Kleine Leute. Niklaus Meienberg
Читать онлайн книгу.Jahre alle Lebensäusserungen zu beherrschen schien. Freiburg, und besonders auch seine Universität, war denn auch bis vor kurzem ein Treibhaus für ständestaatliche Ideen (Bundesrat Musy, Gonzague de Reynold) und ein Hort der theologisch-philosophischen Reaktion, wo die thomistischen Dominikaner ihre letzten Rückzugsgefechte liefern. Die Kader des politischen Katholizismus, kaum den Klosterschulen entwachsen, wurden hier geschult und in den Studentenverbindungen dressiert (von denen heute nur mehr die Neuromania, genannt Neuro-Mania, in alter burschenschaftlicher Blüte steht, in vollem Braus und Suff, mit Zotenabend, Stammbuch, Altherren, Füchsen, Ehrendamen, Trinksprüchen und langen Trinktouren in der Unterstadt, welche «grosser Rosenkranz» oder «kleiner Rosenkranz» genannt werden).
Während die Universität die Stadt Freiburg zu einem Zentrum des nationalen und internationalen Katholizismus machte und eine konservative Elite züchtete, wurde die Erziehung der breiten Massen vernachlässigt. Noch im Jahr 1970 konnten nur 50 Prozent der Sechstklässler eine Sekundarschule oder ein Gymnasium besuchen. Hingegen zieht eine Anzahl von Instituten mit internationaler Besetzung und religiöser Direktion immer noch diese seltsame Fauna von höhern Töchtern nach Freiburg, welche von ihrer Familie in eine gutkatholische Umgebung geschickt werden. Und auch die Flora der buntbewimpelten Orden ist noch präsent, wenn auch mit rückläufiger Tendenz: die Väter vom Heiligen Sakrament, Redemptoristen, Salvatorianer, Salesianer, Palottiner, Marianhiller, Marianisten, Weissen Väter, Kleinen Brüder vom Evangelium, Gesellschaft vom Göttlichen Wort, Missionare von Bethlehem.
Also immer noch: «Freiburg, das Schweizer Rom, Pfaff an Pfaff und Dom an Dom», wie Gottfried Keller sagte? Nicht mehr ganz. Zwar gibt es noch den «Cercle de la Grande Société» an der Reichengasse, welcher nur Patrizier und Aristokraten aufnimmt, einen Lesezirkel der Guten Gesellschaft, wo die de Weck, de Diesbach und von der Weyd Bridge spielen und ihre Töchter verkuppeln. Zwar gibt es immer noch konservative Ideologen an der Universität, wie den pechraabenschwarzen Historiker Raab oder den Pädagogikprofessor Räber, welcher den Begriff der Autorität so definierte: Sie sei etwas Gegebenes, dem man sich füge, eine Befehlsvollmacht, die an ein Amt gebunden sei, denn nur Macht könne das Gute durchsetzen, etwas Angeborenes, das man nicht beschreiben könne, das von innen herausstrahle.
*
Soweit der Hintergrund, vor welchem sich die Biographie des Seppi Siffert entfaltet. Ein Leben in Freiburg im Üechtland, wo das Konservatorium gleich neben dem Schlachthaus steht: Sonaten und Präludien begleiten die Tiere auf ihrem letzten Gang. Der Friedhof liegt nahe beim Sportstadion. In der Unterstadt wird das Proletariat langsam von Künstlern und Studenten verdrängt. Unvergessliche Menschen wohnen dort, wie jener Jacob Fleischli, cand. phil. und Tristanforscher, der sich regelmässig am Freitagnachmittag von seinen Büchern fortstiehlt und im Schlachthof als Pferdemetzger arbeitet, mit seiner blutbespritzten Schürze. Oder jener Jean-Maurice de Kalbermatten, dessen Schwester eine Nebenbeschäftigung als Leichenwäscherin gefunden hat, obwohl sie hauptamtlich Sekundarlehrerin ist.
Ein kleines Frankreich mitten in der Schweiz, dieser Staat Freiburg. Frankreich im Jahr 1788. Eine Revolution hat hier noch nicht stattgefunden, nur die Bauernrevolte des Nicolas Chenaux, 1781, schnell abgewürgt, sein Kopf wurde auf der Porte de Romont ausgestellt. Was in Frankreich die Bretagne, ist im Staate Freiburg der Sense-Bezirk (zum Teil auch der See-Bezirk). Eine sprachliche Minderheit, welche von der französischsprachigen Mehrheit oft wegwerfend behandelt wird. Daher vielleicht der Drang vieler Sensler nach Anerkennung und ihr Hang zur Hyperintegration. Der Chefredaktor der «Freiburger Nachrichten» ist Sensler, auch Seppi Siffert ist Sensler. Die Französischfreiburger haben eine Tendenz, sich als Staatsvolk und Kulturvolk zu betrachten, sie verlangen von den Deutschfreiburgern die Beherrschung des Französischen, können sich aber auf deutsch kaum ausdrücken. Ein Staat mit 200'000 Einwohnern, 40'000 davon in Freiburg. Ein derart gutes Musikkorps, «Landwehr» genannt, dass es sich der Schah von Persien nicht nehmen liess, die Feste in Persepolis von Landwehrklängen begleiten zu lassen. Die ganze Musik war nach Persien geladen. In der «Liberté» stand: «Une merveilleuse aventure au pays du Shah.» Wenn man nicht mehr an den Hof von Louis XVI kann, dann wenigstens an den Hof des Grosstürken. Eine Verwandtschaft mit Frankreich auch in bezug auf Mythenbildung: dort de Gaulle als Kristallisationspunkt der frustrierten Massen, hier Jo Siffert. Beide kompensieren eine Unterentwicklung, beide Mythen werden von den Herrschenden manipuliert. Beide sind mit katholischer Kultur gedüngt worden. Und genau wie bei de Gaulle ist auch Jo Siffert die Realität nur noch schwer von der Legende zu unterscheiden. Aber einige Lebensdaten kann man im jetzigen Stadium der Mythenbildung doch noch festhalten. Teilansichten von Jo Siffert, aufgezeichnet bei Gesprächen mit Mama Siffert, Papa Siffert, dem Mechaniker Oberson, der Freundin Yvette, dem Freund Bochenski, der Primarlehrerin, dem Lehrmeister Frangi, dem Schuhmacher Salvatore Piombino. Leider konnte ich nicht mit Bischof Mamie sprechen. Ich hätte gern von ihm gewusst, ob er sich als Verwalter der eigentlichen Religion bedroht fühle, wenn die klassischen Andachtsformen vom Siffert-Kult verdrängt werden. Bischof Mamie sagte mir fernmündlich, er antworte nur auf schriftlich formulierte Fragen und möchte auf jeden Fall den Artikel vor der Publikation noch sehen, zwecks Korrektur.
Mutter Siffert, geb. Achermann
Mama Siffert in ihrem Eigenheim bei Freiburg. Gleich im Vestibül ein Siffert-Plakat, eingerahmt von zwei brennenden Kerzen, ein Heiligenbild. In der Stube die Trophäen vieler Siege. Ein Wechselrahmen, darin ein Artikel aus dem «Blick»: «Mama Siffert ist stolz auf ihren Sohn.» Sie kennt sich aus mit Formel-I- und Formel-II-Wagen, mit Prototypen, Porsches und Alfa Romeos. Wenn sie von den Trophäen spricht, sagt sie: Als ich den Preis gewann. Frau Siffert ist gebürtig aus Willisau, wo sie ihren Mann kennenlernte. Kurz nach der Heirat liess sich Fam. Siffert-Achermann in der Unterstadt nieder, in dem Teil, der früher «Tanzstadt» hiess, neben dem Restaurant «Tirlibaum» an der Place Petit St-Jean. Dort betrieben sie ein Milchgeschäft, zwei Jahre, es rentierte nicht. Seppi kam dort zur Welt. Der Vater sei bald keiner geregelten Beschäftigung mehr nachgegangen, entmutigt vom Misserfolg des Milchladens. Ein darauffolgender Mineralwasserhandel habe auch nicht recht funktioniert. So habe sie in der Schokoladenfabrik Villars gearbeitet, auch als Seppi schon erwachsen war, und sei vor Müdigkeit oft mit den Fingern in der Schokolade steckengeblieben (600 Franken im Monat). Auch habe sie für 1.10 Franken pro Stunde die Räume der Universität geputzt. Dazu noch der Haushalt mit den vier Kindern (Seppi und drei jüngere Schwestern). Eine Zeitlang hat ihr Seppi beim Lumpensammeln geholfen, «id Hudle gange», und später haben die beiden Narzissen verkauft an der Reichengasse. «Mein Mann hat Seppi sehr streng gehalten, um 18 Uhr musste er zu Hause sein, auch sommers.» Die Ehe war nicht harmonisch, die Gatten leben heute getrennt. Bei den familiären Auseinandersetzungen scheint Seppi immer die Partei der Mutter ergriffen zu haben. Sie hat es ihm vergolten durch intensive Förderung seiner Rennkarriere. Als er noch keinen Namen hatte, fuhr sie mit ihm quer durch Europa an die verschiedenen Rennplätze und besorgte ihm den ambulanten Haushalt, zusammen mit Yvette, seiner ersten Freundin. Seppi war auf Sparsamkeit angewiesen, hatte im Gegensatz zu fast allen Rennfahrern kein Startkapital und keinen reichen Vater. Frau Siffert wusste, wie gefährlich die Rennen sind, sie hat deshalb ihren Sohn immer ermahnt, bei besonders schwierigen Stellen zu beten. Sie glaubte ihn durch eine besondere Fürsprache des Himmels geschützt, hatte kaum je Angst, auch nicht nach dem Renntod von Jim Clark und Jochen Rindt. «Siehst du, Mama», habe ihr Seppi auf dem Nürburgring einmal gesagt, «heute in dieser besonders schwierigen Kurve habe ich nicht an den Tod gedacht, sondern an einen Wagen, den ich besonders günstig zu verkaufen hoffe.» Die Familie habe zwar manchmal gedarbt, aber nie gebettelt; Vikar Moser von St. Peter habe ein Erstkommunionkleid für Seppis Schwester schenken wollen, aber das hätten sie nicht akzeptiert. Seppi habe unter einem brutalen Primarlehrer gelitten, «war oft wie im Schneckenhaus, hat es auch mit dem Vater nicht leicht gehabt». Als er zu Frangi (Unterstadt, Nähe Gaskessel und Gefängnis) in die Lehre ging, hat er abends schwarz gearbeitet, so dass die Nachbarn wegen Nachtlärm klagten. Der Polizist, welcher die Sache untersuchte, sagte abschliessend: Da kann man nichts machen, man muss dankbar sein, wenn ein Jüngling so viel Fleiss zeigt, auch nachts. Der Fleiss ist so selten bei den Jungen! Mit Seppis sukzessiven Frauen scheint Mama Siffert keine schlechten Beziehungen gehabt zu haben. Nur vermochte sie sich nie recht an das bourgeoise Milieu von Seppis letzter Frau Simone, der Tochter von Bierbrauer Guhl (Brasserie Beauregard), zu gewöhnen. Mit Yvette, der Tochter aus dem Volk, ging es besser. Yvette war die erste Freundin, aus der «basse