Internationale Beziehungen. Anja Jetschke

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Internationale Beziehungen - Anja Jetschke


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sunnitische oder schiitische, säkulare oder religiöse Staaten handelt, ob sie in Sicherheitssysteme eingebunden sind oder nicht. Staatliche Charakteristika beeinflussen die internationalen Beziehungen. Diesen Zusammenhang aufzuzeigen ist Ziel der ersten beiden Kapitel. Selbst wenn im Einzelnen keine kausalen Zusammenhänge zwischen bestimmten staatlichen Charakteristika und internationalen Beziehungen hergestellt werden können, kann die Entwicklung der Staatenlandschaft über Zeit und Raum zeigen, warum in manchen Regionen Kriege ausbrechen, in anderen aber nicht, oder warum sich institutionelle Strukturen unterscheiden.

       Kernannahme 2

      Viele Phänomene erfassen eine große Anzahl von Staaten in relativ kurzer Zeit. Sie verbreiten sich schnell über die Einheiten des internationalen Systems, in der Regel die Staaten. Solche Wellen oder Trends erzeugen eine eigene Dynamik für die internationalen Beziehungen und prägen ihre Strukturen.

      Das Phänomen der Trends dürfte nach der Arabellion, bei der innerhalb kürzester Zeit eine Reihe von Staaten von Demokratiebewegungen erfasst wurden, leicht zu begreifen sein. Nur Wenige wissen, dass wir es in der internationalen Politik oft mit einer solchen Häufung von Ereignissen zu tun haben. Die globale Verbreitung von Kolonisation und Dekolonisation sind beispielsweise Massenphänomene, ebenso wie die Ausbreitung von Autoritarismus und Demokratien.

      Genau dieses Phänomen macht sich diese Einheit zunutze, um erstens möglichst effizient globale Veränderungen darzustellen. Zweitens wird dadurch aber auch eine räumliche Dimension der Entwicklung internationaler Beziehungen abbildbar. Manche Phänomene betreffen Staatengruppen stärker oder schwächer. Drittens bietet diese Vorgehensweise aber auch einen bequemen Schnellzugriff auf die Entwicklung ganzer Staatengruppen. Wenn man weiß, welche Staatengruppen in welchem Zeitraum von welchen Trends erfasst wurden, kann man Länder schneller einordnen: Von wem es wann kolonialisiert wurde, wann die Dekolonisation stattgefunden hat, ob es sich um eine Demokratie oder Autokratie handelt und in welche Sicherheitsbündnisse es eingebunden war oder ist.

      Kernannahme 3

      Es gibt eine wechselseitige Abhängigkeit (InterdependenzInterdependenz) von Ereignissen über weite Distanzen hinweg. Ereignisse, die in einem Teil der Welt passieren, beeinflussen systematisch, was in anderen Teilen der Welt passiert.

      Ein Beispiel ist die Auflösung der SowjetunionAuflösung Sowjetunion. Ihr Zusammenbruch beeinflusste nicht nur Staaten in Osteuropa, sondern auch in Afrika und in Zentralamerika. Auch wenn wir beispielsweise in Europa oftmals denken, dass Ereignisse außerhalb Europas wenig Einfluss auf Ereignisse in Europa haben (und andersherum), zeigt sich, dass sie häufig miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Weitere Beispiele: Die Dekolonisation Lateinamerikas wäre höchstwahrscheinlich sehr viel später passiert, hätte Napoleon 1808 nicht Spanien besetzt. Der Kalte Krieg hätte sich nicht verschärft und Deutschland wäre vermutlich nicht geteilt worden, hätte nicht der Koreakrieg stattgefunden.

      Diese Zusammenhänge punktuell aufzuzeigen und ihre Bedeutung für die Entwicklung internationaler Beziehungen aufzuzeigen, ist ein Anliegen der ersten beiden Einheiten.

      Kernannahme 4

      Für die Verbreitung von empirischen Trends und für Zusammenhänge durch wechselseitige Abhängigkeit von Ereignissen gibt es einige soziale Mechanismen, die unterschiedliche Dynamiken der Entwicklung des internationalen Systems erklären.

      Diese Mechanismen erklären sowohl die Verbreitung als auch die Dynamik wichtiger Trends. Die Forschung über die Diffusion von politischen Institutionen und Praktiken liefert hier wichtige Hinweise für Mechanismen, die auf die Entwicklung der internationalen Beziehungen einwirken. Einer der wichtigsten Mechanismen ist der Einfluss mächtiger Staaten, auch hegemoniale Koordination genannt. Ein weiterer Mechanismus ist der Wettbewerb unter den Einheiten, die sich in einer ähnlichen Position innerhalb des internationalen Systems finden und ein dritter Mechanismus sind Prozesse des Lernens. Auf die eine oder andere Art und Weise werden uns diese Mechanismen immer wieder begegnen. Sowohl die Existenz von HegemonienHegemonien, wie das Napoleonische Frankreich oder Großbritannien im 20. Jahrhundert, wie auch ihr Zusammenbruch, zum Beispiel im Falle der Sowjetunion, haben über die jeweils mit ihnen verbundenen Staaten systemweite Effekte. Wettbewerb unter ähnlich positionierten Staaten wirkt oft als Verstärker bestehender Trends, die sich im internationalen System zeigen. Und Staaten sind in der Lage sowohl voneinander als auch untereinander und aus dramatischen Ereignissen zu lernen. Die verschiedenen Ansätze zur Friedenssicherung sind hier ein gutes Beispiel.

      Kernannahme 5

      Viele globale Phänomene manifestieren sich lokal, innerhalb eines bestimmten geographischen Raumes.

      Viele der Entwicklungen, die für die Disziplin interessant sind, ergeben sich aus politischen Veränderungen, Lokale Manifestation globaler Ereignissedie sich geographisch manifestieren und deren Effekte deshalb ebenfalls oftmals geographisch lokalisierbar sind. Nicht alle Trends erfassen alle Regionen der Welt gleichmäßig. Viele Trends werden regional und lokal gefiltert. Andere Trends haben nicht-intendierte Effekte. Beispiele dafür sind die Französische Revolution, deren Effekte in ganz Europa, aber auch in Lateinamerika bemerkbar waren, aber auch die Konsequenzen der Kolonialisierung Indiens durch die Briten, die die Grundlage für das britische Interesse und eine Einmischung Großbritanniens im Nahen und Mittleren Osten legte.

      Die Welt zwischen 1815 und 1919

      Wie sich die internationalen Beziehungen im 19. Jahrhundert gestalten, erschließt sich einfacher, wenn man zunächst den Blick auf eine Landkarte von Europa wirft. Tafel I und II (S. 418–421) zeigen Europa vor und nach dem Napoleonischen Eroberungsfeldzug. Europa war zu diesem Zeitpunkt durch eine Macht dominiert: Frankreich unter Napoleon Bonaparte. Frankreich dominierteDominanz Frankreichs in den internationalen Beziehungen bereits seit dem 17. Jahrhundert die internationalen Beziehungen, aber die Herrschaft Napoleons stellte einen Höhepunkt französischer Macht in Europa dar. Napoleon hatte sich nach der Französischen Revolution aufgemacht, in einem letzten Krieg aller Kriege ganz Europa zu demokratisieren und von der monarchischen Herrschaft zu befreien. Innerhalb von wenigen Jahren hatte Napoleon die bis dahin geltende Ordnung erschüttert, mit bedeutenden Ausnahmen ganz Europa erobert und in einem Krieg der Demokratie über die Monarchien Europas deren Staatsformen verändert. Nicht mehr die Konfliktlinie zwischen Katholizismus und Protestantismus beziehungsweise Christentum und Islam wurde bestimmend für die internationalen Beziehungen zumindest in Europa, sondern die Konfliktlinie zwischen Demokratien und Monarchien wurde dominant. Zur Sicherung seiner Herrschaft betrieb Napoleon die Politik der Einsetzung von Verwandten in den eroberten Fürstentümern und schuf dadurch die mit ihm verwandtschaftlich vernetzten Napoleoniden-Staaten, vor allem in Italien, Spanien und Westphalen. Auf dem Höhepunkt seiner Macht dominierte Frankreich mit sehr wenigen Ausnahmen ganz Europa.

      Erst der Russlandfeldzug Napoleons setzte der französischen Herrschaft ein Ende. Napoleon wurde in der Völkerschlacht bei Leipzig (1813) auf dem Kontinent vernichtend geschlagen. Nach der Herrschaft der 100 Tage, die Napoleon kurzzeitig wieder an die Macht in Frankreich brachte, wurde er 1815 in der Schlacht bei Waterloo endgültig besiegt.

      Tafel III (S. 422–423) zeigt Europa 1815, nach den vertraglichen Regelungen des Wiener KongressWiener Kongresses. Die territoriale Unabhängigkeit Spaniens, der deutschen Territorien ebenso wie der Territorien Italiens ist wieder hergestellt, wenn auch nicht in exakt den gleichen Grenzen wie vor den Napoleonischen Eroberungen. Frankreich befindet sich wieder in seinen Grenzen von 1792. Die meisten Staaten sind relativ große Flächenstaaten. Davon heben sich nur Deutschland und Italien ab, die sich – wie vor den Napoleonischen Kriegen auch – durch viele kleine Territorien auszeichnen. In Deutschland dominiert Preußen, das einige Besonderheiten aufweist: Es ist territorial zerstückelt, in einen Ostteil, der sich bis nach Litauen erstreckt, und in einen Westteil, der das Rheinland umfasst. Das Osmanische Reich endet erst an den Grenzen Österreichs, die südosteuropäischen Staaten sind noch integraler Bestandteil des riesigen osmanischen Herrschaftsgebietes, das auf dem eurasischen Festland bis nach Georgien


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