Gegenwindschiff. Jaan Kross

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Gegenwindschiff - Jaan Kross


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Wohingegen ich, wie man sich im Dorf erzählt … Obwohl mein ewiges ich-ich-ich für Gott, wenn es ihn denn gibt, vielleicht … Da hilft nichts. Ich muss aufstehen und nachschauen. Was für eine Gefahr ist dabei? Praktisch überhaupt keine. Wenn die Mischung stimmt. Und wenn man sich dem Rohr zumindest auf dem letzten Abschnitt von der Seite her nähert. Sodass der Gasstrahl, falls die Explosion doch stattfindet, am Ankömmling vorbeifliegt. Bloß kann ich, wenn ich von der Seite komme, die Zündschnur nicht mit den Fingern kontrollieren.

      Ich springe auf. Ich laufe zwanzig Meter auf das Rohr zu und schmeiße mich wieder hin. Meine Bewegungen sind vor Aufregung flink und hastig. Aber Angst habe ich nicht. Ich sehe, wie die Zündschnur sich rechts von meiner rechten Hand über das Moos zum Stein schlängelt. Ich ergreife sie mit den Fingern. Sie zerbröselt in meinen Fingern zu schwarzer Asche. Das bedeutet, dass sie näher beim Rohr ausgegangen sein muss. Ich springe erneut auf. Auf einem Erinnerungsniveau sind meine Bewegungen leicht und schnell. Auf einem anderen sind sie voll bleierner Erstarrung. Auf dem anderen bewege ich mich mit ungeheurer Anstrengung auf das Rohr zu, kriechend, so wie man in einem Traum vor einem herannahenden Zug wegkriecht. Oder dem Zug entgegen. Nur damit das geschehen kann, was geschehen muss.

      Dann bin ich auf allen vieren beim Findling, im Schatten des Findlings. Ich strecke meinen Arm aus – ich erinnere mich, den linken Arm – und greife nach der Zündschnur, die hinter den braunen Weidenröschenstängeln an der Seite des Steins vor meinem Gesicht nach oben läuft. Die Schnur zerbröselt. Seltsam, denke ich, bis zum Rohr ist doch nur noch ein Meter Schnur. Sie muss also bis zum Ende aufgebrannt und dann erloschen sein. Eine andere Möglichkeit gibt es praktisch nicht. Die zweite Möglichkeit – dass das Feuer auf diesem Meter in diesem Moment noch brannte – ist zu unwahrscheinlich. Das wäre eins zu hundert, eins zu tausend. Auf alle Fälle warte ich noch zwanzig Sekunden. Das ist die Brandgeschwindigkeit von einem Meter Zündschnur. Jetzt beträgt die Wahrscheinlichkeit einer Explosion eins zu zehntausend. (Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie exakt ich das schon bei jenem ersten Mal berechnet hatte und wie viel die späteren Male dazu beigetragen haben. Aber bestimmt dachte ich: Vorsicht – gewiss, aber wenn sie in Ängstlichkeit ausartet, was für ein Erfinder und Erneuerer der Technik soll dann aus dir werden?!) Ich stehe auf. Ich muss den Gefahrenmoment, den winzigen Gefahrenmoment passiert haben. Vor Klaamann, vor mir selbst, vor der Welt. Es gibt keinen Ausweg. Ich nehme das Rohr in die rechte Hand. Interessant, die Zündschnur zerbröselt. Dann hat sie also bis zum Rohr gebrannt? Und ist dann ausgegangen? Unglaublich! Das muss ich mir sofort anschauen …

      Ich höre den Knall nicht. Ich verspüre keinen Schlag und keinen Schmerz. Nur eine schreckliche Blendung. Danach Dunkelheit. Tatsächlich befindet sich das alles auf der anderen Seite einer hundertfachen Bleimauer aus Schlaf. Bis auf eines: der Moment der Gewissheit, von dem sich mein Herz bis heute zusammenzieht und dessen Schmerzstich vom Herz bis in die Eingeweide reicht. Die Gewissheit, die ich sofort, einen Augenblick später erlange, als ich zu Bewusstsein komme und das kreidebleiche Gesicht des Klaamann-Jungen über mir sehe. Ich sehe ihn deutlich, denn mein linkes Auge ist völlig in Ordnung, nur das rechte ist zunächst voller Blut, aber das begreife ich nicht. Ich sehe deutlich die vor Aufregung abstehenden blonden Haare des Klaamann-Jungen und seinen zitternden Unterkiefer. Dann, ich erinnere mich, strecke ich meinen Arm aus, ich kann nicht sagen, ob ich es tue, weil ich ihm auf die Schulter klopfen und ›Macht nichts, Juhan, das geht vorüber‹ sagen will, oder weil ich ›Verzeih, meine Schuld‹ sagen will. Irgendwas in der Art will ich sagen. Dann sehe ich, dass meine rechte Hand nur noch an ein paar blutigen Sehnen und Hautfetzen am Handgelenk hängt. Dem Stumpf, der aus dem kaputten und blutigen Jackenärmel baumelt, fehlen der Daumen und die ersten beiden Finger. Ich weigere mich, das zu begreifen. Und kapiere doch, dass ich meine Hand verloren habe. Unwiederbringlich. Solange ich lebe. Durch diese Gewissheit durchzuckt mich ein Schmerz vom Herz bis in die Eingeweide. Zuckt immer noch. Bis heute. Jedes Mal, wenn ich daran denken muss. Egal auf welchem Erinnerungsniveau. Insbesondere, wenn die beiden einander überschneiden, meine leichte und schnelle Wacherinnerung und jene andere, unbestimmte Erinnerung, die bleischwer vom Schlaf und heftig ist. Immer noch. Mit einem Schmerzstich. Sodass ich davon aufwache. Dieses Mal in der stickigen Luft dieses dunklen Hotelzimmers.

      Für einen Moment kam es mir wie eine Befreiung von der schicksalhaften Betonwalze der Erinnerung vor. Aber der Mensch ist ein undankbares Tier: Eine Minute später war sogar diese schwüle Dunkelheit drückend. Sodass ich mit meiner Hand den Nachttisch abtastete und das Licht anmachte.

      Johanna, du erinnerst dich, manchmal habe ich mir Dinge ausgedacht. Dinge, die gar nicht geschehen sind. Oder genauer gesagt, die zwar geschehen sind, aber nur teilweise und ein wenig anders. Ich glaube, alle machen das, also auch ich. Ich flunkerte, um mich für dich interessant zu machen. Übrigens hast du dafür eine großartige Erklärung gefunden. Sie war nicht nur taktvoll, sondern vielleicht ganz einfach die richtige. Ein Beispiel? Nun, ich habe dir erzählt, ziemlich am Anfang unserer Bekanntschaft, dass ich vor Mittweida in Göteborg studiert habe, am Chalmers-Institut. In gewisser Hinsicht stimmte das. Später kam ans Licht, dass ich dort nicht drei Semester gewesen war, wie du gedacht hattest – wie ich dich hatte denken lassen –, sondern drei Wochen. Aber du sagtest daraufhin mit einem wunderbaren Lächeln, das ich niemals vergessen werde: ›Ach, Benn, bei dieser grausamen Genauigkeit, die du dir bei deiner Arbeit abverlangst, ist es doch natürlich, dass du anderswo ein bisschen freier sein musst.‹ Aber im Moment fantasiere ich nicht. Ich habe zwar gerade eben in der Holtenklinke meinen dritten Korn genommen, um mich endlich wieder frei zu fühlen, nachdem ich drei Wochen lang mehr oder weniger Tag und Nacht gearbeitet habe. Aber in dieser Sache, die mir damals in dem Hotel in Cebu widerfuhr, fantasiere ich kein bisschen. Wozu auch? Wenn du dich zu mir in einer in Lichtjahren ausdrückbaren Entfernung befindest! Es war wahrhaftig genau so.

      Ich hatte die Lampe auf dem Nachttisch so gedreht, dass mir das Licht nicht ins Gesicht schien. Es fiel auf das Fenster über meinen Füßen und auf die Wand um das Fenster. Und auf meine bloßen Füße, die sich immer noch am Verputz der Wand abstützten, die Zehen zu beiden Seiten gespreizt. Da sah ich, wie sich auf der Mitte der Fensterbank, in Höhe der ersten Lamelle der Bambusjalousie, direkt auf der Längsachse meines Körpers, etwa zwanzig Zentimeter über meinen Zehen, etwas bewegte. Etwas Schwarzes, das aus diesem merkwürdigen Blickwinkel heraus schwer zu identifizieren war. Bis ich plötzlich begriff: Es war ein Skorpion.

      Ich muss zugeben, ich gehöre zu den Menschen, die gegenüber Spinnen und Spinnenartigen einen instinktiven Ekel verspüren. Ich weiß nicht, was für ein Atavismus das ist. Ich habe mir wiederholt Gedanken darüber gemacht, aber keine Zeit gehabt, Literatur darüber zu suchen. Die wird es kaum geben. Ein bisschen habe ich mich dieses Ekels geschämt. Weil er mir weiblich vorkam, da ich ihn hauptsächlich bei Frauen festgestellt habe. Junge Mädchen kreischen vor Schreck, wenn ihnen eine Kreuzspinne über die Hand läuft. Ich kann meinen Ekel natürlich jedes Mal überwinden. Aber er ist unverhüllt vorhanden. Wenn ich plötzlich auf meinem Handrücken beispielsweise nur eine Wespe spazieren sehe, lasse ich sie das ungestört tun, begreife ihren Mut und ihren Vertrauensbeweis und versuche (obwohl das etwas lächerlich klingt), ihr meinerseits mein Vertrauen einzuflößen. Dann genieße ich die imaginäre Beiderseitigkeit des Vertrauens. Aber wenn es eine Spinne oder nur ein Weberknecht ist, muss ich mich für eine Sekunde zusammenreißen, um nicht zusammenzuzucken, es kostet mich eine gewissen Anstrengung, mich zu sachlicher Langsamkeit zu zwingen, bevor ich das Tier von meiner Hand blase. Meine Abscheu verhält sich übrigens proportional im Quadrat zur Größe des Tieres. Der Skorpion auf der Fensterbank war, in der Schrägansicht, wie ich ihn sah, gut und gerne zwölf oder dreizehn Zentimeter lang. Ein derartiges Tier wirkt, als halbes Insekt, das es ist, allein aufgrund seiner Größe pervers. Ich schaute ihn mir eine Sekunde lang sehr genau an. Er hatte seine Vorderhälfte, sozusagen sein Gesicht, mir zugewandt, wenngleich ich auf der schwarzen Fläche dieses Gesichtes aus dieser Entfernung keine Augen ausmachen konnte. Sein Körper war zum größten Teil von seinem linken Vorderbein oder seiner Vorderklaue oder Kralle verdeckt. Überhaupt machte er den Eindruck eines kleinen Schiffsmodells aus Bronze, wie ich es Gott weiß wo einmal gesehen habe. Wie ein zerbrochenes Kriegsschiff aus Odysseus’ Zeiten. Vier oder fünf Paar Beine als Ruder und der hohe, nach vorne gebogene Schwanz wie ein antikes Heck. Dann machte das Schiff mit einer unbegreiflichen Ruderbewegung einen merkwürdigen drei Zentimeter weiten Sprung und hielt am Rande der Fensterbank an. Ich bin kein Fachmann, aber


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