Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht. Sylvie Méron-Minuth
Читать онлайн книгу.beruflicher, wissenschaftlicher Werdegang Anfang der 2000er Jahre durch die langjährige Begleitung einer sprachlich sehr heterogenen Schülergruppe aus, die ich im Rahmen des an der Universität in Tübingen angesiedelten Pilotprojektes WIBE – Wissenschaftliche Begleitung der Pilotphase Fremdsprache in der Grundschule; Zielsprache Englisch und Zielsprache Französisch – kennenlernte und wissenschaftlich und unterrichtlich begleitete. Vier Jahre lang, während der gesamten Grundschulzeit der jungen Lernenden (damals 6 bis 10 Jahre), nahm ich am immersiv angelegten, zweistündigen Französischunterricht teil bzw. unterrichtete zuweilen selbst, beobachtete, beschrieb, analysierte und interpretierte nach und nach ihre anfänglichen und allmählich häufiger verwendeten fremdsprachlichen Kommunikationsstrategien. Diese befähigten die Lernenden zur aktiven Beteiligung an der Interaktion mit der Lehrkraft im Unterricht. Dieses umfangreiche, von mir erhobene Datenmaterial konnte ich anschließend in mein Dissertationsprojekt münden lassen (vgl. Publikationen Méron-Minuth, insbesondere von 2009 bis 2012). Die eigene Mehrsprachigkeit, die Beobachtungen des frühen Fremdsprachenlernens und der Lern- und Kommunikationsstrategien von Lernenden, mit einem nicht-romanischen, herkunftssprachlichen Hintergrund und schließlich der Kontakt mit Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern im Zusammenhang mit studentischen Praktika ließen immer deutlicher die Frage in mir reifen, in welcher Weise die Schule und hier speziell der Fremdsprachenunterricht mit vorhandener Mehrsprachigkeit umgehen würde.
Hinzu kamen sprachenpolitische Bestrebungen und schulische Zielsetzungen, die mich letztendlich dazu bewogen haben, einen Perspektivenwechsel von den jungen Lernenden zu den Lehrenden vorzunehmen und im Rahmen meines Habilitationsprojektes Näheres über die Einstellungen und die Unterrichtspraxis von Fremdsprachenlehrkräften zu erfahren, die im Kontext realer Mehrsprachigkeit in ihren Klassen in der Institution Schule arbeiten. Infolgedessen habe ich diese Studie in der Erwartung durchgeführt, Informationen über ihre Innenperspektive, ihre subjektiven Sichtweisen zur Mehrsprachigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler zu sammeln und zu analysieren, um letztendlich daraus mögliche Schlussfolgerungen für eine veränderte Praxis der Lehreraus-, -fort und -weiterbildung, vor allem mit Blick auf eine sich verändernde Schülerschaft, ableiten zu können.
Denn durch Flucht, Vertreibung und Arbeitsmigration hat sich die Schülerschaft in den letzten Jahren beträchtlich verändert (vgl. dazu Kapitel 4.2). Bei den Ergebnissen der PISA-Studie von 2000 stammt bereits über ein Fünftel (21,7 %) der fünfzehnjährigen Jugendlichen aus Familien mit Migrationshintergrund (vgl. Baumert, Klieme et alii, Deutsches PISA-Konsortium 2002). Bereits die Arbeitsmigranten (Italien, Spanien, Türkei) der ersten Generation hatten mit Problemen der Integration zu kämpfen, und die Nachkommen der zweiten und dritten Generation sind teilweise heute noch die Verlierer des deutschen Bildungssystems (vgl. Bildungsbericht der Bundesregierung 2016):
„Hinsichtlich der Beteiligung an den weiterführenden Schulen zeigen sich – zunächst in der schulstatistischen Unterscheidung nach deutschen und ausländischen Jugendlichen – eklatante Unterschiede: Während deutsche Jugendliche im Schuljahr 2014/15 fast zur Hälfte am Gymnasium sind (rund 44 %) und nur zu 8 % an Hauptschulen, besucht lediglich knapp ein Viertel (24 %) der ausländischen Jugendlichen das Gymnasium und ein weiteres Viertel (25 %) die Hauptschule […].“ (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung 2016: 173)
Der folgende Auszug aus demselben Bericht hebt die hohen Diskrepanzen hervor, die auf dem Arbeitsmarkt zwischen Ausländern und Deutschen besteht:
„Die Disparitäten in der Ausbildung setzen sich auf dem Arbeitsmarkt fort. Die Differenz im Erwerbsstatus zwischen jungen Erwachsenen ohne und mit Migrationshintergrund erweist sich als beträchtlich. Bei der Erwerbstätigkeit macht sie 13 Prozentpunkte (86 gegenüber 73 %) aus (Abb. H2–5). Die Differenz erklärt sich weniger aus Arbeitslosigkeit als aus der Quote der Nichterwerbspersonen, die bei jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund mehr als doppelt so hoch ist wie bei Personen ohne Migrationshintergrund (21 zu 10 %).“ (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung 2016: 178; Hervorhebungen im Text)
Dabei ist schulische Bildung der Kinder der wichtigste Faktor der Hoffnungen der Migrantenfamilien auf Integration ihrer Sprösslinge in Deutschland. Diese Hoffnungen werden durch deren schlechte Schullaufbahnchancen häufig gedämpft. Schulische Anforderungen orientieren sich an der Majoritätskultur und der schulische Habitus ist weiterhin monolingual (vgl. Göbel & Schmelter 2016; Gogolin 1994, 2011). Die noch unzureichende Beherrschung der Schulsprache und mögliche Bildungsferne sind dabei die Hauptgründe für das Scheitern der Kinder mit Migrationshintergrund. Aus diesem Grunde haben alle Bundesländer diverse Sprachförderprogramme mit dem Anspruch der Verringerung von Disparitäten aufgelegt (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2007). Die meisten Familien- und (vor allem) Minderheitensprachen stehen in einer möglichen Beliebtheitsliste der Sprachen ganz unten; sie werden gar im institutionellen Schulkontext ignoriert, wie es Senem Aydin (2016) hervorhebt:
“[…] the already existing migration-related multilingualism of pupils speaking minority languages is generally ignored in the school context.” (Aydin 2016: 8)
Weiterhin betrachtet Aydin kritisch, dass die Forschung im Bereich von Mehrsprachigkeit und Fremdsprachenunterricht die Bedürfnisse sowie das Potenzial der Migrationsschülerinnen und -schüler mit Minderheitensprachen vernachlässigt beziehungsweise geringgeschätzt wird. Die entsprechenden Studien in diesem Feld sind „[…] still very modest” (Aydin 2016: 9), obgleich die migrationsbedingte sprachliche Heterogenität längst zur Landschaft des deutschen Schullebens gehört:
“[…] Although migration-related linguistic heterogeneity has become part of school life in Germany, the needs of pupils with a migration background have been neglected in research in the field of multilingualism and foreign language education.” (Aydin 2016: 8)
Demgegenüber genießen die romanischen Sprachen beziehungsweise die institutionell gelehrten Fremdsprachen ein erheblich höheres Ansehen. Es bleibt allerdings festzustellen, dass dieser negative Blick kein komplettes Spiegelbild der Leistungen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund repräsentiert, weil diese eben auch bemerkenswerte Erfolge aufweisen, wenn ihre sprachlichen Kompetenzen und individuelle, familiäre und (schul-)kontextuale Merkmale als positive Einflussfaktoren für effizientes Englischlernen als dritte Sprache berücksichtigt werden (vgl. Özkul 2015 und Aydin 2016). Diese Aussagen sind insofern wichtig, als Berichte jüngeren Datums zeigen, dass ausländische Kinder weniger Bildungschancen haben bzw. bildungserfolgreich und demgemäß weniger an Gymnasien anzutreffen sind. Dies zeigen vor allem beispielsweise Flam und Schönefeld in einem Beitrag von 2007 oder auch Siegert in einem Bericht von 2008 zur schulischen Bildung von Migrantenkindern in Deutschland:
„Ausländische Schüler besuchen häufiger eine Hauptschule und seltener eine Realschule oder ein Gymnasium als deutsche. Darüber hinaus gehen sie häufiger auf eine Förderschule und speziell auf eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen.“ (Siegert 2008: 32)
Es ist also Aufgabe der Schule, die Integrationsbemühungen der Kinder mit Migrationshintergrund zu fördern und ihre verschiedenen Sprachkompetenzen und vorgängige Sprachlernerfahrungen in den Unterricht zu integrieren und zu persönlichen Erfolgserlebnissen zu verdichten. Die seit den letzten zwei Jahren präsenten Fluchtbewegungen werden zukünftig Einfluss auf die Bildungseinrichtungen der Zielländer – hier Deutschlands – haben. Denn die neu zugewanderten Menschen bringen neue Herkunftssprachen sowie bedingt durch Kriege, Konflikte etc. traumatisierende Erfahrungen mit sich, die das Leben in der Gemeinschaft in der schulischen Institution sowie in weiteren Bildungseinrichtungen in den kommenden Jahren prägen werden.
„Dabei wird aber auch deutlich, dass von „dem“ ausländischen Schüler prinzipiell nicht gesprochen werden kann. Differenziert man die ausländischen Schüler nach ihrer Staatsangehörigkeit, so zeigen sich zwischen den einzelnen Gruppen teilweise deutliche Unterschiede: Polnische, russische und kroatische Schüler können sich im deutschen Schulsystem vergleichsweise gut positionieren, Schüler aus Serbien und Montenegro, der Türkei und Italien dagegen vergleichsweise schlecht.“ (Siegert 2008: 32f.; Hervorhebungen im Text)
Aber im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen nicht nur die Schülerinnen und Schüler mit ihren herkunftssprachlichen Diversitäten, sondern auch die