Kommunikationswissenschaft. Wolfgang Sucharowski
Читать онлайн книгу.der Bauleiter erklärt, als Anweisungen verstanden und insofern kommunikativ benutzt werden. Dieses Wissen eröffnet die Möglichkeit, etwas als kommunikativ nutzbare Daten von anderen Daten zu unterscheiden. Die Schweißer müssen die Daten als Markierung auf den Metallplatten erkennen und können sie deuten. Eine Vorbedingung für kommunikatives Handeln ist das Erkennen von Daten, die kommunikativ genutzt werden sollen.
DatenDatenDaten nennen wir bis auf Weiteres alles, was in der Umwelt von einer Person selektiv wahrgenommen und zu einem bestimmten Zweck kognitiv verarbeitet wird. Um mehr über die Daten zu erfahren, ist daher grundsätzlich zu fragen, welche Bedingungen für solche Daten gelten, die kommunikativ verwendet werden sollen. Denn an der Episode in der Werft ist deutlich geworden: Daten müssen sich von anderen abheben, um überhaupt in das Aufmerksamkeitsfeld der Beteiligten treten zu können. Sie tun das nicht aus sich heraus, sondern erst dann, wenn wir ihnen einen Funktionszusammenhang zuordnen können, d.h. wenn es einen Bezugshintergrund gibt, der sie für uns sichtbar und dann verarbeitbar macht.Kontext Dieser Vorgang wird intuitiv nachvollziehbar, wenn wir an sog. Vexierbilder denken, auf denen wir nicht ohne weiteres eine Figur erkennen und erst verschiedene Annahmen ausprobieren müssen, bis wir etwas gefunden haben, was als „ein Bild“ identifiziert wird, in dem sich die Einzelelemente aufgrund eines umfassenden Ganzen her verstehen lassen.
Vexierbild: Charles Allan Gilbert: All is vanity
Alles, was uns umgibt, kann daher zu relevanten Daten werden, wenn wir zu ihnen eine Position beziehen können und eine Einstellung ihnen gegenüber entwickeln. Solange diese unbestimmt bleiben, sprechen wir von strukturellen Daten. Diese existieren, ihnen sind jedoch noch keine Eigenschaften zugewiesen worden bzw. sie haben noch keine Funktion für uns. Um das Beispiel der Vexierbilder noch einmal aufzugreifen: Wir sehen auf einem Blatt viele graphische Elemente, Striche, schwarze Flecken, können sie aber nicht oder noch nicht weiterführend deuten. Wenn uns nun gesagt wird, es sei ein Spiegel abgebildet, suchen wir nach einer dafür geeigneten Gestalt.
Das setzt voraus, dass uns Deutungshilfen verfügbar sind, durch welche im Wahrgenommenen das Gemeinsame und zugleich davon Unterscheidbare gesehen werden kann. Aus den verschiedenen graphischen Elementen erkenne ich eine Gestalt. Die Geräusche und das Stimmengewirr in einer Straßenbahn hindern nicht, das „Guten Morgen“ eines Arbeitskollegen zu erkennen, weil beide gemeinsam am Morgen zur Arbeit fahren.
Wir sind ständig zum Handeln herausgefordert und können eigentlich gar nicht anders, als stets das, was uns umgibt, sofort „aufzuräumen“, ohne uns dessen bewusst zu sein, was wir genau tun. Dies wird immer wieder zum Problem unserer Alltagskommunikation werden, weil wir uns sehr schwer tun, anders zu denken, als wir es gewohnt sind. Eigentlich müssten wir immer auch die Möglichkeit des Anders-Denkens im Blick behalten, wenn wir mit einem Anderen kommunizieren. Denn er kann ja nur mit uns kommunikativ im Kontakt bleiben, wenn er mit der Umwelt so umgeht wie wir. In der Regel begnügen wir uns aber mit der Annahme, der Andere denke schon wie wir.
Erklärung
Um Kommunikation verorten zu können, brauchen die Akteure Daten aus ihrer Umwelt. Diese werden für sie räumlich und sozial sichtbar. Wollen sie miteinander kommunizieren, setzt das ein Gegenüber voraus, das möglichst auf dieselben Daten zugreift, wenn diese angesprochen werden, und sie auf eine möglichst ähnliche Weise sieht und verarbeitet. Je größer die Ähnlichkeit der Sichtweise und der Bearbeitung dieser Daten ist, umso wahrscheinlicher wird eine Kommunikation zwischen den Anwesenden und die Chance wächst, miteinander über dasselbe reden zu können.
Kommunikation setzt Ordnung voraus
Dinge, die wir tun, sind niemals völlig identisch, wenn wir sie wiederholen. Typisch dafür ist die gesprochene Sprache. Ein und derselbe Satz, den wir mehrmals vorlesen, klingt jedes Mal etwas anders. Trotzdem würden wir den Inhalt des Satzes als identisch bezeichnen. Das kann sich ändern, wenn wir Phrasen im Satz anders betonen. Durch das Verschieben des Satzakzentes können wir etwas, was als Aussage formuliert ist, in eine Frage umwandeln. Es gibt somit eine Varianz.
OrdnungenVarietätenDer Umgang mit Varianz ist im Alltag etwas ganz Normales. Sie ist unproblematisch, wenn Regeln dafür sorgen, dass Überschreitungen dieser Varianz erkennbar sind. In der Phonologie ist z.B. das folgende Phänomen zu beobachten: Aus /bo:d ən/ wird, wenn die Rundung im /o/ zu schwach wird, /ba:d ən/, und das ist ein Wort mit einer ganz anderen Bedeutung. Wenn die Wortbedeutung eine andere wird, ist die Varianzgrenze überschritten.
Pragmatisch kann aus einer Aussage, deren Merkmal der Satzakzent auf der zweiten Phrase ist, eine andere Sprechhandlung werden, wenn die letzte Phrase betont wird. Aus der Aussage wird eine Frage, und dies ist eine andere sprachliche Handlung. Die ProsodieProsodie stellt weitere Mittel zur Verfügung, um das pragmatische Potenzial auszudifferenzieren. Bei gleicher morphosyntaktischer Struktur kann die gleiche Satzphrase als Bitte oder Warnung wahrgenommen werden, wenn eine bestimmte Stimmführung beobachtet wird. Phrasenteile können mit Nachdruck gesprochen werden und verweisen dadurch auf einen Unterschied gegenüber der normalen Stimmführung. Auch diese Abweichung ist nutzbar, um eine andere Handlung anzuzeigen. Die SprechakttheorieSprechakttheorie, wie sie von Austin (1962) und Searle (1971) entwickelt worden ist, hat versucht, Regeln zu formulieren, die das Erkennen solcher Varianzklassen erleichtern, indem sie Gebrauchsumstände benennen.Searle Austin, John L.
VarietätenDer Umgang mit Varianzen wird sicherer, wenn es hinreichend stabile Erwartungen gibt. Sie stehen im Zusammenhang mit den zur Verfügung stehenden Bezugsgrößen. Wenn es um das phonologische Wissen geht, kann aus dem /a/ ein /o/ herausgehört werden, weil in der Situation gerade nicht von Wasser die Rede ist, sondern über Pflanzen gesprochen wird. Das Wort „baden“ ist dann eher unwahrscheinlich, während sich „Boden“ mit dem Konzept „grüner Daumen“ verträgt.
Wenn der Erzählton in einer Situation verlassen wird, der typisch für das Erzählen einer Alltagsepisode ist, kommt es im Hinblick auf den Phrasenakzent und die Stimmführung zu einer Äußerungsvarianz. Sie kann unter dem Aspekt von Appellgesten geprüft werden. Der Sprecher ist mit seiner Geschichte am Ende und nun kann der Andere seine vortragen oder beide verabschieden sich und leiten die Verabschiedungsgeste ein. Im Rahmen des Erfahrungswissens über das gemeinsame sprachliche Handeln wird geprüft, in welchem Sinne die aufgetretene Varianz genutzt werden kann. Um kommunizieren zu können, sind daher Annahmen über Ordnungen nötig, die gemeinsame Verhaltensweisen voraussehbar machen und regeln.
01 F | Ist es schon eins? |
02 A | SCHAUT AUF SEINE UHR vier vor eins. |
Sprachhandlung: nach der Uhrzeit fragenSprachhandlungUhrzeit erfragen |
Es liegen sprachliche Daten vor, die sich, bezogen auf ein linguistisches Bezugssystem, als Fragesatz und Antwortphrase identifizieren lassen. „Ist es schon eins?“ ist ein Fragesatz, „vier vor eins!“ eine Antwortphrase auf den Fragesatz. Die linguistische Ordnung besagt, dass laut Regel durch das Besetzen der Erstposition im Satz mit einem Verb eine Frageform erzeugt werden kann. Ist ist das Verb und steht an der ersten Position im Satz. Das Erfragte kann durch eine nominale Phrase sprachlich kodiert werden. Das geschieht mit der Formulierung vier vor eins. Die sprachlichen Daten zielen nun aber nicht nur auf die grammatische Ordnung des Deutschen ab. Diese wird implizit als wirksam unterstellt. Das Arrangieren der Daten nach den Regeln eines Fragesatzes folgt einem weiteren Bezugssystem. Der Fragende erwartet von dem Angesprochenen eine Antworthandlung. Das kann nur gelingen, wenn die sprachliche Ordnung dem Gefragten zur Verfügung steht. Diese allein reicht aber nicht aus, wenn er nicht auch über eine Ordnung von Sprechhandlungen Bescheid weiß.
Ein in Frageform codierter sprachlicher Ausdruck kann auf die Sprachhandlung eines Informationswunsches abzielen. Der Angesprochene muss daher Kenntnisse über Konventionen haben, die ihm erklären, dass Daten genutzt werden können, um ein Informationsdefizit des Sprechers zu beseitigen, wenn der Gefragte über entsprechendes Wissen verfügt. Kann er auf dieses Wissen zurückgreifen,