Kommunikationswissenschaftliches Arbeiten. Petra Herczeg

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Kommunikationswissenschaftliches Arbeiten - Petra Herczeg


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      Wie verhalten sich Alltagswissen und wissenschaftliches Wissen zueinander? Beginnend mit unserer Geburt (sieht man von pränatalen Erfahrungen einmal ab) erwerben wir Wissen. Zunächst eher zufällig und beiläufig im Rahmen von (primären) Erfahrungen, die in der jeweiligen Umgebung, in die man hineingeboren wurde, bereitgestellt werden. Das im Rahmen dieser (frühen) alltäglichen Erfahrungen erworbene Wissen wird auch als „Alltagswissen“ bezeichnet.

      Das Denken basiert normalerweise auf Alltagswahrnehmungen und ist subjektiv und (unreflektiert) selektiv. Dabei sind die Auswahlkriterien dieser Selektion (von jenem, was man wahrnimmt) meist nicht explizit bzw. nicht offensichtlich. Sie haben bestimmte Filter, einen impliziten [20] „Bias“ (eine systematische Abweichung) eingeschrieben. Das führt, aus wissenschaftlicher Perspektive gesehen, zu unzulänglichen Wahrnehmungswirklichkeiten, weil das Alltagswissen immer (aber unbewusst) perspektivisch ist (dies kann aber auch in der Wissenschaft nicht immer gänzlich ausgeschlossen werden).1 Es gibt also je nach Betrachterperspektive unterschiedliche Wirklichkeiten (bspw. unterschiedliche politische Einstellungen) und gewisse (unreflektierte) Selbstverständlichkeiten. Wissenschaft verlangt nun, dass man von diesem Alltagsdenken Abstand nimmt (und den „gesunden Menschenverstand“ kritisch analysiert) und sich ein gewisses wissenschaftliches Vorgehen aneignet.

      Einen Zwischenschritt auf dem Weg von Alltags- zu wissenschaftlichem Wissen stellt eine „Lehre“ oder „Kunde“ dar. Diese lässt sich definieren als eine Verallgemeinerung von Handlungs-, Strategie- und Denkregeln, zusammengesetzt aus kollektiv gesammelten Erfahrungen, die sich als praktikabel erwiesen haben und üblicherweise erfolgreich waren.

      So haben auch „Alltagstheorien“ und „Praktikertheorien“ (auch „Berufstheorien“) einen gewissen berechtigten Stellenwert. Praktikertheorien systematisieren berufliche Erfahrungen, haben in der Regel normativen oder beschreibenden, aber keinen erklärenden Charakter. Sie haben meist die Form von Richtlinien, „Goldenen Regeln“ etc., dienen dazu, vorhandene Berufsinstrumente und -techniken passend einzusetzen, und werden zumeist in Praktikerhandbüchern weitergegeben. Sie werden durch berufliche Erfahrungen sicherer und zutreffender, aber im Gegensatz zu wissenschaftlichen Theorien nicht systematisch durch bestimmte Verfahren überprüft (vgl. Bentele & Nothhaft, 2008, S. 50–51).

      Alltags- und Praktikertheorien sind häufig Ausgangspunkt für die Entwicklung von wissenschaftlichen Theorien. Vorurteile, Einstellungen und Erfahrungswerte sollen durch „überlegte Erkenntnisse“ ersetzt werden. Dazu braucht es bestimmte Spielregeln der Wissenschaft und mit diesen Spielregeln befassen sich die Wissenschaftstheoretiker. In ihrem Fachgebiet, der Wissenschaftstheorie (vgl. etwa Seiffert & Radnitzky, 1994), überlegen sie, welche Regeln wissenschaftlichen Erkennens [21] und Forschens existieren und unter welchen Bedingungen sie Gültigkeit für sich beanspruchen können oder sollen. Wissenschaftstheoretiker können auch als „Beobachter 2. Ordnung“ bezeichnet werden: Sie beobachten, wie wir im Alltag unsere Umwelt beobachten und wie wir unser Handeln danach einrichten. Sie beobachten aber auch, wie Wissenschaftlerinnen die Welt betrachten, wenn sie forschen. Im Grunde ist Forschen eine Alltagstätigkeit, wir alle „forschen“ eigentlich ständig: im Supermarkt nach Produktangaben und Preisen, als Studierende an der Universität nach den richtigen Lehrveranstaltungen und wann wir eine Prüfung ablegen sollen, als Mobilitätswillige, welches Rad, Auto etc. wir kaufen sollen – indem wir Daten, Preise, Meinungen usw. einholen und vergleichen.

      Wissenschaftliches Wissen hebt sich von diesem Alltagswissen dadurch ab, dass es das, was es zu wissen gilt, und den Weg dorthin systematisiert. Es gibt also je nach Vorgangsweise verschiedene Regeln, die man einhalten muss, um seine Ergebnisse „wissenschaftlich“ nennen zu dürfen. Tabelle 1 veranschaulicht den Unterschied zwischen Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen.

      Auf die Parallelitäten zwischen wissenschaftlicher Forschung und journalistischer Recherche sei an dieser Stelle hingewiesen: Hannes Haas und Klaus Lojka haben ein Konzept erarbeitet, das die kommunikationswissenschaftliche Vorgehensweise und den Journalismus (stellvertretend für die Kommunikationsberufe) gemeinsam betrachtet, um durch die Gegenüberstellung sowohl mögliche Berufsinteressen der Studierenden als auch die wissenschaftliche Grundausbildung miteinander zu verbinden (vgl. Haas & Lojka, 1988, S. 3).

Alltagswissen Wissenschaftliches Wissen
intuitiv theoriebasiert
„gesunder Menschenverstand“ strukturiertes Wissen
frei systematisiert (Regeln)
spontan geplant
selektiv (zumeist) objektiv
„magisches“ Denken wissenschaftliches Denken
unkontrolliert, unvollständig kontrolliert, (so) logisch (wie möglich)
Fokus auf persönliche Entscheidungen Fokus auf Erfassung der Wirklichkeit

      Quelle: Berger, 2000, S. 6; eigene Übersetzung. [22]

      Im Journalismus geht es, wie die beiden Autoren ausführen, um „einen Modus von Erkenntnisgewinnung durch Recherche“ (Haas & Lojka, 1988, S. 4) und auf (kommunikations-)wissenschaftlicher Seite um die praktische Umsetzung des Kritischen Rationalismus. Zwar sind für diese beiden „Verfahren Forschen [in der Wissenschaft; Anm. d. Verf.] und Recherchieren [im Journalismus; Anm. d. Verf.] gleichermaßen Alltagsphänomene der Ausgangspunkt, doch unterscheiden sie sich hinsichtlich des professionellen Procederes (Forschungszwang versus Erkenntnisgewinn um des Gewinnes willen)“ (Haas & Lojka, 1988, S. 4). Als Zielsetzung sind dabei im wissenschaftlichen Kontext die Strukturierung des Erkenntnisprozesses zu benennen und für den Journalismus die Entwicklung eines Rechercheplanes. Dazu wurden für den Journalismus sieben Schritte der Recherche konzipiert – ausgehend von dem Input: Aussendung, Gerücht, Hinweis, Auffälligkeiten, der zum Output führt (bzw. führen soll): Artikel, Interview, Reportage, Story (vgl. Haas & Lojka, 1988, S. 6).

      Im wissenschaftlichen Bereich gehen die sieben Schritte wissenschaftlichen Forschens vom Input des wissenschaftlichen Problems aus und der Output ist hier die Seminararbeit, Diplom- bzw. Masterarbeit, Dissertation (vgl. Haas & Lojka, 1988, S. 7). Dabei können auch als didaktisches Modell in den jeweiligen sieben Schritten die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der wissenschaftlichen und journalistischen Verfahrensweisen festgemacht werden. In ihrem Aufsatz erörtern die beiden Autoren exemplarisch den ersten Schritt – Gewichten:

      „Auf dieser Ebene geht es um eine Problematisierung und Bewertung (um das Gewichten) von Alltagserfahrungen, die persönliche Aufmerksamkeit durch unmittelbares Erleben erregt haben. Im journalistischen und wissenschaftlichen System gibt es unterschiedliche und je spezifische Muster der Bewertung. Während bei der Wissenschaft die kommunikationswissenschaftliche Relevanz einer Thematik zu untersuchen ist, ist es beim Journalismus die öffentliche Relevanz, die sich durch Interessenslagen und Betroffenheit manifestiert.“ (Haas & Lojka, 1988, S.4)

      Sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der journalistischen Betrachtungsweise ist es entscheidend, dass die diesbezüglichen Prozesse anhand von konkreten Beispielen dokumentiert werden. Dabei beziehen sich Haas & Lojka auf die klassische Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (Jahoda et al., 1975)2, die in den 1930er-Jahren von [23] Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel durchgeführt wurde, die reichhaltiges journalistisches Material – u. a. Sozialreportagen – enthält und bei der außerdem unterschiedliche Methoden eingesetzt wurden. Lazarsfeld nahm dazu selbst Stellung und schrieb in der Einleitung der Marienthal-Studie, dass es den Forschern darum gegangen sei, eine Brücke „zwischen den nackten


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