Zwinglis gefährdetes Erbe. Hans Peter Treichler
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Sansons effekthascherischen, aber effizient organisierten Grossveranstaltungen führten auch dem Zürcher Regime vor Augen, dass hier die ohnehin fragwürdige Praxis der Ablassgewährung (siehe i Ablass: Seelenheil gegen Geld) auf schamlosen Missbrauch der kirchlichen Gewalt hinauslief. Ganz generell war seit Marignano der Widerstand gegen die Sittenlosigkeit und Raffgier des Klerus in offene Ablehnung umgeschlagen; immer öfter griffen die weltlichen Behörden in innerkirchliche Angelegenheiten ein – etwa wenn es um die Lebensführung der Geistlichen ging. Zwar gab der für Zürich zuständige Bischofssitz in Konstanz auch weiterhin regelmässig offizielle Weisungen heraus, die den Geistlichen geboten, dass sy keine concubinenby sich habind, ouch von allem spillen, frevlen und sauffen abstandind. Sehr ernst war das aber nicht gemeint: Einen beachtlichen Teil seiner Einkünfte erzielte der Bischof gerade mit den Abgaben, die «in Unzucht» lebende Geistliche jährlich zu entrichten hatten …
Wenn sich die Zürcher Obrigkeit auf der Suche nach einem neuen Leutpriester auf Ulrich Zwingli festlegte, so weil sie sich im Konflikt mit «Konstanz» einen Scharfmacher erhoffte, der die Bevölkerung auf die gewünschte Linie bringen würde. In Einsiedeln hatte sich Zwingli zudem mehrfach gegen das Mönchswesen im Allgemeinen und die Bettelorden im Besonderen gewandt. Dass diese mit Franziskanern, Barfüssern und Augustinern gleich mit drei Zürcher Niederlassungen vertreten waren, war vielen Stadtvätern ein Dorn im Auge. Mit ihrem Grundbesitz, ihren zahlreichen Rechten und Einkünften stellten diese – theoretisch der Besitzlosigkeit verpflichteten – Orden ein riesiges wirtschaftliches Potenzial dar, das im Sinne des weltlichen Gemeinwesens ungenutzt blieb. Kurz: Mit seinem kompromisslosen Eintreten gegen den Solddienst und den Ablassmissbrauch, mit seiner Skepsis gegenüber Heiligenverehrung und überholten kirchlichen Ritualen stellte dieser scharfzüngige Einsiedler Priester für den reformgesinnten Teil der Zürcher Behörden die ideale Wahl dar. Im November 1518 wurde Ulrich Zwingli zu einem der drei Leutpriester der Stadt ernannt. Am 1. Januar des folgenden Jahres, seinem 35. Geburtstag, hielt er im Grossmünster seine Antrittspredigt.
i Ablass: Seelenheil gegen Geld – Seit dem frühen Mittelalter haben Gläubige die Möglichkeit, gegen Bezahlung Gnade für begangene Sünden zu erwirken. Der sogenannte Ablassbrief wird von Papst, Kardinälen und Bischöfen ausgestellt und entbindet den Empfänger auf begrenzte Zeit oder definitiv von Buss- und Sündenstrafen. Der Aussteller stützt sich dabei auf die Lehre vom unerschöpflichen Gnadenschatz der Kirche; ein Teil der so erworbenen Abgaben dient denn auch der Finanzierung kirchlicher Werke. Das System wird im Verlauf des Mittelalters erweitert; so können Gläubige auch das Seelenheil verstorbener Verwandter durch entsprechende Zahlungen erwirken. Im Allgemeinen krönen Ablass- oder Beichtbriefe eine Wallfahrt, aber mit der zunehmenden Kommerzialisierung der Gnadensicherung werden sie auch auf informelle Weise an jahrmarktähnlichen Veranstaltungen ausgestellt. Die pragmatische Vermarktung eines immateriellen Gutes wie der göttlichen Gnade wird schon in vorreformatorischer Zeit scharf kritisiert; unter Zwingli in Zürich, Niklaus Manuel in Bern und Guillaume Farel in Genf bildet das Ablasswesen einen der zentralen Punkte der reformatorischen Kritik. In einem allgemeinen Sinn verändert die Abwendung vom Ablasssystem auch die generelle Einstellung zum Geldwesen. (HLS sub Ablasswesen)
Weltliche und geistliche Macht
Mit der nüchtern-imposanten Anlage von heute hat der Grossmünsterbezirk der frühen Neuzeit nur wenig zu tun. Zwinglis neuer Arbeitsort ist eine eigentliche kleine Chorherrenstadt. Die Hauptkirche erhebt sich auf einem Geländesporn; ein steiler Abhang, eine gähe prezipice, trennt sie vom 15 Meter tiefer gelegenen Limmatniveau. Zusammen mit dem Stiftsgebäude, den Wohnhäusern der Kaplane und Chorherren und dem kleinen Friedhof bildet sie ein belebtes geistliches Quartier; ein steiler Weg führt hinunter zum Flussufer, zur stiftseigenen Anlegestelle.
Dieses Stift hat mit den Klöstern der Bettelorden nur wenig gemein. Die eigentliche seelsorgerische Arbeit wird von einer Schar von Kaplanen übernommen; die zwei Dutzend Chorherren dagegen sind Weltgeistliche ohne schwerwiegende Verpflichtungen. Sie haben ihre eigene Wohnung und eigenes Einkommen; sie bewegen sich frei und sind oft monatelang auf Reisen unterwegs. Daher auch ihr Interesse an den humanistischen Studien, vor allem am Basler Humanistenkreis rund um Erasmus; Zwinglis Berufung hat nicht zuletzt mit seinem Renommee als Gelehrter zu tun. Viele Chorherren stammen aus den führenden Zürcher Familien und werden vom Grossen und Kleinen Rat als Fachleute in kirchlichen Fragen zugezogen. In gewisser Weise stellt das Chorherrenstift den Beraterstab für die Reformbestrebungen der weltlichen Behörden – nicht von ungefähr werden Stadtversammlungen mit der grossen Glocke des Grossmünsters einberufen und bei bestimmten Themen ins Münster verlegt. Der sakrale Raum erteilt den dort gefassten Beschlüssen gleichsam die höheren Weihen.
Auf frappante Art und Weise vermengt auch der Kirchenschmuck die Bereiche des Weltlichen und des Geistlichen. Vom Hauptportal bis zu den entlegensten Nischen findet sich eine unglaubliche Vielfalt an Skulpturen und Reliefs, die den Gottesdienst mit fantastischen, manchmal spielerischen, dann bedrohlichen Bildern bereichern. Neben biblischen Motiven dominieren Löwen, Schlangen und zahlreiche Fabelwesen wie Sirenen, Drachen oder Zwerge. Manche Motive stellen die Kunsthistoriker noch heute vor Rätsel. Da verbeissen sich Drachen in die Ohren menschlicher Wesen, die sich wiederum in die Schwänze der Untiere verkrallen, Vögel hacken ihre Schnäbel in die Schulter menschlicher Opfer, und aus dem Sockel eines Pfeilers ragt unvermittelt ein kleiner Mädchenkopf. Besonders fantastisch und unwirklich sind reliefartige, aus der Mauer herausspringende Figuren; so löst sich auf der Westfassade gleichsam ein Pferd aus der Mauer, befreit aber nur Kopf, Hals und Vorderhufe aus dem Stein.
Inszenierte Provokation
Ob dieser Bilderreichtum auf Kapitellen und Friesen die stille Andacht der Gemeinde beförderte, steht zu bezweifeln. In Zwinglis erster Amtszeit gab es so oder so Anlässe genug, welche die Pfarrkinder aus der Andacht rissen. Wie erwartet prangerte der streitbare neue Leutpriester in seinen Predigten die Lebensführung der Geistlichen an, kanzelte die Bettelmönche als «Nichtsnutze» ab, stellte Heiligenverehrung, Zölibat und den kirchlichen Zehnten in Frage – und dies mit stillschweigender Duldung, ja offener Förderung durch Bürgermeister und Räte. Dabei entwickelte Zwingli eine gezielte Technik der Provokation, machte beispielsweise in einer Predigt das kirchliche Fastengebot zum Thema, nahm wenig später im Haus des Buchdruckers Froschauer an einem Wurstessen zur «Unzeit» teil – also während der Fastenwochen, was prompt den Bischof in Konstanz mobilisierte. Dieser ordnete eine Delegation nach Zürich ab, die den unbotmässigen Priester im Beisein der Räte scharf kritisierte. Die Sitzung endete wie erwartet: Auch der Rat als weltliche Obrigkeit verurteilte den Fastenbruch und versprach, den Schuldigen zu massregeln. Dies allerdings mit einem Vorbehalt: Die bischöfliche Vertretung möge bitte nachweisen, wo genau in der Heiligen Schrift ein entsprechendes Fastengebot zu finden sei (siehe «Fastengebot). Zwingli seinerseits untermauerte seine Haltung mit einer bei Froschauer gedruckten Broschüre unter dem Titel Von Erkiesen und Freiheit der Speisen.
Die vermeintliche Niederlage stellte in Wirklichkeit in zweifacher Hinsicht einen Sieg dar. Nicht nur, dass die weltliche Behörde in einem quasi offiziellen Akt in einer innerkirchlichen Angelegenheit mitentschied. Das Urteil sollte zudem auf der Basis des Schriftprinzips erfolgen: Was zählte, war allein das biblische Wort, nicht aber die unzähligen Schriften der Kirchenväter, die seit der Ära des frühen Christentums das göttliche Wort mit Tausenden von Kommentaren verwässert hatten. Indem sie sich auf das Schriftprinzip einliess, hatte die Konstanzer Abordnung ihre Deutungshoheit bereits eingebüsst. In den nun folgenden vom Rat einberufenen Disputationen (siehe i Hearings zu Glaubensfragen) nahm «Konstanz» nur noch die Rolle des protestierenden Beobachters ein.
« Fastengebot – Auszug aus Mandat vom 9. April 1522: Als dann anfangs diser fasten etlich personen on not fleisch gessen habendt, darus dann vil zanks, unruow und widerwärtigkeit ist entsprungen, uf das verkündent und ermanent unser Herrn BM, Rät und der gross Rat der stadt Zürich menklichen in der Stadt und uff dem land, dass hinfür in der fasten on merklich ursachen und erloubtnuss gar niemas me fleisch essen sölle bis uf witeren bescheid, inhalt einer abredung mit unsres Gnädigen Herren von Costentz