Ausweitung der Kontingenzzone. Christian Schuldt

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Ausweitung der Kontingenzzone - Christian Schuldt


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sind jedoch hilflos, sobald die Eingabe den Bereich der ihnen bekannten Daten überschreitet. In diesem Sinne ist KI eine „Fake Intelligence“ (vgl. Schnabel 2018): Sie kann zwar Texte übersetzen, medizinische Diagnosen erstellen und Muster humanen Verhaltens imitieren, aber kein echtes Verständnis davon erlangen. Sie kann die Teilnahme an Kommunikation simulieren, aber kein dem Menschen ebenbürtiger Kommunikationspartner sein.

      Interessant ist nun aber die Tatsache, dass und wie gerade dieser quasiautistische Charakter der KI die genuin menschlichen Kompetenzen mit neuer Bedeutung auflädt. In der industriellen Revolution gewann der Mensch das „race against the machine“, indem er seinen Verstand, seine Rationalität kultivierte. Die digitale Revolution verlangt nun die Kultivierung ganz anderer Kernkompetenzen, da KI auch die Automatisierung mentaler Aufgaben ermöglicht. Die wahre KI-Lektion besteht deshalb nicht darin, den Maschinen das Denken beizubringen, sondern umgekehrt: Die Maschinen bringen uns Menschen bei, was Denken und Menschsein eigentlich ist und sein kann.

      Diese Einsicht ebnet zugleich den Weg für einen kooperativen Umgang mit KI, für ein konstruktives Zusammenspiel von intelligenten Menschen und smarten Maschinen (vgl. Schuldt 2019a; Zukunftsinstitut 2019a). Denn KI nötigt uns nicht nur dazu, ein neues Menschenbild zu entwerfen, sondern auch ein neues Maschinenbild, das technologische „Intelligenz“ ernst nimmt als integralen Bestandteil unserer Gesellschaft. Es geht um den Shift von einem Mensch-versus-Maschine-Denken hin zur Schaffung von Mensch-plus-Maschine-Umwelten, in denen KI die menschliche Intelligenz nicht ersetzt, sondern erweitert.

      Schließlich sind Mensch und Maschine im Team erfolgreicher als für sich allein: Gemischte Teams aus Mensch und Computer sind selbst stärksten Schachcomputern überlegen, auch bei der Auswertung von MRT-Scans ist die Fehlerquelle am niedrigsten, wenn Mediziner und KI-Systeme nicht für sich operieren, sondern zusammenarbeiten (vgl. Camelyon16 2016). Richtig klug wird KI also erst im Zusammenspiel mit dem Menschen. Dieses Teamwork kann aber nur gelingen, wenn die Kommunikation zwischen beiden Partnern funktioniert. Ins Zentrum rückt damit die Frage, wie sich die spezifische Intelligenz der Maschinen vernetzen lässt mit der ganzheitlichen Intelligenz von Körper, Gehirn, Bewusstsein und Gesellschaft. Oder präziser: wie und wo sich die komplementären Kompetenzen von Mensch und Maschine so ergänzen können, dass beide ihre jeweiligen Potenziale optimal entfalten.

      Computer können am besten rechnen und Muster erkennen, Menschen können am besten verstehen, kontextualisieren, reflektiert entscheiden. Erfolgreiche Mensch-Maschine-Teams sind deshalb hybride Mixturen aus Logik und Intuition, die gemeinsam eine höhere Qualität schaffen als jeweils für sich allein. Einen guten Rahmen für diese symbiotische Beziehung bilden Systeme, in denen Maschinen den Menschen unterstützen, aber am Ende der Mensch die Entscheidungen trifft: Der Computer analysiert Daten und berechnet Wahrscheinlichkeiten, der Mensch erkennt Zusammenhänge, bringt Erfahrung und Intuition ein – und beide Seiten profitieren voneinander. Immer mehr wandelt sich damit die Funktion des Computers vom bloßen Werkzeug zu einer Art komplementär agierendem Kollegen, mit dem der Mensch auf Augenhöhe kommuniziert.

      Die sensorische und motorische Aufrüstung der Maschinen verweist zugleich auf die Aspekte der kontingenten Selbstherstellung, die den Menschen ausmacht. Denn da das Zusammenspiel von Bewusstsein, Organismus, Gehirn, Technik und Gesellschaft auch ganz anders sein könnte, muss letztlich auch der Mensch selbst kontingent gedacht werden (siehe III., „Neo-Humanismus: KI und Kontingenzintelligenz“, S. 97). Ein synergetisches Zusammenspiel von Mensch und Maschine eröffnet dann sogar neue Potenziale der Kontingenzgestaltung: eine Art „Ordnung zweiter Ordnung“, die aus der neuen Unordentlichkeit der vernetzten Gesellschaft erwächst und neue hybride Verknüpfungen entstehen lässt. Eine Evolution 4.0.

II. HYBRIDISIERUNG

       If a new result is to have any value, it must unite elements long since known, but till then scattered and seemingly foreign to each other, and suddenly introduce order where the appearance of disorder reigned. (Henri Poincaré)

       Evolution II: Morphogenese

      Um die neuen, hybriden Figurationen zu beleuchten, die im Kontext der Vernetzung entstehen, braucht es erneut eine evolutionäre Perspektive. Nur so wird deutlich, wie aus dem Kontrollverlust der nächsten Gesellschaft, aus der intensivierten Tendenz zur Entropie, doch wieder Negentropie entstehen kann: eine zumindest vorübergehende Ordnung.

      Dafür gilt es zunächst generell zu verstehen, wie sozialer Wandel funktioniert. Der Begriff des „dynamischen Systems“ allein hilft nur bedingt weiter. Eine plausible Theorie des sozialen Wandels muss auf den Begriff der Autopoiesis zurückgreifen, auf das Konzept der emergenten Selbstorganisation: Autopoietische Systeme sind gewissermaßen von Natur aus dynamisch, da sie ihre Elemente als Ereignisse konstituieren und ständig auswechseln müssen. So liefert die Autopoiesis die Bedingung für die Änderbarkeit von Strukturen – die wiederum die Voraussetzung für die Wahrnehmung von Wandel bilden, denn ohne Struktur kann es auch keinen Strukturwandel geben: „Strukturen garantieren trotz der Irreversibilität der Ereignisse eine gewisse Reversibilität der Verhältnisse“ (Luhmann 1984, 472).

      Geht man von einer Theorie autopoietischer, selbstreferenziell-geschlossener Systeme aus, verliert auch der Begriff der Anpassung an Aussagekraft. Die entscheidende Frage lautet vielmehr, mit welcher Semantik ein System selbst die Unterscheidung von System und Umwelt bestimmt, die dann wiederum systeminterne Anpassungsnotwendigkeiten generiert: „Alle Strukturänderung, sei sie nun Anpassung an die Umwelt oder nicht, ist Selbständerung“ (ebd., 478).

      Von besonderer systemtheoretischer Relevanz ist dabei ein Veränderungsmodell, das sich nicht aus Anpassungszwängen ergibt, sondern Strukturänderungen anhand der Differenz von Aktivierung und Unterbindung ermöglicht: die Morphogenese. Durch Morphogenese werden verfestigte Sinnstrukturen reaktiviert, indem kontingente Möglichkeiten in die Systemreproduktion übernommen werden. Auslöser für diese Reaktivierungsprozesse können sowohl evolutionäre Variationen als auch die autopoietischen Operationen der Selbstbeobachtung, Selbstbeschreibung und Selbstorganisation sein.

      Morphogenese schafft also neue Strukturen, indem sie ein vorhandenes System umbaut, sodass dessen Komponenten einen neuen Sinn gewinnen. Damit kennzeichnet Morphogenese auch die Evolution der Verbreitungsmedien, von Sprache über Schrift bis zu Buchdruck und elektronischen Medien. Das morphogenetische Modell ergänzt die Evolutionstheorie um eine Prozesskomponente – und misst zugleich dem Zufall eine prominente Rolle bei: Im unkoordinierten Zusammenspiel von Variation und Selektion entstehen so Strukturen mit immer höherer Unwahrscheinlichkeit.

      Luhmann zufolge wäre die Soziologie „gut beraten, wenn sie mehr Aufmerksamkeit auf die Beobachtung und Beschreibung von morphogenetischen Prozessen verwenden würde, die Unwahrscheinlichkeit normalisieren und akkumulieren, ohne dies beenden zu können“ (Luhmann 1984, 487). Die morphogenetische Perspektive soll daher auch den Beobachtungsrahmen bilden für die Betrachtung der hybriden Verflechtungen und Synergien, die soziale Systeme in der nächsten Gesellschaft eingehen. Konkret beobachten lassen sie sich an den neuartigen Ausprägungen und Ausrichtungen der Funktions- beziehungsweise Subsysteme in der vernetzten Gesellschaft.

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