Wortstoffhof. Axel Hacke
Читать онлайн книгу.wird, kann morgen schon in berühmten Restaurants Münchens, Hamburgs oder Berlins auf dem Teller liegen.
Ich habe mir erlaubt, die Zuschriften nach Länderküchen zu gliedern.
Deutsche Küche. Hier ist von einer erstaunlichen Entwicklung zu berichten, zuerst von Familie B. bei einem Ausflug in Quedlinburg entdeckt, auf dem Weg zum Burgberg. Dort wurde neben Schweinebraten auch »Bauernmädchen mit Rotkraut und Klösse« angeboten. Kein Einzelfall! Denn in Kulmbach, im Bistro einer dortigen Metzgerei (Frau F. schickte mir das Inserat), gibt es: »Omas Saures Fleisch mit Baumwollnem Kloß«. Und Frau E. berichtet aus der Kantine ihrer Firma in München, dort habe eines Montags »Fenchel-Organsuppe« auf dem Speiseplan gestanden.
Ist es zu fassen? Nach der nouvelle cuisine ein nouveau cannibalisme? Das kann jeden treffen, wie ich selbst von Leser K. erfahren musste, der in der Münchner Giselastraße vor einem Lokal ein Schild fotografierte, auf dem es hieß: »Heute: Gebacken Hackefleisch mit Kartoffelen In tomaten Soß u. Basmati Reis«.
So schnell kann es gehen. Da ich selbst noch am Leben bin und keine Körperteile fehlen … Ein Familienangehöriger? Ein Namensvetter? Wir zählen jetzt jeden Tag beim Abendessen durch.
Ob übrigens die Oma in Kulmbach ihren Beilagenkloß noch selbst gestrickt hat? Die Mitarbeit von Familienmitgliedern in der Küche ist ja gelegentlich im Gastgewerbe ohnehin etwas grenzwertig, wie ich aus der Zuschrift von Frau L. und Herrn H. aus Biberbach erfuhr. Sie ließen mir das Exemplar einer Speisekarte des Highlander Hotel irgendwo in Großbritannien zukommen, auf der zunächst ein vegetarisches Gericht mit der knappen Beschreibung »Pfanne Hat Mittelmeergemüse Gebraten« annonciert wird, die nächste Speise aber schon so lautet: »Frischer Örtlicher Lachssalat Garniert Hat, der in Zitrone & Estragon sich Erschlichen Worden Ist, und Hat Sanft auf einem Bett von Gemischt Verläßt Gehockt«. Das ist wahrhaft schön gesagt, und wer nicht böswillig ist, weiß auch ungefähr, was gemeint ist. Anscheinend handelt es sich beim Highlander Hotel um einen Familienbetrieb, bei dem, wie gesagt, alle mitarbeiten müssen, denn am Schluss heißt es: »Alle gediente mit Küchenchef’s Jahreszeitlich Gemüse auftischt, und Baby Hat Kartoffeln Gekocht.«
Sollte halt nur das Jugendamt nichts davon erfahren.
Italienische Küche. Hier scheinen sich ähnliche Ideen Bahn zu brechen, wenn auch zurückhaltender. Eine Runde von Freunden (ich war leider nicht dabei) entdeckte auf Elba »Fisch mit Weib und frisches Tomatensoße« auf der Karte. Herrn W. aus Meran wurde im Hotel Corona in Tirano »Kotelett zur Mailänderin« angeboten (aber auch »Wird tollwütig Pennette« sowie »Ich schneide ein Gewinde zum grünen Pfeffer oder dem Gitterrost«). In Fiesole fand Frau M. aus Baden-Baden »Ausgemachtenudeltucke mit kleine Gemüse«, Frau S. aus Coburg las auf den Zattere in Venedig das Angebot »Nudelspein« im Menü und entschied sich dann lieber für »Wrüstel«. Und Frau D. aß zum Dessert in Desenzano »Tartufo schwarzer weißer Mann oder«. Schließlich diese unfassbare Nachricht: Frau von Z. aus Schwabing berichtet von einem Hotelrestaurant in Abano Terme, in dem auf der Karte »Der Schwanz des Anglers« stand. (Es ging um eine coda di rospo, einen Seeteufel, wobei coda eben auch Schwanz bedeutet und der Seeteufel im Deutschen einen zweiten, seltener benutzten Namen hat, Angler nämlich, anglerfish sagt der Engländer.)
Internationale Küche. Hier möchte ich den Brief von Frau S. aus München zitieren, die auf der Isla Margarita in Venezuela eine »Sauce de tartare« sah, die auf Deutsch »Zahnstein sosse« hieß, wie immer sie hergestellt worden sein mag. Herr B. aus Aying weilte zu Recherchen im Hotel Prima Sol El Mehdi in Tunesien und entdeckte, dass man dort zu radikaler Ehrlichkeit, den Wein betreffend, gelangt ist, denn es wurde angeboten: »Tunesischer Wein (rot und geschönt)«. Ein Catering-Service aus Haimhausen bot, berichtet Frau F. aus Freising, »Chili con cane« an, Hundechili. Man hätte das eher in Asien erwartet. Herr H. fotografierte in Lissabon eine Speisekarte, auf der »Stange des meers gekocht/geröstet« ebenso angeboten wurde wie »Schweinefleisch an der Portugiesin« und »Schweinefleisch an den Papas« (→ Schweinekäse).
Asiatische Küche. Herr H. aus Wiesbaden kann per Foto beweisen, dass in der Mensa der Universität in Mainz im Frühjahr »Gerüchte aus dem Wok« angeboten wurden.
Französische Küche. Die gewagtesten Trends kommen aus Frankreich, wo Herr R. aus Mammendorf einmal seinen Sommerurlaub verbrachte, in der Nähe von Carnac in der Bretagne. Hier scheint ein unentdecktes Genie am Werk, denn es wird angeboten, was in der Weltküche bisher unbekannt war: »Radhemmungen«. Niemand hat es bisher gewagt, »Radhemmungen« zu essen oder zu kochen, in Carnac aber werden sie auf souveränste Weise serviert und kombiniert, sowohl als Beilage eines Salattellers als auch zusammen mit »Ziegenkäse an den drei Parfüms«. Dazu dieser wohl zwischen Maschinenöl und Bremsbelag oszillierende Radhemmungsgeschmack, irgendwie dem Ich-schneide-ein-Gewinde-Gericht in Tirano verwandt – wuff! Wie schnell solche Trends in Frankreich voranschreiten, mag die wenig später eingetroffene Post von Frau L. aus Bochum belegen, die in der Camargue »Topf Formen bildet fraiche radhemmungen« auf dem Speiseplan sah, aber auch »Topf Formen des sünders fischsuppe, ausfugmasse von tomate, weibhan«, als wahre Sensation aber: »Kartoffeln am alten, grünem Salat Soße«. Eines der Hauptgerichte in Carnac übrigens: »Das Ding des Chefs«. Leider war Herr R. nicht bereit zur Bestellung. Aber man hat ja öfter Ferien. Carnac samt Umgebung sollte auf der persönlichen Reisespeisekarte jedes Gourmets von Anspruch verzeichnet sein.
Zum Ende unseres kleinen Ausflugs in die Weltküche fällt mir ein Gespräch mit Frau M. aus Mainz ein, die sich ihrerseits an eine Klassenreise nach Paris erinnerte, bei der die Schüler in einer Pariser Jugendherberge übernachteten. An deren Eingangstür stand auf Deutsch: »Bitte aufstoßen!« Man könne sich ja vorstellen, sagte Frau M., was da geschehen sei, wenn eine ganze deutsche Schulklasse diese Tür passierte. Ja, das kann man, das kann man…
AUTORENERWACHEN
Über die Frage, wann Schriftsteller eigentlich aufstehen, weiß man wenig. Fontanes Tagebücher beginnen Tag für Tag mit dem Wort »Gearbeitet«, nichts übers Vorhergehende. Bei Kafka: nichts. Bei Frisch: auch nix. Nur Thomas Mann, natürlich, notierte Morgen für Morgen: »Gegen 8 Uhr auf. Heiterer Himmel.« Oder: »8 Uhr auf. Nebel.« Oder, am 3. April 1950: »Stand versehentlich um 7 statt um 8 auf. Unbehaglich.«
Dabei interessiert die Frage, wann Schriftsteller sich morgens erheben, den Bürger brennend. Denn der Nichtschriftsteller fantasiert sich den Schriftsteller gern als Bohemien und ist überrascht (und enttäuscht) zu erfahren, dass Künstler Kinder haben, die sie wecken, oder einen Wecker, der … Egal. Worum es jetzt hier geht: dass die Süddeutsche Zeitung im Sommer 2004 einmal Tag für Tag einen Autor fragte, wann er eigentlich aufstehe.
Und was die Leute antworteten!
Kaum einer, von Yann Martel und Henning Mankell abgesehen, gab eine schlanke Antwort, teilte eine Uhrzeit mit oder so.
Nein, man las, dass Aris Fioretos sich auf Zehenspitzen aus dem Bett stiehlt »wie ein Dieb in der Nacht«, um sich dann, zwei orangefarbene Stöpsel in den Ohren, anzuschicken, »aus den Träumen Worte zu machen«.
Man las, dass Katja Lange-Müller aus einem Teller, der auf ungeöffneten Briefen steht, Linsensuppe frühstückt – unglaublich, aber anscheinend wahr.
Man las, dass Durs Grünbein gar nicht aufsteht, denn wer aufstehe, schrieb er, sei verloren. Man habe ihn ungefragt geboren, »und niemand fragt mich, ob ich sterben will. So leb ich hin und bald ist es vollbracht.«
Da bleiben einem gleich ganz früh die Linsensuppe im Hals und die Stöpsel in den Ohren stecken, so traurig ist das.
Mein Nummer-eins-Hit unter den Antworten: der wunderbare, leider verstorbene Walter Kempowski. Der stand zweimal auf, zuerst um sechs, duschte und rasierte sich, guckte aus dem Fenster – dann schlief er wieder. »Dann wird gelesen, und um neun erquickt an den Frühstückstisch geschritten. Hier kommt es zum Tagesgespräch mit meiner Frau, und dazu werden Marmeladenbrote gegessen.« Alles Passiv, aber besonders schön dieses »Tagesgespräch«, das offenbar einen so einmaligen, ritualisierten Charakter hatte.