Gegenwindschiff. Jaan Kross

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Gegenwindschiff - Jaan Kross


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sich Eiswürfel ins Glas. Und ich frage mich: Sammelt er gerade Kraft für ein großes Geständnis oder für ein großes Dementi? Dann kann ich mich nicht mehr zurückhalten:

      »Und Schmidt?!«

      »Tja. Sehen Sie, es war tatsächlich so. Als Vater fertig war, ging Schmidt zum Tisch und schob mir ein weißes Blatt Papier zu: ›Junger Mann, schreiben Sie auf!‹ Verstehen Sie, er hatte keine freie Hand dafür. Er legte seine Hand auf den Spiegel. So leicht, dass es schien, als hätte er den Spiegel überhaupt nicht berührt. Wissen Sie, wie jemand, der Teller jongliert, ohne die Teller zu berühren. Natürlich berührte er den Spiegel. Aber ganz sachte. Und begann mit drei Fingern, vielleicht auch nur mit dem Mittelfinger, vom Zentrum aus eine Spirale zu zeichnen. Im Uhrzeigersinn. Dabei blickte er nach unten, auf den Spiegel, aber ich hatte den Eindruck, dass seine Augen in Wirklichkeit geschlossen waren. Und dabei murmelte er die Daten, die ich aufschrieb. ›Acht Punkte, elf Uhr bis zwei. Eine Unebenheit von bis zu zwei hundertstel Millimetern …‹ Und so weiter. Insgesamt fand er – so erinnere ich mich – elf Unebenheiten. Dann maßen er und mein Vater die Abweichungen mit dem exaktesten Mikrometer nach. Und verglichen die Tiefen und Höhen der Abweichungen, die sie jeweils gefunden hatten. Nun, es hat ja keinen Sinn, eine wissenschaftliche Tatsache zu leugnen. Sofern man dieses Kuriosum so bezeichnen kann. Schmidts Daten waren exakter als die meines Vaters.«

      Ich stelle das Wermutglas auf den Tisch und sage – wobei der Satz mit mehr Begeisterung aus mir herauskommt, als ich vorhatte:

      »Aber Herr Kelter, das ist genial!«

      »Oh, kein Grund, so ein großes Wort zu benutzen. Von Genialität ist das weit entfernt. Aber auf seine Weise war es fast perfekt. Das schon. Wissen Sie, überträgt man diese Fähigkeiten, die er hatte, sagen wir, auf den Bereich der Musik, kann man sagen: Er hatte einfach ein absolutes Gehör, ein sehr absolutes Gehör. Nicht mehr, nicht weniger. Wissen Sie, ob Beethoven ein absolutes Gehör hatte? Sie wissen es nicht? Ich auch nicht. Denn es spielt keine Rolle. Zudem wissen wir beide, dass er später überhaupt nichts mehr hören konnte. Aber er war trotzdem noch Beethoven, nicht wahr? Also machen Sie aus den Fähigkeiten keine große Angelegenheit. Aber meinem Vater imponierte das natürlich sehr. Sehen Sie, er war ein Selfmademan, der sich seine Bildung erst im reifen Alter angeeignet hatte. Er war ein Praktiker alter Schule. Er hatte im Grunde dort angefangen, wo Schmidt seinerzeit steckte: in einem Einmannarbeitszimmer. Natürlich fing er wegen Schmidts Darbietung nicht an, von einem Bein auf das andere zu hopsen. Aber er sagte: ›Herr Schmidt, ich gebe zu, das ist ziemlich imposant …‹

      Sehen Sie, ich sagte eingangs, dass mein Vater kein Gefühlsmensch gewesen sei. Sondern vor allem ein Geschäftsmann. Und im Allgemeinen traf das natürlich auch zu. Aber in seltenen Fällen machte er eine Ausnahme. Oder ein primitiver Gefühlsfunken in ihm machte eine Ausnahme, um genau zu sein. Nun, zum Beispiel schickte er jedes Jahr zu Weihnachten eine gewisse Summe an die Grundschule, die er als Junge besucht hatte. Und manchmal ließ er sich für wohltätige Zwecke erweichen, wenn ihn etwas an seine Kindheit als Waise oder an seine karge Jugend erinnerte. Und Schmidt schien eben solch ein Fall zu sein, der ihm seine eigenen Anfänge vor Augen führte. Schmidt war mit seiner souveränen Starrsinnigkeit natürlich anders als mein Vater – aber trotzdem gab es auch da gewisse Gemeinsamkeiten. Und verglichen mit meinem Vater war er ein relativ junger Mann, immerhin zwanzig Jahre jünger. Also war es möglich, dass Vater ihm gegenüber eine protektive Haltung entwickelt hatte. Außerdem waren Schmidts kümmerliche Lebensbedingungen augenscheinlich. Aber ebenso augenscheinlich war seine manuelle Begabung. Und zu allem Überfluss musste man seine Behinderung in die Gleichung miteinbeziehen. Für meinen Vater, mit seinem starken und etwas rücksichtslosen Charakter, gab sie Schmidt etwas, so stelle ich es mir vor, zugleich Abstoßendes und Faszinierendes wie ein verkrüppelter Vogel oder dergleichen. Jedenfalls hörte ich an der Stimme meines Vaters – als er Schmidts Darbietung als imposant bezeichnete –, dass er im Hinblick auf ihn ein wenig, nun, ich würde sagen, gerührt war.

      Aber Schmidt selbst blickte sodann auf seine Taschenuhr aus Großvaters Tagen und sagte (ohne es für nötig zu halten, sich bei uns zu entschuldigen), dass er nun leider in Eile sei. Dass er aufgrund irgendeiner Verabredung um acht Uhr zu Hause sein müsse. Vater bedankte sich höflich bei ihm – für die außerordentlich interessante Gelegenheit, einen Blick auf seine Arbeit zu werfen, wie er sagte –, und wir traten gemeinsam auf die Straße. Wir gingen in die gleiche Richtung, er zu sich nach Hause und wir etwas weiter zu unserem Hotel in der gleichen Straße.

      Vater ging vor Schmidt, und ich konnte ihr Gespräch wohl nicht richtig verstehen. Ich meine, dass Vater sich nach ein paar Details zu Schmidts Uranostat erkundigte. Schmidt erklärte etwas, Vater fragte nach, präzisierte seinerseits etwas, Schmidt rief: ›Nein, nein, nein …‹ und im selben Moment standen wir am Tor zu seinem Mietshaus. Schmidt sagte: ›Warten Sie, ich erkläre es Ihnen …‹, blickte sich ratlos um, und sprach:

      ›Nun kommen Sie schon mit hoch!‹

      Wir stiegen die bekannte Treppe nach oben bis zur bekannten Tür. Als Schmidt die Tür aufschloss, und wir in dem nach Naphthalin riechenden Flur standen, ging eine Zimmertür auf, und die bekannte Frau mit den toupierten Haaren trat hervor. Zu Ihrer Freude, Herr Schriftsteller, fand ich in unserem Archiv ihren Namen. Mein Vater hatte vor unserer Visite in Mittweida von Schmidt irgendeinen Brief bekommen. Der zufälligerweise erhalten blieb. Zusammen mit dem Umschlag. Darauf steht c/o Knechtel. Schriftsteller denken ja bisweilen, dass neben all der Fantasterei derlei polizeiliche Details für sie von Bedeutung seien. Also bitte sehr: Frau Knechtel, Wilhelmstraße 6. Frau Knechtel trat hervor, soll heißen, in den Flur und teilte mit, dass Fräulein Johanna nach Herrn Schmidt gesucht habe und versprach, später zurückzukehren. Schmidt fragte:

      ›Sind die Kinder noch nicht gekommen?‹

      Frau Knechtel sagte, nein, noch keine Kinder. Ja, ja, ausgerechnet Kinder. Bei dem eingefleischten Junggesellen Schmidt, bei dem Astro-Optiker Schmidt verkehrten Kinder! Da haben Sie eine fromme Szene, wie sie im Buche steht: Lasset die Kindlein zu mir kommen; denn solcher ist der Sternenhimmel – oder so ähnlich, nicht wahr? Ein wenig modifiziert – Sternenhimmel pro Himmelreich – das ist auch für Sie hinnehmbar, oder? Wie dem auch sei …« Herr Kelter verzeiht mir väterlich meine Kleinlichkeit in der Frage des Himmelreichs sowie meine übermäßige Sympathie für Schmidt, füllt unsere Gläser mit Wermut auf und fährt fort:

      »Nun gut. Wir betraten Schmidts Zimmer. Es war erwartungsgemäß. Recht geräumig, aber natürlich spärlich möbliert. Und das muss ich sagen: Für einen Präzisionsarbeiter unglaublich unordentlich. Und wenn Sie vermuten, dass das Zuhause eines Mannes, dessen Arbeitszimmer nur fünf Minuten entfernt liegt, sich deutlich von selbigem unterscheidet, nicht unbedingt hinsichtlich seiner Ausstattung, sondern seiner Funktion, in dem Sinne, dass das Arbeitszimmer für die Arbeit, das Zuhause aber für Erholung und Gemütlichkeit gedacht ist, dann täuschen Sie sich gehörig. Was Schmidt betrifft jedenfalls. Sein Wohnzimmer war fast genauso sehr ein Arbeitszimmer wie sein Kegelkeller. Nur gab es dort keine Drehbank, keine Apparate und kein Regal mit Poliergläsern. Sondern bloß kahle, mit Entwürfen übersäte Wände, einen Zeichentisch und sogar eine Reihe auseinandergenommener Amateurteleskope und deren Teile, einen Tisch voller verstreuter Stapel aus Büchern, Skizzen, Zeichnungen und Berechnungen, und in der Mitte all dessen einen großen, recht abgewetzten Plüschsessel. Sowie ein von einem Paravent abgeschirmtes Bett.

      Wenn ich mich recht erinnere, hat uns Schmidt zunächst keinen Platz angeboten. Er zog aus irgendeiner Schublade ein weißes Blatt Papier hervor, drückte es mit dem Stumpf seines rechten Arms gegen den Tisch und fertigte mit der linken Hand blitzschnell eine Skizze seines Uranostats an. Dann begann er, meinem Vater die Konstruktion von dessen Rotationsvorrichtung zu erklären. Ich folgte den Ausführungen zwischen den beiden stehend, denn ich wusste durch Vater über die kleinen Sensationen in diesem Bereich Bescheid – aber ein paar Spezialisten hatten geschrieben, dass es sich dabei um ein außergewöhnliches und unglaublich präzises Gerät handeln solle. Das Problem war in etwa folgendes: Ein Teleskop muss während des Beobachtens in Einklang mit dem Sternenhimmel rotieren. Der Himmel rotiert absolut gleichmäßig. Aber es ist verdammt schwer, ein Teleskop mit absolut gleichmäßiger Geschwindigkeit rotieren zu lassen. Das Objekt gerät früher oder später


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