete es damit, dass ich bei Rechenaufgaben manchmal nicht bis zur dritten Stelle hinterm Komma genau war. Bernecker war es auf die Lösungen der Aufgaben angekommen, die ich immer richtig hatte. Mathe-Schmidt bewertete das gar nicht. Er war eben einfach nur pingelig. Und ich verlor meinen Spaß an der Mathematik. Doch im Gegensatz zu Opa wollte ich trotz des Frusts mein Abitur unbedingt machen – obwohl mein Vater wohl ganz gerne das Schulgeld gespart hätte. Denn Mädchen würden ja sowieso heiraten, wie auch er damals meinte und wie es eben zu der Zeit die landläufige Meinung war.

      Der Unterricht in der Schule blieb für den Jungen dennoch leicht. Er war und blieb Klassenprimus mit den entsprechenden Zeugnissen. Aber nach der Untersekunda, dem Einjährigen, hatte er eigentlich keine Lust mehr, mit der Schule weiterzumachen. “Mir war der Gedanke gekommen, Exportkaufmann in Hamburg zu werden und dann ins Ausland zu gehen.“ Jetzt war jedoch der Vater, der ihn ursprünglich gar nicht auf die höhere Schule hatte gehen lassen wollte, entschieden gegen diesen Plan.

      Opa zwinkert mit den Augen und sieht mich liebevoll an: „Ich musste auf der Schule bleiben. Aber den Unterricht, den wir nun hatten, ohne die vielen Extemporalien, hat mir dann wieder Spaß gemacht, und ich habe sehr gerne die Schule bis zum Ende durchgemacht.“

      „Du hast einfach immer Glück gehabt“, meine ich. „Aber eigentlich war es bei mir nicht anders. Ab der Obertertia fand ich die Schule prima. Endlich durften wir denken und mussten nicht ständig nur auswendig lernen und pauken. – Lag es daran, dass wir nun mehr gefordert und selbstständiges Denken erwartet wurde, Opa?“

      „Bei dir bestimmt!“ Habt ihr auch wie wir einmal im Jahr einen Tagesausflug in die Umgebung gemacht?“, fragt er mich.

      „Bei uns war es das Schullandheim und in der Untersekunda eine herrliche Klassenfahrt nach Süddeutschland.“

      Das hätte auch Opa gefallen. Ihm fällt dann noch ein Schulfest im Tiergarten ein, das er ebenfalls so schön fand.

      „Lehrer und Schüler fuhren in einem Extrazug vom Bahnhof Hannover zum Bahnhof Tiergarten. Dann marschierten wir alle feierlich mit unseren Klassenfahnen und Musik und Gesang durch den Wald zum Gasthaus Tiergarten. Dort wurde erst Kaffee getrunken und danach begannen die Wettkämpfe im Turnen. In der Sexta standen wir alle im Kreis und sprangen über das kreisende Seil.

      Ich wurde Sieger. In der Quinta mussten wir zu den Holzkletterstangen laufen, raufklettern und wieder runter und zurück laufen. Ich war der Letzte. Klettern konnte ich nicht besonders. In der Quarta fiel das Schulfest aus wegen des Todes der beiden deutschen Kaiser [Wilhelm I. und Friedrich III.] In der Untertertia machten wir Freihochsprung, in der Obertertia Bock-hochsprung. Beide Male war ich wieder Sieger. Im Turnen war ich einfach gut, da ich ja auch nebenbei schon in der Schülerriege des Turnclubs Hannover turnte.“

      Zum Kummer von Otto Rüter wurde später das Schulfest nicht mehr veranstaltet. Warum hat er nie erfahren.

      DIE LIEBE ODER DIE SCHÖNE KUNSTLÄUFERIN

      Als Untersekundaner war er als leidenschaftlicher Turner in die Männerabteilung des Turnclubs Hannover eingetreten. Er kam erst in die dritte Riege, aber schon ein Jahr später in die erste. Er habe dort viel gelernt, erzählt er, und er war jedes Jahr beim Wettturnen mit anderen Vereinen dabei. Im Sommer wurde außerdem viel geschwommen und im Winter Schlittschuh-Kunstlaufen geübt.

      „Leibesübung war meine Leidenschaft. Als Oberprimaner habe ich 27 Stunden wöchentlich darauf verwandt. In den oberen Klassen hatten wir in unserer Schule einen Schülerturnverein. Den leitete ich als Oberprimaner. Als wir zum Stiftungsfest ein Schauturnen veranstalteten, hat mir das viel Lob von den Zuschauern eingebracht.“

      Beim Schlittschuhlaufen trainierten die Kunstläufer auf einem besonderen Platz der Eisbahn. Dort fiel dem Primaner Rüter ein schönes junges Mädchen auf, „das außerdem glänzend lief “. Nicht nur sie gefiel ihm, sondern er ihr auch – „wie ich später erfuhr. Bei unserem Abiturball war sie meine Tischdame.“

      Aber ich will nicht vorgreifen. Es läuft eben alles folgerichtig bei Otto Rüter – bis zu einem gewissen Punkt. Bei seinen Nachkommen dafür um so weniger.

      Darum zurück zu seiner Schulzeit. Opa fiel da noch manches Vergnügliche ein, das mich an Ludwig Thomas Lausbubengeschichten erinnert:

      „Im letzten langen Vierteljahr der Untersekunda schrieben wir in jedem Fach zwölf Extemporalien, die bei mir alle null Fehler hatten. Dr. Hahne, der uns in Englisch und Französisch unterrichtete, wollte mich reinlegen durch schwere Fragen bei den französischen unregelmäßigen Verben in Verbindung mit Fürwörtern, Fragen und Verneinungen. Als er nach der Prüfung am anderen Tag in die Klasse kam, warf er mir mein Heft quer durch den Raum an den Kopf, den ich jedoch schnell zur Seite bog. Dadurch traf das Heft meinen Hintermann. Ich hatte wieder null Fehler. Zwei Mitschüler nur bekamen eine Drei, alle anderen Vieren und Fünfen. Er machte mich an, weil ich die Stellung der Fürwörter – eine schwierige Aufgabe – immer richtig gemacht hatte, er mich also nicht hatte reinlegen können.

      Ich musste laut lachen und verriet dann, dass ich mir einen besonderen Vers gemacht hätte, der leider nicht in der Grammatik stehe:

      ‚me, te, se, nous, vous vor le, la, les

      le, la, les vor lui und leur

      lui und leur vor y und en

      y vor en‘

      Dieser Vers hat Dr. Hahne sehr gefallen, und er hat ihn seinen späteren Schülern beigebracht.“

      Wenn ich aus der Schule kam und Opa an seinem Patiencen-Tisch saß, fragte er mich immer, was ich in der Schule für Fächer gehabt hätte. Und wenn ich sagte „Französisch“, erzählte er mir auch diese Anekdote, wohl in der Hoffnung, ich würde mir diesen Vers aneignen. Habe ich auch, aber null Fehler in einer Französischarbeit – ich kann mich nicht erinnern!

      Und Opa erzählte noch eine weitere Schulanekdote:

      „Von meinem Deutsch-Professor Dr. Rawe erhielt ich in der Oberprima die Aufgabe, eine Rede zum Thema ‚Malerei und Wald‘ zu halten.“

      Dazu hatte Opa nun gar keine Lust und bereitete sich auch nicht darauf vor.

      Als er dann an die Reihe kam, begann er einfach wie folgt:

      „Ich war als Unterprimaner mit drei Freunden durch Thüringen gewandert, war im Schwarzatal auf den Berg gestiegen, wo Goethe den Vers gedichtet hat: Über allen Wipfeln ist Ruh ... Bei herrlichem Wetter übersah ich die wunderbar schönen Wälder, war begeistert und rief schließlich aus: , Ach, wenn ich die Wälder malen könnte!` Meine Klasse brach in brüllendes Gelächter aus. Dr. Rawe, der anscheinend begeistert war, wurde sehr böse und schimpfte mit der Klasse. Dann bat er mich, die Rede mit dieser schönen Einleitung noch einmal zu beginnen. Ich tat so, als hätte mich das Gelächter meiner Mitschüler sehr erschüttert, und bat, mich aufhören zu lassen. Er fand meinen Gram berechtigt. Ich brauchte meine Rede nicht weiter zu halten,


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