Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht. Gabriele Bergfelder-Boos

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Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht - Gabriele Bergfelder-Boos


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haben, sind sie doch nicht mit dem diskursinternen Erzähler ihrer Geschichte identisch. Aber sie übernehmen dessen Rolle, denn sie werden in der mündlichen Situation zu Darstellerinnen und Darstellern des diskursinternen Erzählers. Sie eröffnen als ‚präsente‘ Erzählende ihrem Publikum die Möglichkeit, sich mit ihnen gemeinsam auf das ‚Als-Ob-Spiel‘ der Fiktion einzulassen.

      Das zweite Merkmal des Fiktionalen, das ‚Als-Ob-Spiel‘, liegt zum einen der erzählten Geschichte zugrunde und unterscheidet die fiktionale Erzählung von der auf Vermittlung tatsächlich erlebter Geschichten abzielenden konversationellen Erzählung. Es ist zum anderen auch als Rezeptionsprinzip präsent. Das Spielerische der Rezeption können die Erzählenden performativ verstärken durch den Einsatz entsprechender Mittel (Kap. 4.3).

      Auch über das dritte Merkmal von Fiktionalität, der Verfügungsmächtigkeit über die erzählte Welt, grenzt sich das mündlich-fiktionale vom konversatio­nellen Erzählen ab. Mündlich Erzählende können das in der Erzählung angelegte Mächtigkeitsprinzip performativ nutzen, indem sie mit dem Text und den performativen Gestaltungsmitteln flexibel umgehen. Sie können z.B. eine Passage der Erzählung kürzen, die andere ausgestalten oder das Verhalten der Figuren wie ein allwissender Erzähler verbal und non-verbal kommentieren und so mit der Perspektivierung der Narration spielen.

      Die Fiktionsmerkmale mündlich-fiktionaler Erzählungen manifestieren sich demzufolge in textuellen und pragmatischen Fiktionssignalen. Eine wichtige Rolle beim mündlich-fiktionalen Erzählen im Klassenzimmer spielen

       als pragmatische Fiktionssignale die Gestaltung der Kommunikationssituation und des Kommunikationsraumes, wozu die Übernahme der narrativen Jobs, die Haltung und inszenierte Aufmerksamkeitslenkung der Erzählenden sowie evtl. besondere räumliche Arrangements gehören,

       als paratextuelle Fiktionssignale Genrebezeichnungen und weitere textexterne Ankündigungen, besonders in der Phase der Darstellung von Inhaltsrelevanz (Kap. 3.2.2),

       als textuelle Fiktionssignale prototypische Oberflächensignale wie Eröffnungs- und Schlussformeln, genretypische Angaben zu Ort, Zeit und Personen (Nünning 2004c: 182) sowie narrationstypische Diskursmarker.

      Auf der Ebene der konkreten unterrichtlichen Kommunikation interessieren im Rahmen meiner Studie die Bedingungen, unter denen der pacte de fiction zustande kommen kann. Für die Realisierung des mündlich-fiktionalen Erzählens genügt nicht allein die Übernahme der narrativen Jobs (Kap. 3.2.2) durch die Kommunikationspartnerinnen und -partner. Auf Seiten der Rezipierenden bedarf es der Disposition, die fiktionale Inszenierung wahrzunehmen und sich damit auf eine Interaktionsform mit der Erzählung einzulassen, die Klinkert als „ästhetische Einstellung“ (Klinkert 2004: 33) bezeichnet. Auf Seiten der Erzählenden bedarf es der Bereitschaft, das mündliche Erzählen als Inszenierung (Kap. 4.1) mit performativen Mitteln auszugestalten und damit eine Interaktionsform anzubieten, die ich in Anlehnung an die Disposition der Rezipierenden als ästhetische Angebotshaltung bezeichnen möchte. Das Zustandekommen des pacte de fiction auf der Grundlage textueller Signale und ästhetisch-interaktioneller Übereinkünfte der Kommunikationspartner macht es möglich, dass das mündliche Erzählen im Klassenzimmer zu einem ästhetischen Erlebnis der Fremdsprache werden kann. Damit ist auch je nach Lernstand, Lernalter und Fremdsprachenprofil der Rezipierenden die Möglichkeit gegeben, die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Handlung der Erzählung, sondern auch auf ihre „Gemachtheit“ (Klinkert 2004: 33) zu richten und diese sprachpraktisch zu nutzen. Die Verwandlung der narrativen Diskurseinheit in eine Aufführung wird in der Untersuchung der performativen Dimension (Kap. 4.1), die Überführung des fiktionalen in einen performativen Pakt wird in der Auswertung der empirischen Ergebnisse (Kap. 11.2.7) thematisiert.

      3.4 Mündlich-verbales Erzählen (3): Erzählen von Märchen- und Album-Adaptionen

      Da es sich bei den von den Lehrkräften ausgewählten Erzählungen in erster Linie um Märchentexte, in zweiter um Albums pour enfants handelt, wird die Recherche des Potenzials mündlich-fiktionalen Erzählens im Hinblick auf diese literarischen Genres, schwerpunktmäßig auf das Genre Märchen, fortgesetzt. Dies geschieht unter drei Gesichtspunkten: dem prototypischen Charakter des Märchens, seiner Markierung durch das Mündlichkeitsprinzip (Kap. 3.5.3) und der Frage seiner Zugehörigkeit zum System der Literatur.

      Als Prototyp des Narrativen1 wird das Märchen wegen seiner „noch relativen Nähe zur Urform des mündlichen Erzählens“ (Wolf 2002a: 36, Lange 2007b: 23-25) und wegen seines Bekanntheitsgrades, seiner Kürze und seiner Überschaubarkeit (Wolf 2002a: 44) gesetzt. Die Nähe zur ‚Urform‘, d.h. der primären Mündlichkeit, ist an den noch in der schriftlichen Verfasstheit identifizierbaren strukturbildenden Elementen (Kap. 3.5.3) erkennbar. Dazu gehören das Erzählen in Mustern bzw. Handlungsstereotypen wie Auszug, Entfernung, Vertreibung, Bewährung, Rückkehr des Helden2, ferner die Dominanz der Handlung, die additive Gestaltung des Erzählflusses, die Dialogisierung, das Formelhafte des Diskurses sowie das Prinzip der Wiederholung (Koch / Oesterreicher 1985: 30, Ong 1987: 30ff., 42ff. ). Diese strukturellen Merkmale bilden das „prototypische Rückgrat des Narrativen“ (Wolff 2002a: 46). Weitere märchenspezifische Struktur- und Stilelemente tragen zur Einheitsbildung des Genres bei und charakterisieren wesentlich den vom Märchen angebotenen pacte de fiction. Dazu gehören u.a. das Wunderbare, das in der eindimensional gehaltenen Märchenwelt „nicht fragwürdiger [ist] als das Alltägliche“ (Lüthi 2005: 11), die flächenhafte, auf binären Oppositionen beruhende Figurengestaltung, die märchenspezifische Topografie, die märchenspezifischen Requisiten und Symbolzahlen (Lüthi 2005: 8-12, 13-24).

      Die Nähe zur Mündlichkeit wird in der kinderliterarischen Forschung als ein wesentliches Merkmal der Kinder- und Jugendliteratur bezeichnet.

      [Die Kinderliteratur] hat sich bemüht, eine gewisse Nähe zur Mündlichkeit zu wahren; ja, sie erscheint streckenweise als eine schriftliterarische Imitation mündlicher Rede […]. Mit Blick auf die neueren Epochen darf man in dieser Nähe zur Mündlichkeit wohl das auffälligste stilistische Merkmal kinderliterarischer Texte sehen. (Ewers 2000b: 263)

      Die starke Markierung durch das Mündlichkeitsprinzip teilen die Genres des Märchens und des Album mit der Kinder- und Jugendliteratur. Während sich das Album eindeutig der Kinder- und Jugendliteratur zuweisen lässt, ist die Zugehörigkeit des Märchens zur Kinder- und Jugendliteratur umstritten.

      Je nach kulturellen Traditionen, denen das Märchen entstammt, je nach literarhistorischen Gegebenheiten, nach literarischen Moden oder Einflüssen des Marktes, je nach medialen oder anderen Bearbeitungen des Märchens (Ewers 1990: 20, Neuhaus 2005: 3ff.) ist ein Erwachsenen- oder ein Kinder- / Jugendpublikum anvisiert bzw. wird es von der jeweiligen Gruppe als Märchen für Erwachsene oder als Märchen für Kinder / Jugendliche wahrgenommen. Weiterführend im Kontext meiner Studie sind die Kriterien zur Bestimmung der Kinder- und Jugendliteratur, die O’Sullivans kinderliterarische Komparatistik auf systemischer Ebene liefert. O‘Sullivan weist die Kinder- und Jugendliteratur als ein relativ selbstständiges Subsystem des literarischen Systems aus, „das über ein eigenes literarisches Handlungssystem von Hervorbringung, Vertrieb und Rezeption verfügt, welches sich von der Allgemeinliteratur abgrenzt […].“ (O’Sullivan 2000: 110). Drei Leitcharakteristika arbeitet O’Sullivan zur Abgrenzung der Systeme heraus: die Zuweisung kinderliterarischer Texte zum Subsystem durch institutionelle Vermittlungsinstanzen, die Doppelzugehörigkeit der Texte zu zwei Systemen, dem pädagogischen und dem literarischen, und die Asymmetrie der Kommunikation zwischen erwachsenem Autor und jugendlichem Leser (a.a.O.: 111). Die Zugehörigkeit der Kinderliteratur zu beiden Systemen macht diese Literatur für den Einsatz im Unterricht besonders geeignet, weil die Wirkungsabsichten beider Systeme, die pädagogische und die ästhetische, gemeinsam zur Realisierung unterrichtlicher Zielsetzungen genutzt werden können. Die institutionelle Zuteilung durch außenstehende Vermittler spielt im Kontext des mündlichen Erzählens eine untergeordnete Rolle. Von großer Relevanz ist die asymmetrische Kommunikation. O’Sullivan und andere Forscher der Kinder- und Jugendliteratur setzen an diesem Phänomen an, um zu zeigen, wie das Asymmetrieverhältnis der systemischen Ebene auf textin­ter­ner Ebene ästhetisch gelöst wird3. Im ‚Schreiben


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