Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union. Dr. Domenica Dreyer-Plum
Читать онлайн книгу.Mitrany Möglichkeiten zwischenstaatlicher Kooperation, was als Funktionalismus bezeichnet wurde (Mitrany 1944). Internationalisierungsprozesse förderten demnach die Herausbildung thematisch spezialisierter und suprastaatlicher Organisationen, wie am Beispiel der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft deutlich wurde (Mitrany 1965: 119-149).
Ernst B. Haas entwickelte diese Theorie in Bezug auf die europäische Gemeinschaft unter dem Begriff des Neofunktionalismus weiter. Demnach machen Kompetenzverlagerungen von der nationalen auf die suprastaatliche Ebene Sinn, solange das supranationale Zentrum politische Aufgaben besser bewältigen kann als die einzelnen Nationalstaaten (Haas 1958: 238-317). Wirtschaftliche Kooperation wurde als unpolitisch erachtet und daher als besonders geeignet für pragmatische und unideologische Zusammenarbeit eingestuft. Aus der Notwendigkeit, die Ziele der Gemeinschaft in einem begrenzten Bereich zu erreichen, ergab sich in diesem Verständnis gewissermaßen automatisch die Kooperation in sensiblen politischen Bereichen (Haas 1958: 238-317). Dieses Konzept des funktionalen spill-over wurde von Leon Lindberg definiert als eine Situation, in der ein vorgesehenes (Vertrags-)Ziel nur erreicht werden kann, wenn bestimmte Maßnahmen ergriffen werden, die wiederum die Notwendigkeit für weitere Maßnahmen schaffen (Lindberg 1963: 10). Anders formuliert: Aufgrund von Kooperation in einem Bereich A wird es notwendig in einem Bereich B zusammenzuarbeiten, um die Ziele in Bereich A zu erreichen.
Das Ausstrahlen der Kooperation in einem Politikfeld auf ein anderes, bzw. die Tatsache, dass Kooperation in einem Politikfeld zur notwendigen Zusammenarbeit in einem anderen Politikfeld führt, wird bis heute als spill-over-Prozess bezeichnet und ist ein zentraler Begriff in der Terminologie der Europaforschung.
In dieser Lesart zog die Zusammenarbeit an den Binnengrenzen bald die Kooperation an den Außengrenzen nach sich – jedenfalls die Klärung der Frage, wie damit umzugehen ist, dass das Überschreiten der Außengrenze eines Schengenstaates die Bewegungsfreiheit im gesamten Schengenraum impliziert, woraus unter anderem politische Fragen zur Koordinierung von Asylanträgen entstehen. Daraus wird ersichtlich: Sollen die Ziele eines gemeinsamen Marktes vollumfänglich erreicht werden, so berührt dies mittelfristig auch Politikbereiche wie die Innen‑ und Justizpolitik.
Was den Integrationsprozess im Schengenraum kennzeichnet ist der zunächst bilateral (deutsch-französisch) begonnene, von einer Handvoll Staaten (Benelux) unterstützte Vorstoß für ein Integrationsprojekt, der schließlich als Gemeinschaftsprojekt im Gemeinschaftsrecht verankert wurde.
Das Einwanderungs‑ und Asylrecht ist jedoch spätestens seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nicht mehr nur ein spill-over-Produkt des Gemeinsamen Marktes, sondern ein eigenständiges Politikfeld innerhalb des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Kay Hailbronner und Daniel Thym belegen diese Einschätzung damit, dass das Recht in diesem Bereich nicht mehr als „flankierende Maßnahmen“ bezeichnet wird (Hailbronner und Thym 2016a: 3-4, Rn 5). Dem kann hinzugefügt werden, dass die Gewährung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Art. 3 Abs. 2 EUV-Lissabon als politisches Ziel verankert wurde, noch vor der Erwähnung des Binnenmarktes in Art. 3 Abs. 3 EUV-Lissabon. So emanzipierte sich der Politikkomplex Justiz und Inneres zunehmend als europäisches Politikfeld.
Einen alternativen Erklärungsansatz und einen Perspektivwechsel ermöglicht der Liberale Intergouvernementalismus. Die Theorie hat Andrew Moravcsik in den 1990er Jahren formuliert (1993: 473-524) und gilt als Fortentwicklung der Theorie des Intergouvernementalismus (Hoffmann 1968). Dieser Theorieansatz hat seine Wurzeln in den Wirtschaftswissenschaften und versucht mit Hilfe von rational-choice-Annahmen, Entscheidungen sowie Strukturen und Entwicklungen im europäischen Integrationsprozess zu erläutern (Craig 2011: 17). Übergreifende Theorieschulen in den Internationalen Beziehungen sind der Realismus der Nachkriegszeit und der Neorealismus der 1980er Jahre; gelegentlich wird der Intergouvernementalismus auch als Konföderalismus oder Pluralismus bezeichnet (Peters 2001: 199 mwN).
Im Intergouvernementalismus wird streng zwischen dem innerstaatlichen und dem internationalen System unterschieden, eine Verflechtung der Ebenen oder die Charakterisierung der Europäischen Union als politisches System mit staatsähnlichen Strukturen wird nicht anerkannt (Peters 2001: 199). In diesem Verständnis wird die Vertragsgemeinschaft als Staatenverbund gesehen; eine internationale Organisation die von ihren Mitgliedstaaten und deren politischer Legitimation abhängig bleibt (Kirchhof 2012: 876ff., Rn 43ff.). Diese Charakterisierung der Europäischen Union ist durch die Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bekräftigt worden:
Die EU ist ein Verbund, „eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – d.h. die Staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben. (BVerfGE 123, 267 (348) – Lissabon)
Als wichtigste Akteure gelten die Mitgliedstaaten, die ihre Präferenzen aufgrund ihrer nationalen Interessen bilden und in den intergouvernementalen Prozess einbringen. Der Integrationsprozess wird solange aufrechterhalten, wie das europäische Regieren effizienter ist als auf nationaler Ebene. Ein wesentliches Ziel der Integration ist demnach Effizienz.
Zu den Grundannahmen der Theorie zählt, dass Staaten als rationale Entitäten handeln, dass sie ihre nationalen Präferenzen innerstaatlich bilden und diese im intergouvernementalen Prozess aushandeln; supranationale Organen können in diesem Verständnis nicht wesentlich auf den Integrationsverlauf Einfluss nehmen (Craig 2011: 17).
Aufgrund der strikten Trennung der Ebenen spricht Andrew Morvacsik vom two-level-game (Moravcsik 1993: 514-517): In dieser Argumentation erfolgt die Verlagerung von nationaler Souveränität auf europäische Ebene aus dem Kalkül, dass sich die Staats‑ und Regierungschefs gegenüber der Opposition im Heimatstaat unabhängig machen. Zusammenarbeit erfolgt entweder durch die Zusammenlegung von Souveränitätsrechten auf europäischer Ebene (pooling) oder die tatsächliche Abgabe an die europäischen Institutionen (delegation). Beide Souveränitätsabgaben bergen nach intergouvernementaler Logik Risiken und Chancen (Moravcsik 1993: 507-514).
Durch delegation wird Entscheidungsfindung effizienter. Im europäischen System wurden bereits in der Montanunion Aufgaben an die Hohe Behörde (später: Europäische Kommission) delegiert. Das Risiko besteht jedoch darin, dass Entscheidungen entgegen individueller nationaler Interessen in Kauf genommen werden müssen. Demgegenüber bleiben die Mitgliedstaaten in Person ihrer Minister an solchen Entscheidungsprozessen stärker beteiligt, bei denen die Kompetenzen lediglich zusammengelegt wurden. Auch hier sind im Einzelfall Beschlüsse gegen die Positionen einzelner Staaten möglich (Beispiel: Mehrheitsentscheidungen im Rat), doch die Entscheidungen sind in der Praxis sehr stark am Konsensprinzip ausgerichtet und ermöglichen den Mitgliedstaaten deutlich mehr Einflussnahme (mehr dazu: Craig 2011: 18-19).
In dieser Lesart liegt die Kooperation bei der Binnengrenzpolitik im Interesse der Mitgliedstaaten. Das dahinter liegende Motiv ist die Verwirklichung der Grundfreiheiten des Marktes. Durch die Aufhebung der Binnengrenzkontrollen wird der gemeinsame Markt effizienter, was für alle Beteiligten einen Gewinn darstellen dürfte. Die dadurch implizierte Vergemeinschaftung der Außengrenzen ist solange im Interesse aller, wie die Grenzsicherung durch die jeweiligen Außengrenzstaaten effizient abgesichert ist. Kommt es jedoch zu erheblichen Defiziten und damit zu Rückwirkungen auf den europäischen Raum insgesamt, stellt sich die Vergemeinschaftung der Außengrenzen als Risiko dar.
Die Grenz‑ und Asylpolitik ist sehr stark von pooling gekennzeichnet. Der Lissabonner Vertrag ermöglichte die geteilte Komptenz in Grenz‑ und Asylangelegenheiten. An Gesetzgebungsprozessen sind die Mitgliedstaaten stark beteiligt und letztlich bleiben die Mitgliedstaaten für die Grenz‑ und Asylpolitik selbst verantwortlich, was nicht zuletzt an den Defiziten der Rechtsharmonisierung sichtbar ist. Delegation ist in sehr begrenztem Maße bei der Auslagerung von Grenzschutzaktivitäten an die Agentur Frontex und das Monitoring zu Asylanfragen in der Agentur für Aslyfragen zu beobachten.
Aus welchen nationalen Präferenzen lässt sich hingegen die schrittweise Vergemeinschaftung erklären? Die teilweise Vergemeinschaftung der Grenz‑