Gegenwindschiff. Jaan Kross
Читать онлайн книгу.Deklamieren auch Kokettieren. Denn auf den Spaziergang zum großen Laubwald an der Ostküste in der Abenddämmerung ist sie nicht mit diesen Herren mitgegangen. Sondern war mit dem Herrn Walden dorthin gekommen. Ja. Unter diesem Namen war er im Deutschen Theater aufgetreten, sagte er, Wilde also. Im Deutschen Theater in Tallinn und damals auf Naissaar ebenfalls. Ehrlich gesagt habe ich später die Einzelheiten dieser Geschichte vergessen. Aber als er sie erzählte (wenn ich mich recht erinnere, war die Sache mehr oder weniger auf eine Duellforderung seitens Herrn Feldmanns oder Herrn Bürgers hinausgelaufen), als er sie erzählte, erkannte ich die Eckpunkte seiner Geschichte. Sie waren alle Schauspieler. Besagter Laubwald, in dem sie spazieren gingen, war der Garten des dänischen Königs. Jene jungen Herren, die ihn loswerden wollten, hatten vor einiger Zeit Rosencrantz und Güldenstern gespielt. Er, also der junge Herr Walden, hatte zwar nicht Hamlet gespielt. Der junge Wilde war von dieser Rolle meilenweit entfernt, soweit ich in diesen Angelegenheiten im Bilde bin. Aber damals, im gesetzten Alter, flocht er diese zufälligen Motive um sein jugendliches Ich so kunstvoll zusammen, dass man seine Freude dran hatte. Wenn ich mich nicht irre, blitzte in seiner Geschichte noch der Name des Dorfältesten auf. Zwar nicht Claudius, nein, aber Klaus hieß er auf jeden Fall. Und du meine Güte, war der Klaus aus Rävasaare in meiner Kindheit nicht tatsächlich Dorfältester? Sodass ich voll Verwunderung dachte: Wieso hat Wilde diese Geschichte nicht zu einer seiner berühmten Novellen ausgearbeitet? Sie mag bedeutungsvoller als so manch andere sein. Aber vielleicht hat er es ja getan, und sie befindet sich unter seinen Novellen. So genau kenne ich sie nun auch wieder nicht. Weiter dachte ich, dass manche Männer im Alter anscheinend ihr Jugend-Ich problematischer sehen wollen, als es tatsächlich war. Ich mache es, glaube ich, gerade umgekehrt. Was um Gottes willen nicht bedeutet, so hoffe ich, dass ich die Naivität meiner Jugend betone, um als Fünfzigjähriger einen umso problematischeren alten Herrn abzugeben. Also wirklich, wer so etwas über mich zu behaupten wagt, dem sage ich direkt ins Gesicht: ›Werter Herr oder werte Frau oder wer immer Sie zu sein belieben: Scheren Sie sich, mit Verlaub, zum Teufel!‹ Denn was bedeuten Probleme in persönlich-menschlichem Sinn überhaupt? Sie sind zu unbestimmt, als dass man über sie plaudern könnte. Zu delikat. Viel zu einmalig, als dass man sie als Probleme bezeichnen könnte. Wissenschaftliche Probleme kann ich begreifen, ihnen kann man sich systematisch annähern. Aber was Cebu betrifft, bekamen wir es da nicht mehr mit ihnen zu tun. Denn sobald sie sich abzeichneten, war alles vorbei.
Das Wetter war während unserer Wartewochen besorgniserregend instabil geworden. Die Ankunft der Regenzeit lag in der Luft, und am Nachmittag stieg die Luftfeuchtigkeit jeden Tag in verdächtige Höhen. Aber dazwischen gab es immer noch tadellose Tage, und am Morgen des neunten Mai sah es so aus, als würde der neunte genauso einer werden.
In der letzten Woche hatten uns zwei Professoren der technischen Abteilung der Universität von Manila unterstützt. Hyde und Melchor. Ohne jegliche Erfahrung auf dem Gebiet astronomischer Beobachtungen, aber angenehm lernfähige Kerle. Sodass unsere Artillerie am Morgen tipptopp justiert war, diese Arbeit kontrollierte ich persönlich, wir waren in Schlachtaufstellung und gefechtsbereit.
Die Sonnenfinsternis musste um 14.26 Uhr Ortszeit beginnen. Um eins war der Himmel, würde ich sagen, tadellos. Nur ein gaaanz klein wenig milchig. Aber um vierzehn Uhr entstand um die Sonne herum ein strahlender regenbogenfarbiger Ring. Kaum merklich, aber nicht wegzudiskutieren. Er zeigte eine Verdichtung der Wassertropfen in der für Cirrostratus typischen Höhe. Die anderen hatten es noch nicht bemerkt, und ich sagte niemandem etwas. Aber ich hatte ein Vorgefühl, dass dadurch unsere ganze Unternehmung scheitern würde. Die totale Finsternis war um 15.45 Uhr und 48 Sekunden. Während der achtzig darauf zugehenden Minuten blieb die Sonne zwar von einer Wolkendecke befreit, aber fleckenweise bildete sich Cirrostratus, und die Umgebung der Sonne verschleierte sich gleichmäßig, mit dem Auge kaum wahrnehmbar, aber das Fotografieren störte es auf verfluchte Weise. Dieser Stand herrschte noch während der ersten Minute der totalen Finsternis. Wir standen, saßen, hockten zu fünft – Herr Moll war uns zu Hilfe gekommen – hinter unseren fünf Apparaten. Wir hielten konzentriert den Atem an und fotografierten aus allen Rohren. Hauptziel: beim Aufkommen und während der totalen Finsternis die innere Korona der Sonne als die vielsagendste Zone im Sinne der Erforschung der Sonne abzulichten. Unsere Apparate klickten in regelmäßigen Abständen, um uns herum eine merkwürdige aschfarbene, lila getönte Dämmerung, die bald ihre maximale Dichte erreichte. Eine unwirkliche Dämmerung, in der alles entsetzlich konturenlos ist, man aber gleichzeitig spürt, dass jedes zitternde Blatt am Baum deutlicher sichtbar ist als am helllichten Tag, oder wenn nicht sichtbar, so doch deutlicher vorhanden. Während ich in mein zehn Meter langes Rohr starrte und fotografierte, bemerkte ich eine Gruppe junger Männer aus Sogod, die hinter dem Bretterzaun der Schule umherschlichen, und ab und zu erhoben sich graulila Gesichter über den Rand, die sich über unsere Aktivitäten wunderten. Wir waren schließlich die Sehenswürdigkeit des Dorfes. Während gleichzeitig die Alten und Greise und teilweise selbst die Kinder rechtzeitig in die Kirche geeilt waren, und aus der geöffneten Kirchentür erklang nun in die mittägliche Nacht hinein das Miserere einer asthmatischen Orgel, mit der der Herr gebeten wurde, seine Hand auszustrecken und die Furcht daran zu hindern, über die Menschen zu kommen. Obgleich ich in Gedanken in den Choral einfiel (damit er seine Hand vor die Wolkendecke halte, die sich vom Westen auf den Mond und die Sonne zubewegte), half es nichts: In der zweiten Minute der totalen Finsternis verschluckte der sich verdichtende Cirrostratus Mond und Sonne gleichzeitig und endgültig. Am Ende der totalen Finsternis (das war ungefähr viereinhalb Minuten nach Beginn) war der Himmel wie durch abscheuliche Hexerei von dicken Regenwolken verhangen. Sodass wir das Ende der Sonnenfinsternis nicht verfolgen konnten. Zu der Zeit zogen wir im strömenden Regen das Ölzeug über unsere Geräte.
Baade schrieb später, ich weiß nicht, wen er trösten wollte, wahrscheinlich sich selbst, dass das vom Cirrus erzeugte Streulicht sich zwar sehr ungünstig auf diejenigen Fotos ausgewirkt habe, die Details der äußeren Sonnenkorona zu erfassen versuchten, dass die Fotos der kraftvollen Details der inneren Korona uns aber tadellos gelungen seien. Bah. Mag sein, dass man anderen Menschen in Notlagen Mut zuspricht, aber Selbsttrost kann ich nicht ausstehen. Ich sage also direkt: Auch die Fotos der inneren Korona sind uns nur befriedigend gelungen. Was bedeutet, dass man es ebenso gut hätte bleiben lassen können. Aber ich muss zugeben, dass mir das aus zwei Gründen leichter fiel als Baade. Erstens war er es, nicht ich, der vor allen Behörden und Stiftungen, die uns finanziert und auf die Reise geschickt hatten, den Eindruck erwecken musste, dass wir wenigstens einen wesentlichen Teil unseres Programms trotz allem erfüllt hatten. Zweitens interessierte mich jetzt nur noch meine Bullaugenvision von der Andamanensee: meine Platte.
In der folgenden Woche demontierten wir in den Pausen der sich verdichtenden Sommerregenschauer die Beobachtungsstation und packten alles ein. Am Zweiundzwanzigsten wurde sie nach Cebu zurücktransportiert. Am Achtundzwanzigsten gingen wir bei einem heftigen Regenguss an Bord der »Dardanus« und am übernächsten Tag im gleichen Regen in Manila an Land. Hapags funkelnagelneue, letztes Jahr zu Wasser gelassene »Duisburg« brachte uns über Hongkong, Singapur und Colombo zurück nach Hause. Mit für diese Schiffsklasse völlig normalen 13,5 Knoten. Aber doch tödlich langsam.
2
»Sie wollen also einen Roman über Bernhard Schmidt schreiben?«
Der Mann mit dem lebhaften Gesicht eines Siebzigjährigen, der in Wirklichkeit über achtzig ist, trommelt mit den Fingern neben seinem Wermutglas auf den Tisch.
Ich nicke.
Unser Gespräch findet zehn Kilometer südlich von Gernsheim statt, in den Weinbergen entlang des Rheins, im Garten, wo über der Rhododendronhecke das schmiedeeiserne Tor zu sehen ist. Die Klingel und das Bronzeschild sind nicht zu sehen. Auf dem Schild steht: »Friedrich Kelter, Dr. rer. nat.« Aber der schmiedeeiserne Bogen mit den schmiedeeisernen Buchstaben ist deutlich zu sehen. Vom Garten aus erscheinen die Buchstaben spiegelverkehrt: SOLNEKLOW ALLIV. Von außen liest man: VILLA WOLKENLOS.
»Warum auch nicht?« Mein Gastgeber lächelt sein sauber rasiertes, sehniges, gerötetes Lächeln, »Schmidt hat sich bei uns ja gewissermaßen – wie soll ich sagen – in eine mythologische Figur verwandelt.«
»Lassen wir den Mythos mal beiseite«, entgegne ich,