Christlich-soziale Signaturen. Группа авторов

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Christlich-soziale Signaturen - Группа авторов


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sein muss, die der willkürlichen menschlichen und politischen Verfügbarkeit entzogen sein müssen, um garantiert werden zu können. Die biblische Sicht auf den Menschen betrachtet diesen außerdem als einem transzendenten Geheimnis entstammend. Dies schützt ihn davor, ökonomisch auf eine Arbeitskraft oder Humanressource, biologisch und chemisch auf eine Ansammlung von Genen, Hormonen und Atomen, politisch auf Machtfaktoren, sozial- und kulturwissenschaftlich auf ein Resultat sozialpsychologischer Gesetzmäßigkeiten oder kultureller Identitätsdiskurse reduziert und festgelegt zu werden. Dadurch wird der Einzelne davor bewahrt, eine namenlose Nummer zu werden. Seine Freiheit entzieht sich überdies auf diese Weise jeglichem totalitären Zugriff.

      Diese Würde eignet jedem Menschen vor aller Leistung und trotz aller Schuld. So kann denn auch niemand, der christliche Werte vertritt, das Recht der Armen auf Würde – und sei die Armut selbst verschuldet – von deren Leistung abhängig machen.

       Pluralität

      Die Anerkennung von Pluralität gehört zum Wesen der Demokratie. Für die biblische Tradition bildet sie Ausgangslage und Normalität der Wirklichkeit. Im Schöpfungsakt Gottes entsteht eine plurale Welt. Auch der Mensch wird erst zu zweit – als Mann und Frau, im Dialog, plural – zum Abbild Gottes. Pluralität beschreibt also weder eine Materialaussage noch einen objektiven Sachverhalt, sondern den konstitutiven Beziehungs- und Dialogcharakter der Schöpfung. Alles Geschaffene steht miteinander und mit Gott in Beziehung: Belebte und nicht belebte Wesen, Tiere und Pflanzen, Menschen, der ganze Kosmos ist Beziehung und verwirklicht sich als Dialog. Die Pluralität der Menschen gründet vor aller ethnischen Zugehörigkeit in ihrer Einzigartigkeit. Die Störung dieser Art von Beziehungs-Einheit heißt biblisch „Sünde“.

      Diese Sichtweise kann der Demokratie dabei helfen, sich Pluralität nicht als Summe sozial, kulturell und religiös verschiedener Gruppen oder als materielle Entitäten vorzustellen, die politisch gemanagt werden müssen, sondern ermutigt dazu, dass zwischen den Verschiedenen – Individuen wie Gruppen – Prozesse des Dialogs und der Kommunikation gefördert werden können, die Beziehung ermöglichen und Gesellschaft gestalten.

      Diese Pluralität ist freilich auch aus biblischer Sicht keine friedliche, harmonische Idylle. Davon erzählt die Geschichte vom Turmbau zu Babel (Gen 11).27 Nach der Sintflut wieder zu einer Menschheit aus vielfältigen Menschen und Völkern geworden, wollen die Menschen mittels dieses Turmbaus aus eigener Kraft untereinander Einheit herstellen. Alle haben sich diesem Projekt zu unterwerfen. Aber indem Gott dieses Projekt beendet und die Sprachen vervielfältigt, verhindert er, dass solche Uniformierungsprojekte ewigen Bestand haben können. Die Verschiedenheit der Sprachen und Kulturen wird zur Normalität. Sie ist schmerzhaft, aber schützt den Einzelnen zugleich vor Vereinnahmung. Sie macht Kommunikation und das Lernen von wechselseitigem Verständnis erforderlich. Einheit unter den Menschen wird als Prozess dialogisch-kommunikativer Einigung verstanden und kann nur von Gott selbst hergestellt werden.28 Laut biblischem Zeugnis scheitern langfristig alle menschlichen Projekte, die Einheit mit Macht und Gewalt herstellen wollen. Die gesamte Bibel kann auch gelesen werden als Lernprozess, wie die Pluralität der Menschheit gestaltet werden und Letztere in ihrer Verschiedenheit eine werden kann.

      Pluralität demokratisch gestalten bedeutet daher auch, darauf zu verzichten, Einheit durch die gewaltförmige Schaffung uniformierender Großprojekte oder die Durchsetzung von Mehrheiten auf Kosten von Minderheiten schaffen zu wollen, sondern auf der Basis von argumentierendem Dialog und Partizipation (Konflikte inklusive) auf die Gestaltung der allen gemeinsamen, einen Welt durch Kommunikation vertrauen zu dürfen.

       Gerechtigkeit

      Weil grenzenlose Pluralität aufgrund der menschlichen Neigung zur Rivalität zu gefährlichen Machtkämpfen und lebenszerstörerischer Gewalt führen kann, bedarf sie der gesellschaftlichen Ordnung durch das Recht. Dieses spielt daher in der Bibel eine vor allem im progressiven Christentum gerne übersehene, aber zentrale Rolle. Nicht ohne Grund verortet der Ägyptologe Jan Assmann29 die Erfindung der Demokratie daher nicht in Griechenland, wo diese ja nur der freien, männlichen Oberschicht zugänglich war, sondern im Volk Israel. Durch den Bundesschluss am Berg Sinai werden alle aus der Fremdherrschaft geflohenen Hebräer zum Volk Gottes, das sich nicht ethnisch, sondern über seine Verpflichtung auf die Thora – Recht, Gesetz und Weisung Gottes – definiert. Denn zur Gestaltung der Pluralität bedarf es auch entsprechender Institutionen, wie zum Beispiel Recht, Amt und Verfahrensweisen, deren Formen bereits im Alten Testament heftig diskutiert werden.

      Ziel des Rechts ist die Bewahrung, Pflege und Förderung von Gerechtigkeit – ein Schlüsselbegriff im Alten wie im Neuen Testament. Auch Jesus von Nazareth fordert dazu auf, zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen (Mt 6,33).

      Einen wertvollen Beitrag für die Demokratie bildet dabei das besondere Gepräge des biblischen Gerechtigkeitsverständnisses. Zum einen ist die Gerechtigkeit in beiden Testamenten untrennbar mit der Barmherzigkeit (Liebe, Zuwendung) verbunden. Die beiden sind keine Antagonistinnen, sondern erschließen und benötigen einander. Ist die Gerechtigkeit die Form der Barmherzigkeit, so ist die Barmherzigkeit der Gerechtigkeit Inhalt und Sinn. Das Gegenteil beider sind die Ignoranz und die Herzenshärte. Zum anderen ist die biblische Gerechtigkeit niemals blind, sondern hat einen besonderen Blick für die Marginalisierten und Schwächsten, die Rechtlosen und Benachteiligten einer Gesellschaft. Deren Bevorzugung führt nicht eo ipso zum Kampf gegen Mächtige und Reiche, nimmt diese aber in die Pflicht, für gerechte Verhältnisse in einer Gesellschaft auch für diese Gruppen zu sorgen.

      Diese Art der Gerechtigkeit ist für demokratische Gesellschaften eine große Herausforderung, da sie deren Qualität daran festmacht, ob und wie die Würde der Schwächsten gewahrt wird. Eine Gesellschaft, die sich nicht aktiv für die Rechte der Armen, die Würde der Rechtlosen und Teilhabe und Integration der Diskriminierten engagiert, mag leistungs- und verdienstgerecht sein; gerecht im Sinne christlicher Werte ist sie nicht. Denn im Zentrum biblischer Gerechtigkeit stehen Förderung von Gleichheit, Solidarität mit den Schwächsten und Ausgleich zwischen Reich und Arm.

      Diese wenigen Pinselstriche mögen dazu anregen, die biblische Tradition (wieder) als Quelle christlicher Werte und deren Beiträge zur Demokratie zu entdecken. Man kann ihre konkreten Gesetze selbstverständlich nicht unmittelbar auf die Gegenwart übertragen. Das wäre fundamentalistisch und würde außerdem den zeitgenössischen demokratiepolitischen Fragen in ihrer historischen Neuartigkeit nicht entsprechen. Aber die grundlegenden Normen dieser alten Texte sind es wert, in die aktuellen Diskurse um christliche Werte eingebracht zu werden. Sie verleihen diesen Form und vor allem Inhalt.

       Literatur

      Abulafia, David: Das Mittelmeer. Eine Biographie,

       Frankfurt am Main 2013.

      Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.

       Antisemitismus. Imperialismus. Totale Herrschaft, München 1986.

      Assmann, Jan: Exodus. Die Revolution der Alten Welt München 2015.

      Assmann, Jan: Herrschaft und Heil. Politische Theologie zwischen

       Ägypten und Israel, München 2006.

      Auer, Alfons: Autonome Moral und christlicher Glaube.

       Düsseldorf 1971.

      Borgolte, Michael: Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr., München 2013.

      Csáky, Moritz / Feichtinger, Johannes (Hg.): Europa – geeint durch Werte? Die europäische Wertedebatte auf dem Prüfstand der Geschichte, Bielefeld 2017.

      Ebach, Jürgen: „Globalisierung“– Rettung der Vielfalt. Die Erzählung vom „Turmbau zu Babel“ im aktuellen Kontext, in: Schröter, Hartmut (Hg.): Weltentfremdung, Weltoffenheit, Alternativen der Moderne: Perspektiven aus Wissenschaft – Religion – Kunst, Münster 2008, S. 39–58.

      Freise, Josef / Khorchide, Mouhanand (Hg.): Wertedialog der Religionen, Freiburg im Breisgau 2014.


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