Zwinglis gefährdetes Erbe. Hans Peter Treichler

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Zwinglis gefährdetes Erbe - Hans Peter Treichler


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der Brücken

      Die Schifffahrt hat sogar ihr eigenes Stadttor, das in die Limmat gebaute Wyrhus. Sein Portal wird nachts mit einem Gitter verschlossen, und eine Pfahlreihe riegelt den Seeausfluss bis zum Gegenufer ab. Die Stadt, so scheint es, hat jedem Abschnitt des Flusses seine Aufgabe zugewiesen. Der mittlere Teil gehört den Brücken, der Rathaus- und der Münsterbrücke. Die erste, fast so breit wie lang, ist der einzige befahrbare Übergang, dient als Markt, als Promenade für die Ratsherren, die zwischen den Geschäften ihre Taktik absprechen, als Treffpunkt für die Bürgerfrauen. Was sie mit der flussaufwärts gelegenen Münsterbrücke gemein hat, diesem geistlichen Dreisprung von Grossmünster über Wasserkirche zu Fraumünster, ist eine kuriose Installation. Ein Schöpfrad, ähnlich einem Mühlrad, transportiert mit Hilfe beweglicher Eimer Limmatwasser hoch und lässt dieses in eine Rinne fliessen, die zu einem Brunnentrog führt. Es sind «kunstvolle Räder, die den Fluss in die Stadt hineinregnen lassen», wie ein poetisch veranlagter Besucher meldet. Und wo dieser Besucher auch hinschaut, drehen sich kleinere und grössere Wasserräder – vor allem auf zwei Stegen, die weit in den Fluss hinausragen. Hier wird Korn gemahlen, aber viele Räderwerke treiben auch Reiben und Knochenstampfen oder die Läufersteine der Ölmühlen an. Gewürze «und andere wohlriechende Spezereien» werden zerkleinert und gesiebt, sodass um manche dieser Holzbuden eine angenehme Duftwolke schwebt. Aber keiner dieser Stege führt ans Gegenufer; wer von einem Stadtteil in den anderen wechselt, ist auf eine der beiden Brücken angewiesen. Das gilt auch für die flussabwärts gelegenen Gemeinden, denn bis Baden gibt es keinen weiteren Flussübergang: Die Stadt wacht eifersüchtig über ihr Brückenmonopol!

       Stätten der Gewalt

      Die fliessenden, ziehenden Wassermassen, so scheint es, verleihen der Stadt ein Grundgefühl der Dynamik, der Beschleunigung. Das spüren Neuankömmlinge, die sich wie Zwingli hier niederlassen. Die Zeit wird in Zürich nachdrücklicher verwaltet als anderswo. So ist es kein Zufall, dass die Turmuhr der St. Peterskirche als Erste des Landes neben der vollen Stunde auch die Viertelstunde meldet. Das hat auch damit zu tun, dass das einzige Zifferblatt in Richtung Limmat weist und die Bewohner der «minderen» Stadt zum grossen Teil im Stich lässt. Dafür wird das Glockenzeichen von Zürichs Hauptuhr in alle Richtungen «von Hand» weitergegeben. Beispielsweise schlägt ein Gehilfe die Stundenzahl auf der Glocke des Rennwegtors nach – dies für all jene, welche vor dem getöss der Müllenen beim St. Peter nicht haben läuten hören. Überhaupt legen sich akustische Zeitzeichen wie ein Raster über den Tag: Die Wächter der Stadttore zeigen das Öffnen und Schliessen der Portale mit einem Glockenbimmeln an, und hoch von der Turmstube der Peterskirche erklingen nach dem Läuten der Nachtglocke die Melodien zweier Stadttrompeter, die an zweyen fenstern die nacht anblasen, womöglich unter Verwendung wollutender stucken nach der Kunst und nicht irgendwelcher populärer Weisen.

      Als einer der führenden Geistlichen wird es Zwingli in vielerlei Hinsicht mit Gewalt und Strafe zu tun bekommen. Ein Menschenleben ist in dieser Stadt wenig wert, dafür sorgt allein die unheilvolle Tradition des Reislaufens. Söldner mit Kampfpraxis und niedriger Aggressionsschwelle geben auf den Gassen und in den Tavernen den Ton an. Die Gewaltbereitschaft zeigt sich schon im äusseren Habitus der männlichen Bevölkerung: Vom Burschen bis zum Greis trägt jedermann eine Hieb- und Stichwaffe am Gürtel, einen Degen oder einen Dolch, der bei Wirtshausraufereien locker in der Scheide sitzt. Hat zuckt lautet einer der häufigsten Einträge der Polizeiakten: Er hat vom Leder gezogen. Gezuckt hat beispielsweise der bekannte Glasmaler Lukas Zeiner, der 1489 am gewaltsamen Tod eines Stadtknechts beteiligt war. Kein Problem – zehn Jahre später wählt man ihn zum Grossrat. Wehe hingegen jenem Dieb, der ums Jahr 1500 silberne Beschläge von einem Pistolenknauf entwendet! Hier spricht das Gericht die Todesstrafe aus; der Mann wird gehängt.

      Aus welcher Richtung auch immer der Besucher in Zürich eintrifft – eine weithin sichtbare Richtstätte empfängt ihn als Zeichen der Gewaltbereitschaft, die diese Stadt prägt. Zwingli, der wie anzunehmen mit dem Pilgerschiff ankommt, nimmt als Erstes den Wellenberg zur Kenntnis, einen uralten Turm mitten im Seeausfluss. Zur unheimlichen Fassade passt, dass hier die Stadt ihre Folterkammer unterhält, weiter die Kerker für zum Tod Verurteilte. Anreisende aus Richtung Norden stossen beim heutigen Freibad Letzigraben auf einen kleinen Hügel mit dem Hochgericht. Das ist ein Galgen mit drei Pfeilern, zwischen denen oft über Wochen hinweg die Leichen der Hingerichteten baumeln, ergänzt durch einige aufgespiesste Köpfe oder andere Gliedmassen.

      Nahe der Sihlporte führt die Badener Landstrasse an einer weiteren Richtstätte vorbei. Das Grien heisst eine Kiesbank am Sihlufer; hier vollzieht der Scharfrichter das Todesurteil an Frauen und Männern, die sich durch Zauberei oder Umgang mit dem Teufel schuldig gemacht haben. Sie büssen mit dem Tod auf dem Holzstoss, und ihre Asche wird umgehend in den Fluss gekippt: Nichts darf übrig bleiben vom Umgang mit dem Bösen. 1520, im Jahr nach Zwinglis Amtsantritt, wird hier eine Christiane Keller aus Andelfingen hingerichtet. Ihre angebliche Untat, die sie unter Folter im Wellenberg gesteht: Christine hatte Umgang mit dem Teufel, erhielt von ihm eine schwarze Salbe, habe damit einen Stecken bestrichen und also hinweg uff den Höwberg gefahren.

       Stadt der Linden

      Eben dieser Wellenberg gilt als ältester und geheimnisvollster aller Stadttürme. Sechzehn gibt es insgesamt, acht dienen auch als Tore oder Portale, aber nur vom Wellenberg heisst es, die Römer hätten ihn einst als Leuchtturm für die Last- und Marktschiffe gebaut. Mehr noch, er ragt 80 Fuss hoch in den Himmel, aber ebenso tief bohrt er sich in das Bett der Limmat: Diser Thurn soll nidsich under der Erden so tief als hoch seyn.

      Überhaupt ranken sich Legenden um alle diese Befestigungsbauten; es gibt geheime Entsprechungen. Die 16 steht, als doppelt potenzierte 2, für die beiden Hälften der Stadt, die beiden Brücken und die beiden grossen Stifte. Doch rund um die Stadtmauer erstreckt sich ein zweiter, unsichtbarer Wall. Er verbindet neun unscheinbare Punkte, so die Spanweid, wo das Siechenhaus steht, oder den Baschligplatz in Hottingen. Beide Fixpunkte liegen ausserhalb der Mauern, so wie auch die Klausstud – ein Kreuz auf einer Untiefe im Ufergelände vor dem heutigen Bellerive. Denn Zürich ist ein Kreuzbezirk, den eine unsichtbare Macht vor Unheil bewahrt. So findet sich die Stadt nicht nur umgeben von einem steinernen Wall, sondern eingesponnen in ein ungleich luftigeres Gewebe aus Erzählungen und Bildern. Wie Zwingli zu solch halb heidnischen, halb christlichen Vorstellungen steht, lässt sich schwer sagen. Warnende Vorzeichen, drohende Himmelserscheinungen nimmt er durchaus ernst, wie sich anhand der Phänomene, die der Kappelerschlacht vorangehen, zeigt.

      Manche Portale, so der «wahrhaft zyklopische» Oetenbacherturm, sind derart massiv, dass sich der Glaube festsetzt, der Bau der Befestigung habe sich über viele Generationen hinweg erstreckt; in der minderen Stadt habe der Bau «schon Anno 880 unter Kaiser Karl dem Dicken» begonnen. Tatsächlich schafft die Bevölkerung diesen kollektiven Kraftakt aber in knapp 50 Jahren; im grossen Ganzen stehen Mauern, Türme und Gräben im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts bereit. Zeit lässt man sich allein mit der «vierten Wand» der Wehrtürme. Die der Stadt zugekehrte Seite bleibt offen, was den Blick auf die hölzernen Treppen und Fussböden im Turminnern freigibt. Das gilt zumindest bis zur Zeit des Malers Hans Leu, der um 1500 ein erstes realistisches Porträt der spätmittelalterlichen Stadt schafft. Ein Altarbild eigentlich, das vom Martyrium der Stadtheiligen Felix und Regula handelt, um der Wirklichkeitsnähe willen aber die Plätze und Gassen mit allerlei kleinen Alltagsszenen bevölkert: Da stösst ein Händler seinen Handkarren, und ein Kollege schiebt von hinten mit, ein Fährmann holt eine Dreierdelegation auf der Plattform des Wellenberg ab, und eine schwarz gekleidete Nonne wartet vor dem Portal des Grossmünsters auf Einlass.

      Als Betrachter können wir nachprüfen, wie es mit der Reinlichkeit steht, die man der Stadt nachsagt – jedenfalls seit die Obrigkeit verfügt hat, es seien alle Gassen und Strassen systematisch zu pflästern, und ward zugleich verbotten, dass man ein jar lang kein Schwein auff der Gassen solte lauffen lassen. Schweine zeigt das Altarbild nicht gerade, immerhin weist die Stadt aber überraschend grosse Grünflächen auf: hinter dem Grossmünster beispielsweise ein ausgedehnter Rebberg, und flussaufwärts von der Schipfe schlängelt sich ein Spazierweg durch eine Hangwiese, darüber der sattgrüne Lindenhof. Linden finden sich auch anderswo: Stadtgräben und -wälle sind mit


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