Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht. Gabriele Bergfelder-Boos

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Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht - Gabriele Bergfelder-Boos


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so gehören zum Prinzip der Distanz eine stringente Rhythmisierung der Erzählsequenzen und eine komplexe Gesamtstruktur. Das Nähe-Prinzip imitiert die assoziative Struktur alltäglicher, mündlicher Kommunikation. Die Gesamtstruktur erscheint hier einfach und vermittelt den Eindruck von Vorläufigkeit (Koch / Oesterreicher 1985: 23). Auf der Distanz-Seite sind außerdem syntaktische Narreme wie thematische Einheitsstiftung (Wolf 2002a: 50) und Teleologie (Wolf 2002a: 48) verortet. Auf der Nähe-Seite fehlt es der Kohärenzbildung an Elaboriertheit und die Themen können schon mal in alle Richtungen gehen.

      Für die Analyse des empirischen Materials spielen die von Brinker / Ausborn-Brinker (2010: 30-31) als grammatische Kohärenzbildung bezeichnete Wiederaufnahme durch sog. Pro- Formen, die für die Nähe-Sprache typischen linearen Verknüpfungen (Heinemann / Heinemann 2002: 70f.) und die anaphorische Wiederaufnahme eine große Rolle.

      ④ Versprachlichungsstrategien

      Mit der Gegenüberstellung von Distanz- und Nähe-Sprache beziehe ich mich auf die von Koch / Oesterreicher herausgearbeiteten „universale[n] Merkmale der Sprache der Nähe“ (1985: 27), aber auch auf weitere, vor allem auf pragmatisch ausgerichtete linguistische Forschungen.

      Charakteristisch für die Distanz-Sprache ist eine hohe Informationsdichte und ein hoher Grad an Elaboriertheit (Koch / Oesterreicher 1985: 22), während die spontane Nähe-Sprache des mündlichen Alltagserzählens sich wegen des geringen Planungsaufwandes durch Vorläufigkeit und Prozesshaftigkeit auszeichnet. Auf der Ebene der Lexik sind für die Nähe-Sprache hohe Affektivität und Redundanz (Söll 1974: 55) charakteristisch. Der hohe Wiederholungsgrad der Lexik verleiht dem Diskurs Länge und holt auf diese Weise seine geringere Informationsdichte ein: „Die geringere Dichte eines oralen Textes wird also durch seinen größeren Umfang kompensiert.“ (Söll 1974: 54) Die Affektivität der Nähe-Sprache manifestiert sich im häufigen Gebrach direktiver und expressiver Sprechakte, in Exklamationen, im Gebrauch von kraftvollen (Koch/ Oesterreicher 1985: 22), onomatopoetischen, oft sensuellen, bildhaften Ausdrücken.

      Auf der Ebene der Syntax ist für die Distanz-Sprache ein gezielter Einsatz der Hypotaxe charakteristisch, während die Nähe-Sprache Parataxe bevorzugt (Koch / Oesterreicher 1985: 21f.). Weitere Charakteristika sind Unvollständigkeit der Syntax und Segmentierung bzw. Linksversetzung (Söll 1974: 45-47, 123-132, 140, Stark 1997: 27-33).

      Auf der Ebene der Pragmatik sind Signale des Sprecherwechsels (wie z.B. Et toi? Qu’en penses-tu?) oder Rückversicherungsstrategien (wie z.B. Pas vrai?), Unterbrechungs- und Gliederungssignale für das mündliche Erzählen charakteristisch. Ein weiteres, für die mündliche Kommunikation typisches Merkmal ist die Umkehrung der Thema-Rhema-Folge5. Charakteristisch für das Deutsche wie das Französische ist, dass der höchste Mitteilungsgrad, das Rhema, am Ende des Satzes steht (Blumenthal 1997: 37, 40, Bußmann 2008: 732). Die Sprache der Nähe kehrt die Endstellung in Frontierung des Rhemas (Söll 1974: 47f.) und durch Linksversetzung um und hebt es dadurch hervor. Von dieser Technik machen die Lehrkräfte beim mündlichen Erzählen häufig Gebrauch (Kap. 9.2.23).

      Großform B: gattungstypologische Verfahren

      Was die Großform B betrifft, so interessieren im Rahmen der Studie zwei miteinander verwandte Verfahren.

      ① genretypische Verfahren narrativer Textsorten

      Im Kontext der Studie sind besonders die gattungstypologischen Verfahren des Märchengenres von Bedeutung (Kap. 3.4), das der „Urform mündlichen Erzählens“ (Wolf 2002a: 36) nahesteht und deshalb selbst in seiner schriftlichen Verfasstheit noch über Erzählstrategien verfügt, die es seiner ursprünglich oralen Tradierung verdankt. Es handelt sich um mnemotechnische Strategien, die den narrativen Diskurs für erzählende Poeten memorierbar machen und der Zuhörerschaft das Verstehen und Behalten der wichtigsten Informationen erleichtern. Dazu gehören das Erzählen in Mustern und die Dominanz der Handlung sowie die additive Gestaltung des Erzählflusses und das Prinzip der Wiederholung (Kap. 3.4).

      ② gattungstypologische Verfahren der poésie orale

      Das zweite Verfahren der Großform B rekurriert gattungstypologisch auf die poésie orale / oral poetry6 und knüpft damit ebenfalls an mnemotechnische Verfahren der primären Mündlichkeit an, setzt aber stärker auf poetische Verfahren, die dem Diskurs ein hohes Maß an Elaboriertheit verleihen und die Distanzsprache dominieren lassen. Mit dem Rekurs auf die poésie orale werden in kongenialer Weise die Herausforderungen des mündlichen Rezeptionsmodus mit einer poetischen, zwischen Epik und Lyrik oszillierenden Gestaltung des Diskurses verbunden. Für Zumthor zielen die poetischen Verfahren der poésie orale darauf, das Merkmal der Flüchtigkeit medialer Mündlichkeit in den Diskurs zu integrieren, damit einen flexiblen, elaborierten, suggestiv wirkenden Diskurs zu formen. Einheitsstiftend seien die den Diskurs dominierenden Rhythmen:

      L’art poétique consiste pour le poète à assumer cette instantanéité, à l’intégrer dans la forme de son discours. D’où la nécessité d’une éloquence particulière, d’une aisance de diction et de phrase, d’une puissance de suggestion: d’une prédominance générale des rythmes. L’auditeur suit le fil, aucun retour n’est possible: le message doit porter (quel que soit l’effet recherché) au premier coup. (Zumthor 1983:126)

      Der Diskurs der poésie orale wird damit durch einen poetisch-lyrischen, melodischen Rhythmus strukturiert, der gesungen und getanzt werden kann. Weitere charakteristische Verfahren der poésie orale (s. Zumthor 1983: 136-144) sind « la rime, l’allitération, les échos sonores de toute espéce, […] la scansion des rythmes » (Zumthor 1983: 140). Moderne Formen der poésie orale finden sich Zumthor zufolge in chansons contestataires (1983: 62), sie finden sich im Rap und in der slam poetry (Anders / Brieske 2007: 52-53, Anders / Krommer 2007: 46-48, Mertens 2007: 28-39), die als urbane Poesie sehr lebendig sind und an die o. g. Verfahren anknüpfen bzw. Markierungen der poésie orale aufweisen7.

      Im Bereich der Großform A bieten sich folgende Modellierungen an:

       die konsequente Privilegierung eines Extrems (Distanz oder Nähe) oder die Einnahme einer ausgeglichen-mittleren Position,

       die Kombination von Distanz-Elementen mit Nähe-Elementen,

       der Paradigmenwechsel an markanten Stellen, z.B. den Höhepunkten der Erzählung,

       eine Steigerung von Distanz in Nähe und umgekehrt.

      Auf jeden Fall dramatisieren die Privilegierungen der Nähe-Verfahren den narrativen Text und verstärken innerhalb des Diskurses die phatische und expressive sprachliche Funktion (Jakobson 1960: 94).

      Im Hinblick auf die Großform B bieten sich folgende Modellierungen an:

       die Verstärkung gattungstypologischer Merkmale, z.B. der äußeren Handlung durch Akkumulation von Ereignissen und Wiederholungen,

       die Integration von poetisch-lyrischen Elementen in den narrativen Text wie Lieder, Reime, Gedichte, Sprüche,

       der Rekurs auf Sonderformen der „Urform des Erzählens“ wie Kettengeschichten.

      Die Hereinnahme bzw. Verstärkung gattungstypischer Verfahren primärer Mündlichkeit können einerseits den Diskurs rhythmisieren und poetisieren, andererseits zu einer besonderen Ökonomie des Diskurses beitragen, die diesen für Erzähler und Zuhörer nachvollziehbar und memorierbar machen. Diese Verfahren verstärken die phatische, expressive und poetische und auch die pädagogische Funktion des Diskurses.

      3.6 Analysekriterien und Teil 1 des Fünf-­Dimensionen-­Modells FDM-P

      Aus den Merkmalen mündlichen Erzählens (Kap. 3.1-3.5) werden nunmehr Kriterien für eine funktionale Analyse der Erzähltexte und Diskurse sowie der narrativen Interaktion im Rahmen der Erzählperformances gewonnen und in einem Fünf-Dimensionen-Modell (FDM-P, Teil 1) zur Analyse von Erzählperformances festgehalten. Das Modell wird im empirischen Teil der Studie zur Analyse der von den Lehrkräften durchgeführten Erzählperformances


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