50 Jahre Frauenstimmrecht. Группа авторов
Читать онлайн книгу.Als ich 14 oder 15 Jahre alt war, hat mein Vater einmal in Muri, wo wir wohnten, einen Vortrag gehalten über irgendeine Finanzreform. Er war damals Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung. Ich habe ihn gefragt, ob ich mitkommen kann, und er meinte: «Du wirst zwar nichts davon verstehen, aber wenn du willst, kannst du mitkommen.» Da bin ich mit. Als ich in den Vortragsraum gekommen bin, war der Saal schon ziemlich voll. Ich habe mich in die hinterste Reihe in die Ecke gesetzt, so konnte ich den ganzen Raum sehen. Und mir ist aufgefallen, dass nur zwei weibliche Wesen anwesend waren: Ich und die Serviertochter. Da trat der Veranstaltungsleiter ans Podium und weil er mich hinten in der Ecke sitzen sah, begann er seine Rede mit «Meine Damen und Herren». Dabei habe ich vor mir nur so «beglatzte» Köpfe gesehen, die sich erst verwundert und dann zunehmend empört zu mir umsahen. Sie fragten sehr offen, was denn eine Frau hier drinnen verloren habe. Wieder zu Hause habe ich das meiner Mutter erzählt. Ihre Antwort: «Das ist halt, weil Frauen kein Stimmrecht haben. Darum gehen sie auch nicht an solche Veranstaltungen.» Ich weiss noch, wie ich zu meiner Mutter gesagt habe: «Aber das geht doch einfach nicht! Das muss man doch ändern.» Und meine Mutter hat geantwortet: «Ja, das wird sich auch einmal ändern irgendwann. Aber wahrscheinlich dauert es noch lange.»
Was hat diese Aussage in Ihnen ausgelöst?
Empörung! Ich war voller Empörung. Auch dass die Männer damals so irritiert waren und fragten, was ich denn in diesem Saal verloren hätte. Solche Momente gab es auch später immer wieder. Ich weiss noch, dass ich einmal als gewählte Gemeindepräsidentin44 – ich war damals in der Deutschschweiz die einzige Frau in dieser Funktion und dementsprechend viel in der Presse –, an einer Sitzung aller Gemeinden teilgenommen habe. Das Thema war das kommunale Abfallwesen. Ich bin in den Saal gekommen und habe mich auf einen freien Stuhl gesetzt. Da dreht sich mein Sitznachbar zu mir um und sagt: «Gut, dass Sie hier sind, Fräulein. Sie kommen, um das Protokoll zu schreiben, nicht wahr?» Erst wollte ich wütend werden und ihn fragen, ob er eigentlich keine Zeitung liest. Dann habe ich es aber anders gemacht und gesagt, dass ich sehr gern bereit bin, in der ersten Hälfte das Protokoll zu schreiben, wenn er es in der zweiten Hälfte übernimmt.
Und? Was war seine Reaktion?
Er wurde rot wie ein Granatapfel. Plötzlich war ihm klar, dass ich dieselbe Funktion und Stellung hatte wie er. Aber meine Reaktion war doch ziemlich elegant, oder? (lacht)
Was war Ihre Motivation, in die Politik zu gehen?
Zwei Jahre, bevor die Frauen auf Bundesebene das Stimmrecht bekamen, hatten sie in einigen Gemeinden ein Stimmrecht, wenn es um Gemeindeangelegenheiten ging. Als dies bei uns 1969 in Kraft trat, haben die Zumiker Frauen sofort geschnallt, was das für die anstehenden Gemeinderatswahlen im Ort bedeutet. Die Präsidentin des Frauenvereins kam auf mich zu und sagte mir, dass sie mich aufstellen wollten.
Und wie haben Sie darauf reagiert?
Ich war überrascht und habe um Bedenkzeit gebeten. Ich hatte zwar mein Studium mit einem Summa cum laude abgeschlossen – übrigens als erste Frau der Fakultät! –, aber ich hatte noch kein Anwaltsexamen. Das wollte ich damals machen. Und ich wollte diese Frage auch mit meinem Mann besprechen. Der schaute mich nur mit grossen Augen an und sagte: «Hör mal, du kannst dich doch nicht jahrelang fürs Frauenstimmrecht einsetzen und dann eine Kandidatur ablehnen, wenn du gefragt wirst!» Da hatte er natürlich recht – und so habe ich der Kandidatur zugestimmt und wurde 1970 in den Gemeinderat gewählt.
Und wie ging es weiter?
Drei Tage nach der Wahl war schon die konstituierende Sitzung. Dort wurden als erstes die Ressorts verteilt. Die Männer haben sich auf die Finanzen gestürzt und auf Hochbau. Für mich blieb «Gesundheit und Fürsorge» übrig. Mein erster Impuls war, das als typische Frauenthemen abzutun. Ich habe aber meine Meinung sehr schnell revidiert, denn zu meinen ersten Aufgaben gehörte auch die Planung und die Baubegleitung von einem Schwimmbad in Zumikon. Nach dem Willen des Gemeinderats sollte es ein Hallenbad werden, bei dem eventuell später mal ein Freibad angegliedert werden konnte. Aus meiner Sicht war das Blödsinn. Was sollten denn die Frauen mit kleinen Kindern im Sommer machen? Da nutzte doch ein Hallenbad gar nichts. Und irgendwann einmal vielleicht ein Freibad – das hielt ich für reine Aufschieberei. Ich wollte alles gleichzeitig bauen. Dem Gemeinderat passte das nicht, aber sie liessen sich auf eine Abstimmung in der Gemeindeversammlung ein – und diese Abstimmung habe ich haushoch gewonnen. Für mich ist das ein Beispiel, das ich auch bei Vorträgen oft erwähne, denn es zeigt: Frauen setzen in der Politik oft andere Prioritäten, weil sie Auswirkungen auf Frauen und Kinder stärker im Blick haben. Darum ist es so wichtig, dass Frauen und Männer gleichermassen in der Politik vertreten sind.
War das nicht eine absurde Situation, gewählte Gemeinderätin zu sein mit Verantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten – und gleichzeitig formal nicht dieselben Rechte wie ein Mann zu haben?
Absolut. Es war ein grosses Ärgernis.
Warum hat es so lange gedauert, das zu ändern?
Damals hiess es in der Verfassung: Jeder Bürger ist vor dem Gesetz gleich. In der Praxis hiess das: Die Männer konnten abstimmen und wählen, aber die Frauen nicht. Es war eine kleine Gruppe, ich war auch dabei, die der Meinung war, dass der Sinn dieses Passus sei: Jeder Mensch ist vor dem Gesetz gleich – nicht spezifisch Männer oder Frauen. Aber die Auslegung war Gewohnheitsrecht – und um das Gewohnheitsrecht zu ändern, muss man die Verfassung ändern. Dazu braucht es eine Mehrheit der Kantone und eine Mehrheit der Stimmberechtigten, und das war ein dickes Brett.
Können Sie sich noch an den 7. Februar 1971 erinnern, als die Männer tatsächlich Ja gesagt haben zum Frauenwahlrecht?
Natürlich. Ich war damals im Vorstand der Frauenzentrale, und wir Frauen haben es gross gefeiert.
Haben Sie damit gerechnet, dass das Stimmrecht 1971 durchkommt?
Mehr gehofft, als damit gerechnet. Mir war klar: Der politische Druck war hoch, und ewig konnten sie es nicht verklemmen. Die Männer machten sich und die Schweiz ja lächerlich. Darum war ich auch sehr froh, als es angenommen wurde – ich wollte nicht, dass sich die Schweiz weiter lächerlich macht. Im Vorfeld der Wahl war ich fast jeden Abend unterwegs, habe Vorträge gehalten, an Diskussionsrunden teilgenommen. Und so wie mir ging es vielen engagierten Frauen. Umso grösser war die Freude, als wir es endlich geschafft hatten.
Wann haben Sie sich entschieden, sich parteipolitisch zu engagieren?
Das kam erst viel später. Als Gemeinderätin war ich noch in keiner Partei. Die FDP kam irgendwann auf mich zu, weil sie mich für den Erziehungsrat des Kantons Zürich aufstellen wollten.45 Auch dort war ich die erste und einzige Frau. Das war in Gremien immer mein Schicksal, im Gemeinderat, später als Gemeindepräsidentin und dann im Bundesrat. Ich hätte viel dafür gegeben, nicht immer die Erste und Einzige sein zu müssen, sondern noch zwei, drei Kolleginnen zu haben.
Wir sind sehr froh, dass Sie es gemacht haben!
Danke! Solche Rückmeldungen sind auch heute noch echte Highlights für mich.
Auf uns haben Sie schon als Kinder bzw. junge Frauen immer sehr «perfekt» gewirkt.
Ich würde es nicht so ausdrücken. Ich wollte einfach in jeder Beziehung so gut sein, dass niemand sagen kann: Die Frauen können das nicht. Das war mein Ziel und mein Ehrgeiz – und übrigens auch mein erster Gedanke, als ich damals bei der Bundesratswahl nach vorne gegangen bin, um die Wahl anzunehmen. Ich wollte den Frauen den Weg ebnen – womöglich auch in jeder Beziehung.
Ist das nicht eine grosse Bürde?
Doch natürlich. Es war eine riesige Bürde und ein grosser Druck. Auch für meinen Mann war das nicht lustig, aber er hat mich immer unterstützt. Als ich das erste Mal in den Nationalrat gewählt wurde, gab er mir zur Feier ein kleines Schächtelchen. Es war ein unscheinbares Ding, nicht schön eingepackt – ich dachte: Gut, dass es kein Schmuck ist. Ich habe es aufgemacht, es lag ein ganz normaler Schlüssel drin. Ich war etwas ratlos und mein Mann sagte: «Weisst du, ich kenne