Die UNO. Reinhard Wesel
Читать онлайн книгу.alles provozierte seit den 1970er Jahren bei der westlichen Führungsmacht wachsende Frustrationen über den multilateralen Betrieb. Die Vereinten Nationen waren wieder einmal in Gefahr, vom Hoffnungsträger zum Sündenbock zu werden. Zwar begleiten Forderungen und Überlegungen zu nötigen Reformen die UNO seit ihren Anfängen, aber vor allem auf Druck der USA wird sei den 1990er Jahren eine andauernde Reformdebatte geführt, in der von Verwaltungseffizienz über „Blauhelm“-Einsätze bis zu einer Erweiterung des Sicherheitsrates alles Denkbare und auch viel Irrationales auftauchte. Im Kontext von Menschenrechtsschutz und der Legitimität „humanitärer Intervention“ wurde schon vor den Terror-Anschlägen vom 11.September 2001 eine interkulturelle Konfrontation zwischen den westlichen Staaten und vor allem der islamischen Welt („clash of civilizations“) diskutiert – oder auch inszeniert. Im „Krieg gegen den Terror“ seit 2001 wurde jedenfalls mehrfach Völkerrecht verletzt und die UNO beschädigt – eben von ihrem Gründungspaten, den USA.
Die US-amerikanische Politik und Öffentlichkeit und deren jeweilige Haltung zu international-multilateraler Zusammenarbeit waren immer von grundlegender und entscheidender Bedeutung für die UNO. Ob idealistische Begeisterung („One World“) oder verschwörungstheoretische Ablehnung, war das Verhältnis meist prekär, denn es wird
rational durch die klassische Dynamik der schwankenden Doktrinen der Außenpolitik der USA gesteuert, einem an der UNO desinteressiertem Isolationismus einerseits und andererseits einem sie offensiv instrumentalisierenden hegemonialen Interventionismus,
kognitiv und emotional von meist schlicht bis schlecht informierenden Medien und von oft populistischen Politikern geprägt, was die öffentliche Meinung zwischen Liebe und Hoffnung einerseits und Frustration und Angst anderseits pendeln lässt.
Das Interesse an internationaler Politik ist bei der US-amerikanischen Wahlbevölkerung traditionell recht gering und das Wissen darüber ist noch geringer; deswegen überwiegen die Vorbehalte gegen die UNO vor allem bezüglich ihrer Effizienz, aber auch irrationale Befürchtungen vor ihrem angeblichen Machtanspruch, die amerikanische Souveränität zu mindern.
Auch deswegen war nie zu erwarten, dass die Vereinigten Staaten von Amerika sich in ihrer eigenen Politik substantiell von den Vereinten Nationen beeinflussen lassen würden, denn tatsächlich bietet ja asymmetrischer Unilateralismus einer Hegemonialmacht – zumindest auf kurze und mittlere Sicht – viel mehr Möglichkeiten als schwerfälliger Multilateralismus. Auch andere wichtige Mitgliedstaaten, allen voran die Sowjetunion/Russische Föderation und die VR China, verhielten sich selten wie vorbildliche Multilateralisten, aber die USA haben einen speziellen Sonderweg zwischen Unilateralismus und Multilateralismus gefunden:
Seit dem Versickern des Idealismus der Gründertage verfolgten sie meist einen instrumentellen bzw. selektiven Multilateralismus (siehe 2.2), der den Interessen der USA dienen, ihre Maßnahmen unterstützen und zumal ihre politischen Absichten legitimieren soll. Wenn internationale Kooperation in diesem Verständnis nicht funktionierte, versuchten alle US-Regierungen, ihre Ziele mit einer Koalition mit gleichgesinnten Regierungen („coalition of the willing“) oder im Alleingang zu erreichen. Die einzige verbliebene militärische Weltmacht kann unter den verschiedenen Angeboten je nach Bedarf das günstigste auswählen – solange China sich erst noch als Konkurrenz einübt.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem daran angehängten „Krieg gegen den Terror“ ab 2003 sowie generell dank einer engen Sicherheits-Fixierung der Politik ist die UNO immer wieder in Gefahr, als multilaterales Instrument beschädigt zu werden und an Bedeutung zu verlieren. Wie in aller politischen Geschichte können auch in der Entwicklung der UNO schnelle und dichte Zeiten beobachtet werden, in denen rasch Vieles entschieden wird und Wichtiges passiert, und dann wieder Phasen der Konsolidierung oder gar des Stillstandes und scheinbaren Bedeutungsverlustes; die Qualitäten der Zeiten korrespondieren meist eng mit guten und schlechten Meinungskonjunkturen.
Literaturverweis zu 3.3.: Entwicklung der UNO seit 1945
Luard 1982/1989; Volger 1995, 2008; Weiss/Daws 2018; Yoder 1997
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