Christlich-soziale Signaturen. Группа авторов
Читать онлайн книгу.Abwandlungen bieten wenig Hilfe: „Bedürfnisgerechtigkeit“ und „Befähigungsgerechtigkeit“ (Hecker 2013) versuchen, Maßstäbe einzuführen, aber die unterschiedliche Perspektive verlagert sich bloß. Man kann beliebige Bedürfnisse als legitim deklarieren oder sich unter „angemessenen Befähigungen“ Beliebiges vorstellen.1 „Soziale Gerechtigkeit“ kann deshalb heißen: Mindestsicherung senken (im Vergleich mit arbeitenden Menschen) oder erhöhen (mit Blick auf deren Bedürfnisse); Pensionen garantieren (man muss die Lebensleistung honorieren) oder einbremsen (man muss auch den nächsten Generationen etwas übrig lassen); Zölle einführen (um durch Schließung heimische Arbeitsplätze zu sichern) oder abschaffen (um durch Effizienzsteigerung und Wachstum heimische Arbeitsplätze zu sichern).
Grundsätzlich ist ähnliche Unbestimmtheit auch beim Begriffscluster Eigenverantwortung, Verantwortung, Selbstverantwortung, Verantwortlichkeit festzustellen; zumal im Kontext einer christlichen Soziallehre auch noch Begriffe wie Personalität, Subsidiarität und Solidarität für das Begriffsfeld eine Rolle spielen,2 die gleichfalls ein Problem benennen, aber allein als Vokabel wenig Hilfe für die Lösung dieses Problems bieten. Immerhin kann man Eigenverantwortung in der christlichen Sozialethik (Wilhelms 2010) als eine Art Orientierungsbegriff verstehen, in dem Sinne, dass persönliche Verantwortung zumindest als Desiderat benannt wird; oder umgekehrt: dass man auf Distanz geht zu einer Situation, in der den Individuen jede Verantwortung für ihr eigenes Handeln und Leben oder für das gemeinschaftliche Schicksal abgenommen wird. Es ist die Perspektivierung eines Problemfeldes, der Begriff schlägt eine Art von Prüfverfahren vor: Man möge, worum immer es sich im Konkreten handelt, die persönliche Initiative und Leistungsfähigkeit von Menschen nicht unterschätzen. Es ist ein semantischer Hinweis zur Aufmerksamkeitslenkung: Im Bedarfsfall sei zu prüfen, was man von Individuen erwarten darf, was ihnen zur freien Entscheidung überlassen oder zugestanden wird – oder wo man regulierend oder helfend eingreifen muss. Eigenverantwortung heißt nicht: die Menschen allein lassen, gottvertrauend oder sozialdarwinistisch. Aber Eigenverantwortung gibt den Hinweis: Man möge nicht von vornherein beim Auftreten eines beliebigen Problems vorschreiben, entlasten, Menschen entmündigen, Paternalismus üben. In dieser Spannung steht der Begriff: einerseits der autonome, mündige, starke, reflexions- und handlungsfähige Mensch, andererseits der überlastete, bedrängte, verunsicherte, schwache, auf andere angewiesene, manchmal auch dumme Mensch.3
Die Wirklichkeit spielt sich normalerweise dazwischen ab. Manchmal sind die Individuen stark und erfolgreich; aber dann haben sie Schicksalsschläge zu erleiden und sind in konkreten Situationen auf Beistand angewiesen. (Wir vertrauen auf Leistungsstärke, aber bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit braucht man Hilfe.) In Abstufungen ist jeder betroffen; selbst wenn man auf dem Lebensweg gut unterwegs ist, schätzt man die Krankenversicherung, die Straßenbahn und die polizeilich erzeugte Sicherheit. Jedenfalls ist dies in Europa der Fall, nicht unbedingt in den USA – es gibt Differenzierungen in der „westlichen Wertegemeinschaft“. Im Falle der genannten Beispiele: In den (in vieler Hinsicht im Vergleich zu Europa „christlicheren“) USA hält man nicht viel von einer gemeinsamen Krankenversicherung, ebenso wenig schätzt man ein öffentliches Verkehrssystem, und schließlich beruht auch die öffentliche Sicherheit vermeintlich darauf, dass man hinreichendes Schießwerkzeug im Hause hat. „Amerikanische Eigenverantwortung“ bedeutet deshalb: private und deshalb für viele unbezahlbare Krankenversicherung, das eigene Auto anstelle eines öffentlichen Verkehrssystems und den Colt bei der Hand haben. Die „europäische Eigenverantwortung“ würde man anders verstehen.
Grundsätzlich setzt Eigenverantwortung ein bestimmtes Modell des Menschen voraus: Sie verweist auf die Fähigkeit, die Bereitschaft und die Pflicht der einzelnen Menschen, für das eigene Handeln und Unterlassen Verantwortung zu übernehmen; sich also Aktivitäten und Ergebnisse zuschreiben zu lassen und für sie einzustehen; die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen. Es ist ein aktives Menschenbild: der Mensch als Tätiger, nicht nur als Erleidender; als Gestalter der Welt, nicht nur als Hineingeworfener; als aktives Mitglied einer Gesellschaft, auch im Sinne demokratisch-liberaler Teilnahme, nicht nur als Mitläufer, Unterworfener, Untertan, „Patient“, „Stimmvieh“.
Eigenverantwortung setzt wohlverstandene Freiheit voraus
Eigenverantwortung setzt Handeln (im eigentlichen Sinn des Wortes) voraus, also Ausübung des Willens im Tun, Fällen einer Entscheidung, Choice. Wenn es nichts zu entscheiden gibt, ist der Begriff nicht anwendbar. Mit christlich-sozialer Ironie formuliert: Die Eigenverantwortung beginnt im Paradies, mit der Unbotmäßigkeit von Adam und Eva, die sich im Verstoß gegen das Verbot ihres Schöpfers die Fähigkeit aneigneten, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden (Palmer 2014). Was in diesem Falle ganz individualistisch formuliert wird, verweist in einem gesellschaftlichen Ambiente auf kollektive Rahmenbedingungen: Es bedarf einer gesellschaftlichen Ordnung, die den individuellen Akteuren jene Freiheitsräume eröffnet, in denen Eigenverantwortung sinnvoll ausgeübt werden kann. (Wer nichts entscheiden kann, dem wird man sein Handeln nicht zurechnen können; man wird die Menschen Nordkoreas nicht unter dem Aspekt der von ihnen nicht geübten Eigenverantwortung kritisieren, ihnen also individuelles Versagen vorwerfen wollen.) Eigenverantwortung setzt, kurz gesagt, Freiheit voraus. In Fremdbestimmtheit gibt es nichts zu verantworten. Es sind somit von Anfang an die beiden Elemente im Spiel. Einerseits das Menschenbild, das heißt, der individuelle Akteur, der fähig und bereit sein soll, Verantwortung zu übernehmen und zu tragen; andererseits das Gesellschaftsbild, das heißt, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die ihm diese Entscheidungsfreiheit ermöglichen.
(1): Auf der Seite des individuellen Akteurs sind es bestimmte Voraussetzungen von Kompetenz, Disposition, Habitus. Die angemessene Nutzung von Freiheit braucht Freiheitsfähigkeit. Im Zuge der Reflexionen über das Menschliche ist immer auch von der Schwäche dieses Wesens die Rede, zwischen Hinfälligkeit und Bequemlichkeit, Disziplinlosigkeit und Dummheit. Es ist nun einmal, mit Immanuel Kant gesprochen, aus krummem Holze gemacht. Menschen müssen durch Institutionen und Kontrollen daran gehindert werden, die anderen zu schädigen, zu berauben, zu vergewaltigen, zu töten, zu demütigen – anthropologisch kann man dem ständigen Kampf gegen das Böse nicht entrinnen. Es ist eine Frage, wie und wie weit das (durch rechtliche Vorgaben oder durch soziale Kontrollen) geschehen kann. Von Thomas Hobbes bis Arnold Gehlen (Gehlen 2004) sind sich Sozialwissenschaftler über den historisch-anthropologisch gut belegten Befund einig, vielleicht mit der Ausnahme Rousseaus: Der böse Anteil kann durch Optimierung der Lebensverhältnisse zurückgedrängt werden.
Heikler ist die Frage, in welchem Maße Menschen durch Institutionen oder Sanktionen daran gehindert werden sollen, sich selbst zu schädigen – dort ist man rasch beim Problem der Bevormundung beziehungsweise der Verweigerung von Selbstverantwortung. Geht es den Staat etwas an, wenn ein reflektierender Akteur Selbsttötung begehen will? 4 Muss man das Rauchen verbieten – unter welchen Umständen? Wie „locker“ geht man mit Drogen und Alkohol um? Gurtanlegepflicht? In solchen Fällen, gerade wenn es nur um den Schutz des Akteurs vor sich selbst geht, pflegen die Gegner entsprechender Maßnahmen auf die Eigenverantwortung in einer freien Gesellschaft zu verweisen; und die Befürworter von Eingriffen weisen auf den Befund hin, dass die Menschen sich halt einfach nicht vernünftig verhalten. Allenfalls wird auch noch auf die für andere entstehenden Kosten der Sozialversicherung verwiesen, sodass man sich um die Bevormundungsentscheidung herumdrücken kann.
(2): Auf der institutionellen Seite kann man die historischen Leistungen Europas im Institution-Building hervorheben. Europa rühmt sich – nicht zu Unrecht – seiner Freiheiten, die Ergebnis eines langwierigen (und oft gewalttätigen) historischen Prozesses sind. In seiner gegenwärtigen Verfasstheit und im Rückblick auf die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist dieser Halbkontinent eine historische Anomalie: ein Wunder von Freiheit, Wohlstand und Frieden. Der Blick in die europäische Geschichte würde uns lehren, dass mehrfacher Kriegszustand eher der Normalfall wäre.
Die Idee der Freiheit ist freilich insoweit ein wenig heruntergekommen, als sie oft auf die Segnungen einer reichen Marktwirtschaft beschränkt wird: Freiheit beim Einkaufen? Mehr Auswahl bei den Joghurts? Aber auch bei bestimmten neuen Freiheiten