50 Jahre Frauenstimmrecht. Группа авторов
Читать онлайн книгу.der Ebenbürtigkeit aller Menschen. Trotz allem hält gerade «die demokratische Urschweiz» die Frauen «in Unmündigkeit», und so fordert sie die «vollkommene Gleichstellung beider Geschlechter vor dem Gesetz in allen bürgerlichen Rechten».4
Der Kampf um das Frauenstimmrecht hat in der Schweiz also spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen. So haben Frauen (und auch Männer) insbesondere im Zusammenhang mit der ersten Totalrevision der Schweizer Bundesverfassung von 1874 sowohl die zivilrechtliche als auch die politische Gleichstellung der Frauen gefordert. Auch Marie Goegg, ebenfalls Frauenrechtsaktivistin, spricht 1868 in Bern in einer damals viel beachteten Rede von einer «Anomalie» und fordert als «Akt der Gerechtigkeit» die «vollständige Gleichheit vor dem Gesetz»5.
Ganz in diesem Sinne wurden von der Association internationale des femmes, die u.a. von Marie Goegg gegründet worden war, zwei Anträge (1868 u. 1870) zur bürgerlichen Gleichstellung der Frau an den Nationalrat gestellt. Ob auch ein Antrag «auf vollständige politische Gleichstellung der Frau» eingereicht wurde, wie in der Botschaft des Bundesrates6 von 1957 behauptet, scheint unklar. Das heisst, der Kampf ums Frauenstimmrecht begann in der Schweiz fast zeitgleich wie in anderen westlichen Ländern und bereits damals wurde die Verweigerung des Stimmrechts von Frauen* und Männern* in der Schweiz als Verstoss gegen die Menschenrechte und damit als Unrecht kritisiert. Kurz: Sie war schon damals ein bewusster Akt gegen die ausdrücklichen Forderungen von Frauen7 nach gleichen Staatsbürgerrechten.
Drei Gründe für die späte Einführung in der Schweiz
Begründung: Mit dem Wort «Schweizer» sind die Frauen nicht mitgemeint
Wie deutlich wird, haben die Frauen (und auch manche Männer) von Beginn an versucht, die Einführung des Stimmrechts auf dem Interpretationsweg zu erreichen. Entsprechend wurden 1919 von 158 Frauenverbänden Motionen für eine Teilrevision der Verfassung unterstützt, in denen eine andere Interpretation des Artikel 74 der BV (1874, gültig bis 1971) gefordert wurde. Begründet wurde dies damit, dass mit der dortigen Formulierung: «Stimmberechtigt ist jeder Schweizer, der …» doch auch die Frauen gemeint sein müssen oder, wie es in den Gesuchen nach Eintragung in das Stimmregister (Bern 1923, Genf 1928) heisst, dass «die Frauen auch ‹Schweizer› im Sinne der Verfassungsvorschrift seien».8 Gestützt wurde diese Argumentation auf den Artikel 4 der Verfassung: «Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich.» (Art. 4 BV 1874; gültig bis 1981). Doch Frauen waren keineswegs vor dem Gesetz gleich, ja nicht einmal richtige «Schweizer». Schliesslich verloren sie noch bis 1952 ihre Schweizer Staatsbürgerschaft, wenn sie einen Ausländer heirateten.
So wurde auch dieser Antrag am 14. September 1923 vom Bundesgericht mit der Begründung abgelehnt: «Mit dieser Bezeichnung (Schweizer in Artikel 74 BV) […] sind nur die Schweizerbürger männlichen Geschlechts gemeint»9. Ausserdem wird die Forderung zurückgewiesen, das Wort «Schweizer» könne nun – nachträglich entgegen seinem historischen Verständnis – anders interpretiert werden. Vielmehr wird betont, dass eine zeitgemässe Interpretation dieses Artikels nicht möglich ist, weil «niemand eine solche Änderung im Auge hatte»10. Deshalb ist für die Gewährung des Stimmrechts für Frauen eine Verfassungsänderung nötig.
Trotz abschlägigem Bescheid haben Frauen diesen Weg jedoch immer wieder sowohl auf nationaler als auch kantonaler11 Ebene versucht. Einen weiteren bedeutsamen nationalen Versuch hat der Schweizerische Verband für Frauenstimmrecht 1950 unternommen. In dieser Eingabe wurde ebenfalls eine Neuinterpretation, jetzt aber in Form einer Ergänzung im Artikel 10 des Bundesgesetzes vorgeschlagen: Statt «Schweizer» sollte es nun «Schweizer, ob Mann oder Frau» heissen.12 Auch diese Eingabe scheiterte, weil eine «Ergänzung des Bundesgesetzes» nicht genüge, es vielmehr einer Verfassungsänderung bedürfe.13
Allerdings wurde am 15. März 1951 vom Nationalrat – nach einer Anhörung von Vertreterinnen des Frauenstimmrechtsverbandes – beschlossen, dass der Bundesrat einen Bericht für eine «Partialrevision der Bundesverfassung»14 vorlegen sollte. Umgesetzt wurde dieser Beschluss jedoch erst mit grosser zeitlicher Verzögerung und nur unter erneutem Druck der Frauenverbände mit der Vorlage der bereits angesprochenen Botschaft von 1957. Hintergrund war die ein Jahr zuvor vorgenommene Aufnahme einer obligatorischen Dienstpflicht von Frauen in die Verfassung. Dies zeigte einmal mehr, dass eine Neuinterpretation der Verfassung sehr wohl möglich gewesen wäre. Darauf verwiesen auch der Bund Schweizerischer Frauenvereine sowie der Schweizerische Katholische Frauenbund15 in ihrer Ablehnung dieser obligatorischen Dienstpflicht. Solange den Frauen ihre Aktivbürgerrechte verweigert würden, «sei die Einführung dieser obligatorischen Dienstpflicht nach dem Grundsatz der Rechtsgleichheit nicht zulässig»16.
Die vielfachen Zurückweisungen einer zeitgemässen Verfassungsinterpretation waren also bewusste politische Entscheidungen: Die Mehrheit der Schweizer Männer wollte den Frauen das Stimmrecht nicht geben. Dies ist letztlich der entscheidende Grund, warum die Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz so lange gedauert hat. Nun brauchte es eine aufwendige Verfassungsrevision und damit eine doppelte Mehrheit von männlichem Stimmvolk und Ständen/Kantonen. Wäre das in anderen Ländern nötig gewesen, wer weiss, ob es dort nicht ebenfalls länger gedauert hätte. So betont auch Iris von Roten, dass die Abgeordneten «demokratischer als das sogenannte Volk» waren. Es waren die «männlichen Bürger», die auf ihre «Souveränitätsrechte» pochten.17
Begründung: Staatsbürgerschaft und Männlichkeit
In dem obigen Entscheid des Bundesgerichts von 1923 wird noch etwas Weiteres deutlich. Zur Begründung, dass allein Männer Schweizer sind, wird auf «uraltes Gewohnheits- oder Gesetzesrecht» und auf einen «tief eingewurzelten Rechtszustand» verwiesen. In diesem althergebrachten Selbstverständnis hatte, so heisst es, «niemand eine derartige Änderung im Auge»18, dass dereinst mit dem Wort «Schweizer» auch die Frauen gemeint sein könnten und sie auf dieser Grundlage das Stimmrecht einfordern.
Ausdrücklicher lässt sich kaum sagen: Die Schweiz ist ein «Männerstaat»19 mit einem zutiefst männerbündischen Verständnis von Staat und Demokratie. Und dies ist nicht etwa ein feministischer Begriff, vielmehr eine Selbstzuschreibung. So wird auch explizit von «Männerstimmrecht»20 gesprochen. Ein Selbstverständnis, das nicht umsonst im Ursprungsmythos des Rütlischwurs als einem zentralen Element des kollektiven Gedächtnisses der Schweiz jährlich neu aufgerufen und bekräftigt wird: In ihm konstituiert sich die Schweiz als ein Bund von wehrhaften Männern und verantwortungsvollen Familienvätern (auch wenn inzwischen an diesem Ritual auch Frauen teilnehmen dürfen).
Trotz aller Beteuerungen, der Begriff «Schweizer» sei neutral und stehe für alle, es bräuchte die unschönen Aufzählungen von Schweizern und Schweizerinnen nicht, zeigt gerade der Kampf ums (Frauen-)Stimmrecht: Mit dem Wort «Schweizer» waren nur die Männer gemeint. Mit der Folge, dass Schweizerinnen erst mit den Verfassungsänderungen 1971